Fran­zö­si­scher Vor­ent­scheid 1958: Schla­fes Bruder

“Dein Gior­gio wär auch was für mich”, flüs­tert ESC-Sie­ger André Cla­veau (FR 1958, links) sei­ner Kon­kur­ren­tin Lys Assia ins Ohr.

Nach dem auf­wän­di­gen und chao­ti­schen fran­zö­si­schen Vor­ent­schei­dungs­ver­fah­ren von 1957 mit sei­nen zahl­rei­chen Vor­run­den und sei­nem Inter­pre­tin­nen­wech­sel in letz­ter Minu­te stand in die­sem Jahr der gal­li­sche Ver­tre­ter von vor­ne­her­ein fest: der sei­ner­zeit bereits 42jährige André Cla­veau, ein schon seit den Vier­zi­gern im Lan­de sehr erfolg­rei­cher und tech­nisch ver­sier­ter Pari­ser Schnul­zen­sän­ger und Schla­ger­film-Mit­wir­ken­der, der sich durch sei­ne sam­te­ne Stim­me und sei­nen Hang zu schmal­zi­gen Lie­dern beson­de­rer Beliebt­heit bei der weib­li­chen Zuhö­re­rin­nen­schaft erfreu­te, wenn­gleich er selbst einer finn­schwe­di­schen Euro­vi­si­ons­sei­te zufol­ge wohl dem eige­nen Geschlecht zuge­neigt gewe­sen sei. Was er, so der Jour­na­list Tob­son, im ver­gleichs­wei­se tole­ran­ten “gay” Paris rela­tiv offen aus­le­ben konn­te – bis zur Besat­zung der fran­zö­si­schen Haupt­stadt durch die Deut­schen. Um nicht im KZ zu lan­den, habe er dann sei­ne Prä­gung not­ge­drun­gen ver­steckt. Dabei sei es auch geblie­ben, als im Nach­kriegs­frank­reich sei­ne Kar­rie­re Fahrt auf­nahm. So sang er bei­spiels­wei­se 1950 die ziem­lich behä­bi­ge Ori­gi­nal­ver­si­on des Titels ‘Ceri­sier rose et Pom­mier blanc’, die fünf Jah­re spä­ter in einer deut­lich sprit­zi­ge­ren Instru­men­tal­fas­sung des Orches­ters Pérez Pra­do als ‘Cher­ry Pink and Apple Blos­som White’ die Spit­ze der US-Charts erklomm und umge­hend zum Welt­hit avan­cier­te (Num­mer 1 auch in Deutschland).

Wenn das Pau­sen­pro­gramm län­ger dau­ert als die Prä­sen­ta­ti­on der Wett­be­werbs­ti­tel: der fran­zö­si­sche Vor­ent­scheid 1958 am Stück.

1958 nun stan­den fünf poten­ti­el­le Euro­vi­si­ons­bei­trä­ge für ihn zur Aus­wahl. Die durf­te der Chan­son­nier jedoch bei dem, wie mein Leser Alki­bernd es so tref­fend for­mu­liert, aus der “unauf­ge­räum­ten Requi­si­ten­kam­mer” des fran­zö­si­schen Fern­se­hens über­tra­ge­nen Vor­ent­scheid noch nicht ein­mal selbst zum Vor­tra­ge brin­gen. Wohl dem sei­ner­zeit mit beson­ders reli­giö­ser Inbrunst ver­tei­dig­ten Irr­glau­ben vom Grand Prix als Kom­po­nis­ten­wett­be­werb fol­gend, san­gen statt­des­sen die Autor:innen der fünf Lie­der die­se vor. Um die höl­zern insze­nier­te Cho­se für das Publi­kum noch unat­trak­ti­ver zu machen, lau­te­te deren ein­zi­ge Vor­ga­be, um kei­nen Preis der Welt mit der Kame­ra zu inter­agie­ren! Eine fast aus­schließ­lich aus Her­ren gesetz­ten Alters bestehen­de und dem Augen­schein nach in einen abge­dun­kel­ten Ver­hör­raum ein­ge­sperr­te Jury bestimm­te aus den fünf Vor­schlä­gen das sanft ein­lul­len­de Wie­gen­lied ‘Dors, mon Amour’ (‘Schlaf, mei­ne Gelieb­te’) zum fran­zö­si­schen Bei­trag. Und mach­te damit den gol­de­nen Griff: Cla­veau gewann – als ers­ter Mann in der Grand-Prix-Geschich­te – gegen star­ke Kon­kur­renz den Haupt­wett­be­werb in Hil­ver­sum. Für André mar­kier­te der Euro­vi­si­ons­sieg den Schei­tel­punkt sei­ner Kar­rie­re: Ende der Sech­zi­ger­jah­re zog er sich bei nach­las­sen­dem Erfolg voll­stän­dig aus der Öffent­lich­keit und aufs Land zurück. Er starb 2003 im Alter von 87 Jahren.

Von sei­nem Tex­ter Hubert Giraud beim Vor­ent­scheid zunächst als ange­nehm tro­cke­nes Gitar­ren­stück vor­ge­tra­gen, mach­te André Cla­veau mit Hil­fe eines Strei­cher­tep­pichs und sei­nes schlei­mi­gen Vibra­tos dar­aus das Mus­ter­bei­spiel einer Sülzballade.

Vor­ent­scheid FR 1958

Et voi­ci quel­ques Airs. Frei­tag, 7. Febru­ar 1958, aus dem ORF-Stu­dio in Paris. Fünf Teilnehmer:innen (Lie­der­wahl aus den Demo­ver­sio­nen). Mode­ra­ti­on: Mari­an­ne Lecene. 
#Inter­pre­tenSong­ti­telPlatz
01Charles DumontPari­gi Roman.b.
02René Denon­cinHélé­na02
03Joce­ly­ne JocyaMusi­que magiquen.b.
04Hubert GiraudDors, mon Amour01
05André RichinTape dans tes Mainsn.b.

Letz­te Über­ar­bei­tung: 21.07.2021

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2 Comments

  • Oh nein, oh nein, die Fran­zö­si­sche VE exis­tiert in vol­ler Län­ge. Merk­wür­di­ger­wei­se durch­ge­führt offen­bar in der unauf­ge­räum­ten Requi­si­ten­kam­mer von RTF

    Und, oh Wun­der, als Pau­sen­act tritt tat­säch­lich eine gewis­se “Dali­da” auf (20:53) (und nicht Glo­ria Las­so, wie im Sub­text behaup­tet, die immer­hin damals eben­falls ein aller­dings heu­te ver­ges­se­ner Super­star war)

    Kuckst Du:

  • Wie abge­fah­ren! Vie­len lie­ben Dank für die­ses fan­tas­ti­sche Fund­stück, das ich natür­lich umge­hend ein­ge­ar­bei­tet habe. Nach­dem ich die Lie­der jetzt ken­ne, wäre ich ja für ‘Pari­gi Roma’ gewe­sen, das ein­zi­ge Stück, bei dem einem nicht sofort die Füße ein­schla­fen. Put­zig fin­de ich ja auch, dass sich Cla­veau beim Publi­kum dafür ent­schul­digt, die Sie­ger­re­pri­se impro­vi­sie­ren zu müs­sen. Was für ein Profi!
    Mer­ci bien, lie­ber Bernd!

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