San-Remo-Fes­ti­val 1959: Ver­span­nun­gen im Vatikan

Erfolg gebiert meist noch mehr Erfolg: nach­dem ‘Vola­re’, der Vor­jah­res­sie­ger­ti­tel des San-Remo-Fes­ti­vals, in zahl­lo­sen Cover­ver­sio­nen welt­weit die Hit­pa­ra­den erobert hat­te, wuchs die Zuschauer:innenzahl der dies­jäh­ri­gen, wie­der­um als Grand-Prix-Vor­ent­scheid genutz­ten Fest­spie­le des ita­lie­ni­schen Can­zo­ne, die per Euro­vi­si­on erneut in etli­chen euro­päi­schen Län­dern zur Aus­strah­lung gelang­te, auf geschätz­te 20 Mil­lio­nen. Auch in der ligu­ri­schen Kur­stadt, so weiß Wiki­pe­dia zu berich­ten, stürm­ten Fans die Hotels und das städ­ti­sche Kasi­no, in wel­chem der Wett­be­werb damals statt­fand. Der Rum­mel for­der­te mit San-Remo-Star Clau­dio Vil­la gar ein Opfer: reni­ten­te Autogrammjäger:innen bela­ger­ten ihn so hart, dass er sich eine Ver­ren­kung der Schul­ter zuzog. Im Wett­streit mit alten und neu­en Konkurrent:innen lief es für ihn heu­er nicht so präch­tig: der erfolgs­ver­wöhn­te Schnul­zen­sän­ger muss­te sich dies­mal mit den bei­den hin­ters­ten Rän­gen zufrie­den­ge­ben. Über­schat­tet wur­de die Ver­an­stal­tung durch den Unfall­tod des Orga­ni­sa­tors Achil­le Caja­fa nur 17 Tage vor dem Festivalbeginn.

Hier flie­gen gleich die Löcher aus dem Form­ag­gio: Vil­la mit dem flot­te­ren sei­ner bei­den Wettbewerbstitel.

Gleich weint einer: John­ny Dorel­li und Dome­ni­co Modug­no, die Sie­ger von San­re­mo 1959, ran­geln um die Trophäe.

Wie in so vie­len natio­na­len Vor­ent­schei­dun­gen die­ser Zeit üblich, prä­sen­tier­te man alle Wett­be­werbs­ti­tel in jeweils zwei ver­schie­de­nen Vari­an­ten, gesun­gen von unter­schied­li­chen Interpret:innen. Mit einem bemer­kens­wer­ten Déjà-vu-Ergeb­nis: der Jung­star John­ny Dorel­li und der Can­t­au­to­re Dome­ni­co Modug­no, die im Vor­jahr gemein­sam das von Letz­te­rem selbst kom­po­nier­te ‘Vola­re’ zum Sieg führ­ten, konn­ten sich auch dies­mal die Spit­zen­po­si­ti­on sichern. Und zwar mit dem wie­der­um von Modug­no ver­fass­ten Titel ‘Pio­ve’, inter­na­tio­nal bekann­ter unter sei­ner ein­präg­sa­me­ren Refrain­zei­le ‘Ciao ciao, Bam­bi­na’. Wie bereits im Vor­jahr prä­sen­tier­te der in den USA auf­ge­wach­se­ne Dorel­li die etwas leicht­fü­ßi­ge­re, swin­gen­de­re Ver­si­on des Ever­greens. Und wie bereits im Vor­jahr schick­te die Rai den etwas gesetz­ter wir­ken­den, ein klei­nes biss­chen kleb­ri­ger schmach­ten­den Domen­cio zum Euro­vi­si­on Song Con­test, wo es dies­mal nur für den sechs­ten Rang reich­te. Des­sen­un­ge­ach­tet stürm­te auch die­ser Titel in etli­chen Cover­ver­sio­nen (unter ande­rem von der gro­ßen Cata­ri­na Valen­te) die euro­päi­schen Hit­pa­ra­den. Pikant: der ita­lie­ni­schen Wiki­pe­dia zufol­ge kön­ne der vor­der­grün­dig vom trä­nen­rei­chen Ende einer Bezie­hung han­deln­de Song­text von ‘Pio­ve’ (“Doch es reg­net, es reg­net auf unse­re Lie­be”) als ver­steck­ter Ver­weis auf das nach einer erbit­ter­ten gesell­schaft­li­chen Debat­te im Vor­jahr ver­ab­schie­de­te Mer­lin-Gesetz ver­stan­den wer­den, wel­ches in dem katho­li­schen Land bis heu­te Bor­del­le ver­bie­tet und damit die ita­lie­ni­schen Sex­ar­bei­te­rin­nen in die (dort lega­le) Stra­ßen­pro­sti­tu­ti­on treibt.

Da es in den Fünf­zi­gern noch kei­ne Video­clips gab, dreh­te man eben gleich gan­ze Schla­ger­fil­me. Hier mit San-Remo-Sie­ger John­ny Dorelli.

Von den wei­te­ren San-Remo-Teilnehmer:innen erziel­ten etli­che kom­mer­zi­el­len Erfolg zumin­dest auf natio­na­ler Ebe­ne. Allen vor­an der Zweit­plat­zier­te Arturo Tes­ta mit der hoch­dra­ma­ti­schen Bal­la­de ‘Io sono il Ven­to’ (‘Ich bin der Wind’), die er mit stimm­lich prä­zi­se kon­trol­lier­ter, den­noch über­wäl­ti­gen­der Lei­den­schaft prä­sen­tier­te, wobei ihm natür­lich sei­ne Fähig­kei­ten und sei­ne Bega­bung als aus­ge­bil­de­ter Opern­ba­ri­ton zugu­te kamen. Er lie­fer­te damit ein wun­der­ba­res Bei­spiel für die Qua­li­tät ab, die vie­le Grand-Prix-Fans so sehr an ita­lie­ni­schen Bei­trä­ge schät­zen: näm­lich so zu klin­gen, als gin­ge es gera­de um Leben oder Tod, und dies auch mit einer ent­spre­chen­den Mimik und Ges­tik zu unter­stüt­zen, ohne dabei jedoch ins Tra­gi­ko­mi­sche abzu­drif­ten. Anmu­ti­ges Lei­den eben: eine Tech­nik, die ansons­ten nur noch die diver­sen jugo­sla­wi­schen Völ­ker so vor­bild­lich beherr­schen. Wiki­pe­dia-Fun­fact am Ran­de: meh­re­re Deka­den spä­ter, im Jah­re 2006, kan­di­dier­te Arturo Tes­ta als Kan­di­dat der Rent­ner­par­tei für das Amt des Bür­ger­meis­ters in sei­ner Hei­mat­stadt Mai­land, muss­te sich aber mit nur 0,78% der Stim­men geschla­gen geben. Da hat­te sich der Wind wohl zwi­schen­zeit­lich zu einem lau­en Lüft­chen abgeschwächt.

Viel Wind um Nichts? Arturo Tes­ta erschmet­ter­te sich in San Remo den zwei­ten Rang.

Das von der Jury rela­tiv weit hin­ten plat­zier­te ‘Nes­su­no’ (‘Nie­mand’), beim Fes­ti­val in einer lei­der etwas len­den­lah­men Ver­si­on vor­ge­stellt von der San­re­mo-New­co­me­rin Rober­ta Cor­ti ali­as Bet­ty Cur­tis, ent­wi­ckel­te sich im Nach­gang zum San-Remo-Fes­ti­val in der deut­lich fre­che­ren Inter­pre­ta­ti­on der gera­de erst am Anfang ihrer Jahr­zehn­te umspan­nen­den Kar­rie­re ste­hen­den Pop-Legen­de Mina Mazzini, die damit ihren ers­ten Auf­tritt im ita­lie­ni­schen Fern­se­hen hat­te, zum Hit. Im dazu­ge­hö­ri­gen Schla­ger­film von 1960, Urla­to­ri alla Sbar­ra, durf­te sie das tun, wovon ver­mut­lich vie­le ande­re Frau­en nur träum­ten: sie ver­pass­te dem auf­dring­lich wer­den­den Adria­no Celen­ta­no eine Ohr­fei­ge! In Deutsch­land kennt man die groß­ar­ti­ge Mina, die bis heu­te in regel­mä­ßi­gen Abstän­den neue Alben ver­öf­fent­licht, wel­che in Ita­li­en eben­so regel­mä­ßig in die Top Ten gehen, hin­ge­gen fast aus­schließ­lich für den fan­tas­ti­schen Mil­lio­nen­sel­ler ‘Hei­ßer Sand’ von 1962, des­sen so knap­per wie anspie­lungs­rei­cher Text ihn zu einer belieb­ten Vor­la­ge für so klu­ge wie aus­schwei­fen­de Exege­sen mach­te und des­sen düs­ter-geheim­nis­vol­le Inter­pre­ta­ti­on durch die Sän­ge­rin ihn zu einer für den Hörer unver­gess­li­chen Medi­ta­ti­on über die zer­stö­re­ri­sche, dunk­le Kraft des Ver­lan­gens gera­ten ließ.

Mina auf der wil­den Par­ty. Und ja, da hängt jemand kopf­über in der Fle­der­maus­stel­lung von der Balus­tra­de. Fra­gen Sie mich nicht, warum!

A pro­pos Ver­lan­gen: Auf­se­hen erreg­te auch die viert­plat­zier­te, hauch­zar­te Lie­bes­bal­la­de ‘Tua’, von Jula de Pal­ma in einem haut­engen Kleid und mit sehr gro­ßer Hin­ga­be dar­ge­bo­ten. Das sorg­te bei eini­gen zuschau­en­den vati­ka­ni­schen Her­ren wohl für gewis­se hart­nä­cki­ge Ver­span­nun­gen unter der Sou­ta­ne und damit für einen öffent­lich aus­ge­spro­che­nen kirch­li­chen Rüf­fel für die “zu sinn­li­che” Prä­sen­ta­ti­on. Was man durch­aus als unbe­ab­sich­tig­tes Kom­pli­ment für die Aus­strah­lung der Sän­ge­rin begrei­fen kann, was aller­dings für Frau de Pal­ma die unan­ge­neh­me Fol­ge hat­te, dass wild­frem­de, von die­sen Wor­ten auf­ge­sta­chel­te Katho­li­ken sie in Pro­test­brie­fen belei­dig­ten und bedroh­ten (sehr christ­lich!) und die vati­k­an­hö­ri­ge Rai ihr Lied für eini­ge Zeit mit einem eiser­nen Sen­de­ver­bot beleg­te. Dem kom­mer­zi­el­len Erfolg ihrer Sin­gle tat dies jedoch kei­nen Abbruch (ätsch!). Die deut­lich züch­ti­ge­re (und dem­entspre­chend lang­wei­li­ge) Inter­pre­ta­ti­on von Toni­na Tor­ri­el­li blieb hin­ge­gen so bean­stan­dungs­frei wie umsatzschwach.

Die sinn­li­che Jula de Pal­ma bei einem TV-Auftritt.

Neben Dra­ma­tik, Sex und Skan­däl­chen lie­fer­te die­ser Jahr­gang des San-Remo-Fes­ti­vals aber auch albern-leicht­fü­ßi­gen Pop-Fluff: zum einen in der Gestalt der Polo­nä­se ‘Una Mar­cia in fa’, die weni­ger typisch ita­lie­ni­sche Ele­ganz ver­sprüh­te als viel­mehr kar­ne­val­esken deut­schen Gleich­schritt­wil­len; und zum zwei­ten in Form des hei­te­ren, la-la-la-las­ti­gen Cha-Cha-Chas ‘Lì per lì’, ange­mes­sen fröh­lich vor­ge­sun­gen und ‑gepfif­fen vom Nea­po­li­ta­ner Aure­lio Fier­ro, den auch sei­ne dezent im Schein­wer­fer­licht glän­zen­de Glat­ze nicht davon abhielt, den weib­li­chen Tei­len der Zuschau­er­schaft keck zuzu­zwin­kern. Der offen­sicht­lich den leib­li­chen Genüs­sen wenig abge­neig­te Fier­ro eröff­ne­te spä­ter in sei­ner Hei­mat­stadt ein Restau­rant, in wel­chem er die Gäs­te ger­ne mit Gesangs­ein­la­gen unter­hielt. Zu sei­nen Hits zähl­te unter ande­rem der Sie­ger­song der San-Remo-Kon­kur­renz­ver­an­stal­tung Fes­ti­val di Napo­li von 1956, ‘Guagli­o­ne’, zu Welt­ruhm gelangt durch die unwi­der­steh­li­che Mam­bo-Ver­si­on von Pérez “Prez” Pra­do (‘Mam­bo No. 5’), die im Jah­re 1995 durch die Ver­wen­dung als Wer­be­jing­le erneut die Charts stürm­te. Was lus­ti­ger­wei­se bedeu­tet, dass zwei der drei bekann­tes­ten Erfol­ge des kuba­ni­schen Band­lea­ders über Euro­vi­si­ons­ver­bin­dun­gen ver­fü­gen: auch ‘Cher­ry Pink and Apple Blos­som White’ wur­de zuerst von einem Grand-Prix-Teil­neh­mer gesun­gen, näm­lich vom Vor­jah­res­sie­ger André Cla­veau. Die Pop-Welt, sie ist ein Dorf.

Augen­schein­lich muss­ten alle männ­li­chen San­re­mo-Teil­neh­mer 1959 den glei­chen Frack tra­gen. Aure­lio Fier­ro schien den­noch vergnügt.

Vor­ent­scheid IT 1959

Fes­ti­val del­la Can­zo­ne ita­lia­na di San­re­mo. Sams­tag, 31. Janu­ar 1959, aus dem Casinò Muni­ci­pa­le in San Remo. 14 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Enzo Tor­to­ra und Adria­na Serra.
Inter­pre­tenInter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatz
Dome­ni­co ModugnoJohn­ny DorelliPio­ve5701
Arturo Tes­taGino Latil­laIo sono il Vento4802
Ted­dy RenoAchil­le ToglianiCono­scer­ti2703
Jula de PalmaToni­na TorrielliTua1804
Ted­dy RenoAure­lio FierroLì per lì1405
Faus­to CiglianoNil­la PizziSemp­re con te1306
Nata­li­no OttoAure­lio FierroAve­va­mo la stes­sa età1207
Bet­ty CurtisWil­ma de AngelisNes­su­no1008
John­ny Dorel­li + Bet­ty CurtisGino Latil­la + Clau­dio VillaUna Mar­cia di Fa0909
Clau­dio VillaBet­ty CurtisUn Bacio sul­la Bocca0310

Letz­te Über­ar­bei­tung: 23.09.2020

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