Für gesellschaftliche Progressivität sind die Niederlande bekannt, und zwar nicht erst seit der Institutionalisierung von Coffeeshops und der damit einhergehenden Teillegalisierung von Marihuana oder seit der Einführung der Homo-Ehe im Jahre 2001, damals als erster Staat weltweit. So nimmt es wenig Wunder, dass es dem holländischen Sender NTS als einziger der sieben an der Erstausgabe des Eurovision Song Contests von 1956 teilnehmenden TV-Stationen vorbehalten blieb, seinen Vorentscheid, das Nationaal Songfestival (NSF), nach demokratischen Maßstäben zu organisieren und dem Publikum als maßgeblichem Richter die Entscheidung zu überlassen, welche:n der drei angetretenen Künstler:innen und ihrer insgesamt acht Lieder es nach Lugano delegieren wollte. Genauer gesagt: welche zwei, denn aufgrund des begrenzten Kreises an teilnehmenden Nationen musste ein jedes Land gleich zwei “Schlager und Chansons” (so der Titel des deutschen Vorentscheids) in die Schweiz entsenden. Natürlich ging das seinerzeit noch nicht per Telefon oder gar per Voting-App, sondern noch mittels der guten alten Postkarte (fragt Eure Eltern!), von denen nach der an einem Dienstag (!) ausgestrahlten Show rund 6.500 Exemplare beim Sender eintrudelten.
Für immer vorbei war es für Corry noch lange nicht, im Gegenteil, es ging erst richtig los!
Ganze 34 davon entfielen auf den weithin unbekannten Bert Visser und sein Lied ‘Meisje’ (‘Mädchen’). Tja, falsche Zielgruppe! Zum Vergleich: die NSF-Siegerin Corry Brokken sammelte für ihren Titel ‘Voorgoed voorbij’ (‘Für immer vorüber’) rund 1.900 Karten ein. Fleißig zeigte sie sich auch auf internationaler Bühne: 1956, 1957 und 1958 repräsentierte Corry ihr Land drei Mal in Folge. Wobei sie jedesmal auf die schweizerische Kollegin Lys Assia treffen sollte, die es ihr gleich tat. Wie die helvetische Mitbewerberin sollte auch Brokken bei ihren drei Teilnahmen einmal den Sieg davontragen, in ihrem Fall beim zweiten Versuch 1957. Im Jahr darauf belegte sie allerdings den letzten Rang, woraufhin ihre erfolgsorientierten Landsleute sie 1959, als sie sich nochmals bewarb, gnadenlos aussortierten. Das Angebot der ARD, beim Grand Prix 1966 für die Bundesrepublik zu singen, lehnte die in den Sechzigern im deutschen Fernsehen mit eigenen TV-Shows präsente Entertainerin dankend ab. 1976 schließlich kehrte sie als Moderatorin des in Den Haag stattfindenden Wettbewerbs ein letztes Mal auf die Grand-Prix-Bühne zurück, bevor sie sich den Rechtswissenschaften zuwendete: nach dem erfolgreichen Staatsexamen arbeitete sie als Richterin in ’s‑Hertogenbosch. Corry Brokken segnete 2016 im Alter von 83 Jahren das Zeitliche.
Ein feinherber Tränenzieher: mit ‘La Mamma’, dem Requiem für eine Roma-Monarchin, landete Corry 1964 auch bei uns einen Top-Hit (Repertoirebeispiel).
Eurovisionsgeschichte schrieb zudem die Zweitplatzierte dieser Vorentscheidung, die im Jahre 2013 verstorbene Interpretin und Kabarettistin Jetty Paerl, die mit ihrem lieblichen Liedlein ‘De Vogels van Holland’ in Lugano den Wettbewerb eröffnen sollte und damit den Titel der ersten Grand-Prix-Sängerin aller Zeiten hält. A propos Vögel: man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Titel der Beiträge dieses Naational Songfestivals so ziemlich alle Themenbereiche abdeckten, die in den nächsten Jahrzehnten beim Grand Prix stets eine wichtige Rolle einnehmen sollten: neben Liebe (‘Ich sage: ja’) und Trennung (‘Für immer vorüber’) eben auch Ornithologisches, der immergrüne Frühling (‘t is Lente’), europäische Hauptstädte (‘Mai in Paris’) und Kommunikationstechnik (‘De Telefoon’). Lediglich den ebenfalls beliebten Bereich ‘Träumer, Tramps und Clowns’ vergaßen die Holländer beim Eurovisionsauftakt. Musikalisch bewegten sie sich indes schon damals durchweg im Bereich des sterbensöden Seichs, dem sie mit leider nur sehr wenigen Ausnahmen bis zum heutigen Tage fest die Treue halten.
Gut zu Vögeln: eine gewisse Tendenz der Niederländer:innen zu ornithologischen Themen (vgl. NL 2013 + 2014) ist nicht von der Hand zu weisen.
Vorentscheid NL 1956
Nationaal Songfestival. Dienstag, 24. April 1956, aus dem AVRO-Studio in Hilversum. Drei Teilnehmer:innen. Moderation: Karin Kraaykamp.# | Interpret:in | Songtitel | Postkarten | Platz |
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01 | Corry Brokken | Ik zei ja | 478 | 05 |
02 | Jetty Paerl | De Vogels van Holland | 1.530 | 02 |
03 | Bert Visser | Gina mia | 116 | 07 |
04 | Jetty Paerl | De Telefoon | 438 | 06 |
05 | Corry Brokken | Voorgoed voorbij | 1.854 | 01 |
06 | Bert Visser | Meisje | 34 | 08 |
07 | Corry Brokken | ‘t is Lente | 1.210 | 03 |
08 | Jetty Paerl | Mei in Parijs | 1.034 | 04 |
Letzte Überarbeitung: 16.04.2020
Ich möchte doch unbedingt meinen Lieblings-Hasssong der Jetje van Oranje zitieren
Das war 1943, als die Deutschen den Holländern das Licht ausknipsen wollten
https://www.youtube.com/watch?v=AI82RTqqxso&list=PLaNWOsnkEQ2RPvVvexGHbd-9eGey07IQZ&index=3
Ze weten al te best
Als in Neêrland weer de vrijheid zal regeren
Zullen wij hen mores leren
Reken maar, Herr Goebbels!
Schön, dass eine jüdische Widerstandskämpferin für den allerersten Song beim ESC gesorgt hat.