ESC-Fina­le 1957: Hal­lo, Kopenhagen?

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Das Jahr der Zunge.

Kein Jahr­gang ohne grund­le­gen­de Neue­run­gen, zumin­dest in der Grün­dungs­pha­se des Euro­vi­si­on Song Con­tests: stimm­ten die Juro­ren bei der Grand-Prix-Pre­miè­re von 1956 noch geheim ab und erfuh­ren wir außer dem Sie­ger­ti­tel kei­ne wei­ter­ge­hen­den Plat­zie­run­gen, so fei­er­te das heu­ti­ge Herz­stück der TV-Show, die stets das kom­plet­te letz­te Drit­tel der Sen­de­zeit okku­pie­ren­de und stets die höchs­ten Ein­schalt­quo­ten des Abends erzie­len­de öffent­li­che Stim­men­aus­zäh­lung, beim zwei­ten Wett­be­werb in mei­ner Geburts­stadt Frank­furt am Main sei­nen Ein­stand. Die Durch­ga­be der Län­der­vo­ten erfolg­te natür­lich fern­münd­lich. Geschickt nah­men die Gast­ge­ber hier­auf Bezug: “Tele­fon, Tele­fon / Lang war ich allein / Sag, wann wer­de ich zum Lohn / End­lich glück­lich sein” frug die deut­sche Ver­tre­te­rin Mar­got Hiel­scher sich und das Publi­kum. Wie jede nagel­neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­nik wur­de also auch schon der Fern­sprech­ap­pa­rat bereits kurz nach sei­ner Markt­ein­füh­rung zur Date-Anbah­nung miss­braucht genutzt! Für den nicht deutsch spre­chen­den Teil Euro­pas visua­li­sier­te die über umfang­rei­che Schau­spiel­erfah­rung ver­fü­gen­de Frau Hiel­scher die The­ma­tik äußerst anschau­lich, indem sie wäh­rend ihres Gesangs­vor­trags mit einem Tele­fon­hö­rer han­tier­te. Euro­vi­si­on leicht gemacht!

Mar­got Hiel­scher: das Fräu­lein vom Amt (DE).

Doch weder das thea­tra­li­sche Vor­zei­gen von Requi­si­ten (das sie 1958 bei ihrem zwei­ten Ein­satz fürs Hei­mat­land wie­der­ho­len soll­te) noch das raf­fi­nier­te, poly­glot­te Ein­we­ben eng­li­scher, fran­zö­si­scher, ita­lie­ni­scher und spa­ni­scher Sprach­fet­zen (“Hal­lo, gra­zie, si, si / hal­lo, nada por mi”) in ihren von Ralph Maria Sie­gel, dem Seni­or, ver­fass­ten Lied­text reich­ten zum Sieg. Wir muss­ten uns mit dem vier­ten Rang begnü­gen: aus heu­ti­ger Sicht ein Traum­er­geb­nis, bei nur zehn Teil­neh­mer­län­dern jedoch eher mit­tel­präch­tig. Und klar unter­be­wer­tet. Sol­che Mätz­chen wie Mar­got hat­te die Gewin­ne­rin Cor­ry Brok­ken indes nicht nötig. Sie über­zeug­te mit avant­gar­dis­ti­scher Kurz­haar­fri­sur und einer ver­schwen­de­risch instru­men­tier­ten Bal­la­de, die wäh­rend der Brü­cke (dem Instru­men­tal­teil in der Mit­te) sogar einen dezen­ten Schwung ent­wi­ckel­te. Sowie mit Tipps zum Frisch­hal­ten der Ehe (“Auch wenn Du fett und grau­haa­rig wirst, kannst Du noch immer flir­ten”) und einem zurück­hal­ten­den, aber stets prä­sen­ten Sie­ge­rin­nen­strah­len. So fiel es den allei­ne abstim­mungs­be­rech­ti­gen Juro­ren leicht, zu erken­nen, dass hier inne­re und äuße­re Grö­ße über­ein­stimm­ten: die gazel­len­haf­te Nie­der­län­de­rin über­rag­te ihren mit­ge­brach­ten Begleit­gei­ger um mehr als einen Kopf.

Direkt nach ihrer Sie­ge­rin­nen­re­pri­se hus­tet uns Cor­ry Brok­ken (NL) was.

Die 2016 ver­stor­be­ne Cor­ry über­nahm die Sie­ge­rin­nen­staf­fet­te von der Schwei­ze­rin Lys Assia, die sich, wie die Hol­län­de­rin selbst, eben­falls erneut im Wett­be­werb befand (dies­mal aller­dings mit einem extrem öden Lied­lein) und, eben­so wie Cor­ry, auch im Fol­ge­jahr noch ein drit­tes Mal antre­ten soll­te. Wie man sieht, betrieb Lena Mey­er-Land­rut also bei­lei­be nicht das ers­te “Pro­jekt Titel­ver­tei­di­gungder Grand-Prix-Geschich­te; bereits in den Grün­der­jah­ren infi­zier­ten sich nicht nur die Fans mit dem Euro­vi­si­ons­vi­rus, son­dern auch die auf­tre­ten­den Künstler:innen. Nach dem eher ver­hal­te­nen Vor­jah­res­auf­takt mit nur sie­ben Teil­neh­mer­län­dern erwei­ter­te sich der Kreis heu­er um gleich drei neue Natio­nen. Als ers­ter skan­di­na­vi­scher Staat debü­tier­te das für sei­ne Libe­ra­li­tät und Frei­zü­gig­keit bekann­te Däne­mark. Und sorg­te sogleich für ein Skan­däl­chen: am Ende ihres See­fah­rer­lied­leins ver­sank das Schla­ger­pär­chen Bir­the Wil­ke und Gus­tav Wink­ler in einem elf Sekun­den andau­ern­den, inni­gen Kuss. Und das vor lau­fen­den Kame­ras! Die prü­de­ren Tei­le Euro­pas beb­ten: dür­fen die das? Im Fern­se­hen, wo theo­re­tisch Kin­der zuschau­en könn­ten (wobei die­se zu so spä­ter Stun­de eigent­lich nichts mehr vor der Flim­mer­kis­te ver­lo­ren haben)?

Der Han­de­ta­sche mus­se leben­dig sein: Frau Wil­ke und Herr Wink­ler (DK).

Der aus heu­ti­ger Sicht natür­lich völ­lig harm­lo­se Tabu­bruch zahl­te sich, wie fast immer beim Song Con­test, aus: Platz drei für das sub­til dop­pel­deu­ti­ge ‘Mein Schiff sticht in See heu­te Nacht’, ein immer mal wie­der ger­ne bemüh­ter mari­ti­mer Euphe­mis­mus. Auch unser geschätz­tes Nach­bar­land Öster­reich stieg erst­mals an Bord. Die Wis­sen­schaft­le­rin Renée Win­ter iden­ti­fi­ziert den Pre­mie­ren­ti­tel der Alpen­re­pu­blik in dem sehr lesens­wer­ten, 2015 erschie­ne­nen Sam­mel­band ‘Euro­vi­si­on Song Con­test – Eine klei­ne Geschich­te zwi­schen Kör­per, Geschlecht und Nati­on’ als “infan­ti­li­sier­tes (Selbst-)Bild” der Wal­zer­na­ti­on, die wie Deutsch­land unter der nicht bewäl­tig­ten Ver­gan­gen­heit der Nazi-Zeit litt und die­se ver­ges­sen zu machen such­te: “Das klei­ne Pony Öster­reich soll unbe­schwert und unbe­las­tet durch die wei­ten Fel­der rei­ten”, so die Autorin. Sehr zu mei­ner Scha­den­freu­de ersang der vom ORF intern bestimm­te Opern- und Jazz­in­ter­pret Bob Mar­tin (†1998) mit sei­nem aus­ge­spro­chen pos­sier­li­chen Kin­der­lied gleich zum Start die Rote Later­ne. Kein Wun­der: sein nie­der­schmet­tern­des Ergeb­nis wohl im Vor­aus ahnend, streck­te er direkt vor dem Instru­men­tal­part, als die Kame­ra schon von ihm weg­schwenk­te, den Jurys rasch die Zun­ge raus. Tollkühn!

Wohin, klei­nes Pony, soll’n wir rei­ten”? Zum Schlach­ter viel­leicht? (AT)

Mar­tin eröff­ne­te mit ado­rie­rens­wer­ter Gran­dez­za einen dan­kens­wer­ter­wei­se nie­mals enden wol­len­den Strom unglaub­lich skur­ri­ler K&K‑Kultknaller, mit denen sich die Alpen­re­pu­blik im Lau­fe ihrer lei­der nicht unter­bre­chungs­frei­en Teil­nah­me als ver­läss­li­che (und heiß ver­ehr­te) Lie­fe­ran­tin des unge­wollt Schrä­gen und Absei­ti­gen eta­blie­ren konn­te. Also gewis­ser­ma­ßen als das Finn­land West­eu­ro­pas. Auf­fäl­lig in die­sem Jahr übri­gens die Dif­fe­ren­zier­bar­keit der ein­zel­nen Bei­trä­ge: alles Bal­la­den zwar, jedoch ganz unter­schied­lich in der musi­ka­li­schen Mach­art. Wie auch in der Dau­er: auf den Posi­tio­nen 3 und 4 star­te­ten direkt hin­ter­ein­an­der der lan­ge Zeit kür­zes­te und der bis heu­te (und wohl auf ewig) längs­te Euro­vi­si­ons­bei­trag aller Zei­ten. Das ope­ret­ten­haf­te ‘All’ der Bri­tin Patri­cia Bre­din – dies­mal hat­te die BBC, anders als noch im Vor­jahr, ihren Vor­ent­scheid recht­zei­tig zu Ende gebracht und konn­te end­lich am ESC teil­neh­men – brach­te es auf ledig­lich 112 Sekun­den, wäh­rend der 2008 ver­stor­be­ne Ita­lie­ner Nun­zio Gal­lo und sein Gitar­rist sich für die ‘Cor­de del­la mia Chi­tar­ra’ über fünf Minu­ten (!) Zeit lie­ßen. Und damit das Kli­schee der nie zum Ende kom­men­den Süd­län­der aufs Treff­lichs­te bedien­ten, das sich 1991 beim Con­test in Rom (sowie bei jedem ein­zel­nen San-Remo-Fes­ti­val) so wun­der­schön bestä­ti­gen sollte.

Nervt wie Zahn­schmer­zen, ist aber schnell vor­über: Miss Bre­din, die ers­te ESC-Pun­ke­rin (UK).

Nun­zi­os Län­gen­re­kord dürf­te nicht mehr zu schla­gen sein: wäh­rend die fin­ni­sche Punk­band PKN im Jah­re 2015 Patri­cia in Sachen wür­zi­ge Kür­ze mit einem knapp neun­zigs­e­kün­di­gen Bei­trag erfolg­reich zu unter­bie­ten ver­moch­te, soll­te die EBU ab 1958 in Sachen maxi­ma­le Lied­dau­er mehr oder min­der strikt auf die Ein­hal­tung der Drei-Minu­ten-Regel ach­ten. Eine ange­sichts der wech­sel­vol­len Qua­li­tät der beim Grand Prix dar­ge­bo­te­nen Songs mit­un­ter gera­de­zu men­schen­freund­li­che Bestim­mung, auch wenn man­che Komponist:innen die­se Zeit­vor­ga­be lei­der als Min­dest­ver­pflich­tung miss­zu­ver­ste­hen schei­nen. Ist sie nicht: ein Grand-Prix-Lied darf durch­aus kür­zer sein als 180 Sekun­den, nur nicht län­ger! Mir fie­len aus dem Stand her­aus Dut­zen­de von Euro­vi­si­ons­bei­trä­gen ein, denen eine zeit­li­che Ori­en­tie­rung am erwähn­ten ‘All’ zu wün­schen gewe­sen wäre. Doch lei­der gilt statt­des­sen bis heu­te, dass sich gera­de die Schöpfer:innen von Bal­la­den, wenn auch nicht nur die­se, um so mehr Zeit mit ihren Lie­dern las­sen, je weni­ger Inter­es­san­tes sie zu erzäh­len haben.

Eine geschla­ge­ne Minu­te zupft Nun­zi­os Beglei­ter Pie­ro Gos­io auf der Gitar­re her­um, bevor es zur Sache geht. Von einem der­ar­tig lan­gen Vor­spiel kön­nen die Meis­ten sonst nur träu­men (IT).

Einen Son­der­ap­plaus ver­dient die Gast­ge­be­rin des Abends, Anaïd Ipli­c­ji­an, die zu Beginn der Live­über­tra­gung noch nicht an ihrem Platz stand und erst ans Mikro­fon eilen muss­te, was ihr jedoch mit Anmut und unfall­frei gelang. Ganz im Gegen­satz zum Diri­gen­ten des hr-Tanz­or­ches­ters, Wil­ly Ber­king, der wäh­rend ihrer Anmo­de­ra­ti­on hin­ter ihr hek­tisch die Trep­pe her­un­ter­eil­te und dabei fast über sei­ne eige­nen Füße stol­per­te. Frau Ipli­c­ji­an führ­te – auf deutsch! – mit der per­fek­ten Mischung aus damen­haf­ter Stren­ge, lieb­rei­zen­dem Charme und sub­ti­lem Humor (“Der fran­zö­si­sche Bei­trag heißt - wie soll­te er auch sonst hei­ßen? – ‘La bel­le Amour’.”) aus­ge­spro­chen sou­ve­rän durch das tele­vi­sio­nä­re Neu­land des Grand Prix Euro­vi­si­on. Und ließ sich auch nicht aus der Ruhe brin­gen, als es bei der ein­gangs erwähn­ten tele­fo­ni­schen Durch­ga­be der Jury­vo­ten aus den ver­schie­de­nen Teil­neh­mer­län­dern – unter Zuhil­fe­nah­me des wäh­rend ihres Auf­trit­tes bereits von Mar­got Hiel­scher so innig beschmus­ten Fern­sprech­ap­pa­ra­tes – zu zahl­rei­chen Stö­run­gen und Ver­stän­di­gungs­schwie­rig­kei­ten (“Hal­lo, Kopen­ha­gen?”) kam.

Lei­der ver­gaß die ver­an­stal­ten­de ARD das vir­tu­el­le Hin­zu­fü­gen der von den Fran­zo­sen für teu­res Geld ein­ge­kauf­ten Zei­chen­trick-Vögel­chen auf Pau­le Des­jard­ins extra gra­zil aus­ge­streck­ten Hän­den. So fehl­te der Dis­ney-Bal­la­de das ent­schei­den­de Ele­ment zum Sieg.

Oder aber als der dama­li­ge Direk­tor des Hes­si­schen Rund­funks bei der Sie­ger­eh­rung die vom Sen­der als sym­bo­li­scher Preis “gestif­te­te” Euro­vi­si­ons­pla­ket­te (auch dies ein Novum: Lys Assia beklag­te zeit­le­bens bit­ter­lich, 1956 kei­ne vor­zeig­ba­re Tro­phäe erhal­ten zu haben, son­dern ledig­lich mit einen Blu­men­strauß abge­speist wor­den zu sein!) zuerst Cor­ry Brok­ken über­reich­te, sie dann aber rüde wie­der aus den Hän­den der dar­ob kon­ster­niert drein­bli­cken­den Sän­ge­rin riss, um sie statt­des­sen dem eben­falls auf die Büh­ne geeil­ten Schöp­fer des Bei­trags aus­zu­hän­di­gen. Schließ­lich, so sei­ne eben­falls auf deutsch vor­ge­tra­ge­ne Beleh­rung, sei der Grand Prix ein Kom­po­nis­ten­wett­be­werb! Und für uns Deut­sche gibt es, um das natio­na­le Kli­schee zu bestä­ti­gen, nun mal bekannt­lich nichts Wich­ti­ge­res als die Regeln und deren strik­te Befol­gung, da kann auf Höf­lich­keit oder ver­letz­te Gefüh­le kei­ne Rück­sicht genom­men wer­den. Um so mehr erstaunt es, dass der hr, wenn ihm denn die Wür­di­gung des Song­schrei­bers so wich­tig schien, nicht wenigs­tens zwei Medail­len vor­be­rei­tet hat­te, um die Sän­ge­rin nicht mit sprich­wört­lich lee­ren Hän­den daste­hen zu las­sen. Aber gut, man übte halt noch…

Laut den Wor­ten der Mode­ra­to­rin ver­sam­mel­te sich in Frank­furt am Main die “euro­päi­sche Chan­son-Éli­te”: der kom­plet­te Grand Prix 1957.

Eine spä­te Ehrung erfuhr außer­dem der Orches­ter­chef Wil­ly Ber­king: trotz sei­nes klei­nen Miss­ge­schicks zum Show­auf­takt benann­te Frank­furt nach sei­nem Tode eine Stra­ße im Stadt­teil Praun­heim nach ihm.

Euro­vi­si­on Song Con­test 1957

Zwei­ter Gro­ßer Preis der Euro­vi­si­on. Sonn­tag, 3. März 1957, aus dem Gro­ßen Sen­de­saal des Hes­si­schen Rund­funks in Frank­furt am Main, Deutsch­land. 10 Teil­neh­mer­län­der. Mode­ra­ti­on: Anaïd Iplicjian.
#LandInter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatz
01BEBob­be­ja­an SchoepenStra­at­de­unt­je0508
02LUDaniè­le DupréTant du Peine0805
03UKPatri­cia BredinAll0607
04ITNun­zio GalloCor­de del­la mia Chitarra0706
05ATBob Mar­tinWohin, klei­nes Pony?0310
06NLCor­ry BrokkenNet als toen3101
07DEMar­got HielscherTele­fon, Telefon0804
08FRPau­le DesjardinsLa bel­le Amour1702
09DKBir­the Wil­ke + Gus­tav WinklerSki­bet skal Sej­le i Nat1003
10CHLys AssiaL’En­fant que j’étais0509

Letz­te Über­ar­bei­tung: 10.12.2023

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