ESC-Fina­le 1959: Man­cher jodelt noch im Schlaf

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1959: Das Jahr der Revuen.

Nein, eine offe­ne Vor­ent­schei­dung hät­ten sie nicht mit­ge­macht, die inter­na­tio­nal umju­bel­ten Syn­chrontän­ze­rin­nen und ‑aus­se­he­rin­nen Ali­ce und Ellen Kess­ler, also gab es kei­ne: der damals für den deut­schen Grand-Prix-Bei­trag zustän­di­ge Hes­si­sche Rund­funk bestimm­te sie direkt zu den ger­ma­ni­schen Ver­tre­te­rin­nen in Can­nes. Deutsch­lands bekann­tes­te ein­ei­ige Zwil­lin­ge, die in einem NDR-Inter­view spä­ter ent­schul­di­gend schutz­be­haup­te­ten, zu die­sem Auf­tritt ver­trag­lich gezwun­gen wor­den zu sein, knüpf­ten aber noch wei­te­re Bedin­gun­gen an ihre Teil­nah­me: ‘Heu­te möcht’ ich bum­meln’, wie das Lied zunächst hei­ßen soll­te, erschien ihnen als Titel deut­lich zu brav. Um nicht zu sagen: spie­ßig. Die pho­ne­tisch nahe­lie­gen­de Abwand­lung ‘Heu­te möcht’ ich fum­meln’ wäre hin­ge­gen für dama­li­ge Ver­hält­nis­se viel­leicht doch etwas zu direkt gewe­sen, also fri­sier­te ihre Text­dich­te­rin Astrid Volt­mann den Song in ‘Heut’ Abend möcht’ ich tan­zen gehn’ um. Trotz die­ser von ihnen selbst ange­sto­ße­nen Ände­rung emp­fan­den die Bei­den die Num­mer aber ins­ge­samt als “nicht gut”. Da muss ich doch ent­schie­den widersprechen!

Da wackeln die Wän­de: die Kess­lers rocken das Haus! (DE)

Denn auch, wenn es musi­ka­lisch wie aus einer Revue klang, wie übri­gens alle Bei­trä­ge die­ses Jahr­gan­ges: text­lich kam ihr Bei­trag einer klei­nen Revo­lu­ti­on gleich. Dass die Dame den Herrn zum Tanz auf­for­der­te, stell­te in den sit­ten­stren­gen Fünf­zi­gern die Herr­schafts­ver­hält­nis­se auf den Kopf. Zumal noch ein­ge­lei­tet von einem flap­si­gen “Hal­lo Boy” (was ihnen, wie Jan Fed­der­sen recher­chier­te, ob des schänd­li­chen Angli­zis­mus flam­men­de Pro­test­brie­fe erzürn­ter Sprach­pu­ris­ten ein­trug) und, schlim­mer noch, einem anzüg­li­chen “Komm mit, sag nicht nein”: da ging es zwi­schen den Zei­len doch um ganz ande­re rhyth­mi­sche Kör­per­be­we­gun­gen! Auch die fran­zö­si­sche Gast­ge­be­rin Jaque­line Jou­bert fand das äußerst “curieux”. Zur Stra­fe muss­ten sich die vor­wit­zi­gen Schwes­tern ein ein­zi­ges, in Nabel­hö­he ein­ge­stell­tes Mikro­fon tei­len und ihre Tanz­ein­la­ge, die ers­te ernst­haf­te Grand-Prix-Cho­reo­gra­fie in der Geschich­te, auf der­ar­tig engem Raum absol­vie­ren, dass man es nur als Meis­ter­leis­tung bezeich­nen kann, dass dies unfall­frei und ohne blaue Fle­cken von­stat­ten ging. Den­noch reich­te es ledig­lich für einen ent­täu­schen­den ach­ten Rang: die größ­ten­teils älte­ren Her­ren der Jury fühl­ten sich wohl zu stark in ihrer Männ­lich­keit bedroht von den kecken Kesslerinnen.

Een beet­je Vree­de (NL).

Kei­ne Empö­rung gab es über die Gewin­ne­rin von Can­nes, Ted­dy (Auch, wenn sich die 2010 ver­stor­be­ne Doro­thea Mar­ga­re­tha Schol­ten den­sel­ben, an ein kusch­li­ges Kin­der­spiel­zeug erin­nern­den Spitz­na­men aus­ge­sucht hat­te wie der männ­li­che Teil des bri­ti­schen Duos: sie war ein­deu­tig eine Frau!) Schol­ten aus den Nie­der­lan­den, und ihr pep­pig-belang­lo­ses ‘Een beet­je’, (‘Ein biss­chen’) das aller­dings trotz des allei­ne von der Jury ver­ant­wor­te­ten Sie­ges kom­mer­zi­ell, also beim Plat­ten kau­fen­den Publi­kum, kaum einen Nach­hall fand. Bei­na­he könn­te man glau­ben, das kul­tu­rell in einen hol­län­di­schen und einen fran­ko­phi­len Lan­des­teil auf­ge­split­te­te Bel­gi­en habe in den Grand-Prix-Grün­der­jah­ren das allei­ni­ge Sagen in der Jury gehabt: zwi­schen 1957 und 1962 gewan­nen im ste­ten Wech­sel Frank­reich und die Nie­der­lan­de, nur 1961 ver­tat man sich (wahr­schein­lich, weil sich die Flag­gen so ähn­lich sehen) mit dem aus unbe­kann­tem Grun­de heu­er aus­set­zen­den, benach­bar­ten Groß­her­zog­tum Luxem­burg, unter Grand-Prix-Fans auch bekannt als “La deu­xiè­me France”, das sei­ne sieg­rei­chen Vertreter:innen natür­lich aus gal­li­schen Gefil­den importierte.

Sieh und ler­ne, N’E­ver­green: so geht Schla­ge­rek­sta­se! (UK)

A pro­pos “zwei­tes”: Als wah­rer Grand-Prix-Kult­schatz erwies sich der Camp-Klas­si­ker ‘Sing, litt­le Bir­die’ aus dem Ver­ei­nig­ten König­reich, der – wie in den kom­men­den Jahr­zehn­ten noch so vie­le bri­ti­sche Bei­trä­ge nach ihm – die Sil­ber­me­dail­le holen soll­te. Das augen­schein­lich unter dem Ein­fluss auf­put­schen­der Sub­stan­zen ste­hen­de sin­gen­de Ehe­paar Ted­dy (Auch, wenn sich Edward Vic­tor John­son den­sel­ben, an ein kusch­li­ges Kin­der­spiel­zeug erin­nern­den Spitz­na­men aus­ge­sucht hat­te wie die nie­der­län­di­sche Sie­ge­rin: er war ein­deu­tig ein Mann!) John­son und Pearl Carr brach­te ein Plüsch­vög­lein mit auf die Büh­ne und über­zeug­te sowohl mit einer drol­li­gen Kunst­pfeif­ein­la­ge als auch mit einer beängs­ti­gend fas­zi­nie­ren­den, zu glei­chen Tei­len absurd über­trie­be­nen wie authen­tisch wir­ken­den Mimik, die dem Begriff Fröh­lich­keit (oder gay­ness, wie es wohl tref­fen­der im Eng­li­schen heißt) eine neue Bedeu­tung ver­lieh. Sowie mit einer ech­ten Kil­ler-Rückung. Ihr Auf­tritt muss als ver­mut­lich völ­lig unschul­dig gemein­ter, dadurch aber auf das Köst­lichs­te belus­ti­gen­der Come­dy-Höhe­punkt wenigs­tens die­ses Euro­vi­sionjahr­zehnts gelten.

Der ist nicht aus Ecua­dor: Fer­ry Graf (AT).

Als wei­te­re Meis­ter im Fach der (unfrei­wil­li­gen?) Komik erwie­sen sich, wie so oft, die Öster­rei­cher, die mit dem in nost­al­gi­schen Erin­ne­run­gen an ver­gan­ge­ne impe­ria­le Zei­ten schwel­gen­den, könig­lich-kai­ser­li­chen ‘K. u. k. Kalyp­so aus Wien’ ihre Kom­pe­tenz in Sachen latein­ame­ri­ka­ni­scher Rhyth­men zu bewei­sen such­ten. Ver­quickt mit Ver­wei­sen auf die “Pol­ka aus Brünn” (dem heu­te tsche­chi­schen Brno) und auf unga­ri­sche Art gewürzt mit “etwas Papri­ka liegt auch mit drin” sowie abge­run­det mit lan­des­ty­pisch folk­lo­ris­ti­schen Jodel­ru­fen (!) wirk­te die gesell­schafts­tanz-kul­tu­rel­le Wie­ner Mélan­ge wirk­lich sehr, sehr drol­lig. Und ging natür­lich sehr, sehr in die Hose. Fer­ry Graf, der vom ORF intern bestimm­te und sei­nen Vor­trag mit aller­lei lus­ti­gen Hand­be­we­gun­gen unter­strei­chen­de Inter­pret die­ses fabel­haf­ten Klein­ods, wan­der­te in den Sieb­zi­gern nach Finn­land aus, wo man Schrä­ges bekannt­lich schätzt, und wo er eine erfolg­rei­che Hill­bil­ly-Band grün­de­te. Chris­ta Wil­liams, die Ver­tre­te­rin der benach­bar­ten Schweiz, kam nicht, wie behaup­tet, ‘Irgend­wo­her’, son­dern stamm­te gebür­tig aus Preu­ßen. Ihr ega­les Lied­chen spül­te die Eid­ge­nos­sen irgend­wo­hin unver­dien­ter­wei­se auf Rang 4.

Weni­ger ist mehr: ein etwas weni­ger expe­ri­men­tel­ler Lied­auf­takt und ein biss­chen weni­ger Arm­ge­fuch­tel hät­ten sicher nicht gescha­det (IT).

Erneut ver­such­te sich der ‘Vola­re’-Kom­po­nist und ‑sän­ger Dome­ni­co Modug­no für sein Hei­mat­land Ita­li­en. Sein mit Sinn für Dra­ma­tik into­nier­tes und musi­ka­lisch durch­aus ein­gän­gi­ges ‘Pio­ve’ schnitt noch­mals schlech­ter ab als sein eben­falls unter­be­wer­te­ter Welt­hit aus dem Vor­jahr. Im Anschluss aber fei­er­te es unter dem Titel ‘Ciao, Ciao, Bam­bi­na’, geco­vert unter ande­rem von der gro­ßen Cate­ri­na Valen­te, euro­pa­wei­te Hit­pa­ra­den­er­fol­ge. Lag es am Can­t­au­to­re selbst, der von der Aus­strah­lung her mehr an einen gemüt­li­chen Piz­za­bä­cker erin­ner­te anstatt an einen feu­ri­gen Latin Lover? Ich den­ke nicht: bei einer mehr­fa­chen Grand-Prix-Teil­nah­me erwar­tet das Publi­kum stets eine Stei­ge­rung gegen­über dem vori­gen Mal, und die konn­te Dome­ni­co nicht lie­fern, denn auch ein “wirk­lich gut” fällt nun mal gegen­über einem “gran­di­os” ab. Das stell­te auch Bir­the Wil­ke unter Beweis, die zwei Jah­re zuvor die Welt­öf­fent­lich­keit mit scheu­er Zun­gen­akro­ba­tik geschockt hat­te und nun noch­mals für Däne­mark antrat. Ohne Bus­serl­part­ner brach­te sie es nur auf den fünf­ten Rang.

Pol­ly Pier­rot will einen Cra­cker! (MC)

Neu dabei war das win­zi­ge Steu­er- und Glücks­spiel­pa­ra­dies Mona­co, unter Grand-Prix-Fans als La troi­siè­me France bekannt: fun­gier­te das unweit des dies­jäh­ri­gen Ver­an­stal­tungs­or­tes lie­gen­de, brief­mar­ken­gro­ße Fürs­ten­tum, eben­so wie Luxem­burg, doch vor allem als zusätz­li­che Anlauf­stel­le für fran­zö­si­sche Sänger:innen und Komponist:innen, die im Mut­ter­land nicht zum Zuge kamen. Wie bereits Öster­reich 1957 ern­te­te Mona­co bei sei­nem Debüt gleich erst ein­mal die Rote Later­ne. Kein Wun­der, wo der etwas zu breit­bei­nig auf­tre­ten­de und etwas zu sehr her­um­ham­peln­de, zu die­sem Zeit­punkt bereits von gleich zwei Chan­son­niè­ren (näm­lich Luci­en­ne Boy­er und Edith Piaf) geschie­de­ne Fran­zo­se Jac­ques Pills (†1970) doch behaup­te­te, sein bes­ter Freund sei ein Papa­gei, er also offen­sicht­lich einen Vogel hat­te! Aller­dings konn­te der Stadt­staat sei­ne Erfolgs­bi­lanz in der Fol­ge­zeit rasch auf­bes­sern. Pro­fi­tie­ren soll­te auch Frank­reich, das für­der­hin von gleich zwei kul­tu­rell eng ver­bun­de­nen Jurys mit Punk­ten über­flu­tet wur­de. Eine Gagné-gagné-Situation!

Der Tanz der Augen­brau­en: Jean Phil­ip­pe (FR).

Der gast­ge­ben­de Sen­der TF1 berei­cher­te die Show im vier­ten Jahr ihres Bestehens mit eini­gen hüb­schen Neue­run­gen. So begann die TV-Über­tra­gung erst­mals nicht direkt im Sen­de­saal, son­dern mit (aller­dings auf­grund der abend­li­chen Dun­kel­heit kaum erkenn­ba­ren) Außen­auf­nah­men der fran­zö­si­schen Rivie­ra und der Croi­set­te von Can­nes. Da wit­ter­te man wohl die Wer­be­mög­lich­kei­ten, die der Grand Prix in Sachen Tou­ris­mus für das aus­tra­gen­de Land bot. Zum Auf­takt des für dama­li­ge Ver­hält­nis­se bei­na­he flott zu nen­nen­den Lie­der­abends prä­sen­tier­te man alle Interpret:innen schon mal vor­ab auf einem Dreh­ge­stell, beklebt mit Foto­ta­pe­ten mit lan­des­ty­pi­schen Moti­ven, vor denen sie her­nach auch san­gen. Damit ver­ab­schie­de­te man sich zumin­dest visu­ell von der alber­nen Mär, der Euro­vi­si­on Song Con­test sei ein Kom­po­nis­ten­wett­be­werb und kon­zen­trier­te sich voll und ganz auf den für die Zuschauer:innen deut­lich attrak­ti­ve­ren (fried­li­chen) Kampf der Nationen.

Schacke­li­ne Schu­bert führ­te 1959 durch einen ver­gleichs­wei­se flot­ten Abend (gan­ze Show).

Und da Frank­reich in die­sem Wett­streit trotz der ein­gän­gig-hei­te­ren Laut­ma­le­rei ‘Oui oui oui oui’, dar­ge­bo­ten von einer manns­gro­ßen Bauch­red­ner­pup­pe vom aus­ge­spro­chen fröh­lich wir­ken­den Sän­ger Jean Phil­li­pe, der als ers­ter Grand-Prix-Teil­neh­mer spä­ter für ein ande­res Land antre­ten soll­te, näm­lich 1962 für die Schweiz, zum eige­nen Erstau­nen und ent­ge­gen der fes­ten Erwar­tun­gen aber nicht erneut sieg­te, son­dern “nur” Drit­ter wur­de, durf­ten im Anschluss an die Wer­tung eben alle drei Erst­plat­zier­ten noch mal sin­gen. In Sachen Natio­nal­chau­vi­nis­mus macht den Gal­li­ern halt so schnell kei­ner was vor!

Euro­vi­si­on Song Con­test 1959

Grand Prix Euro­vi­si­on de la Chan­son Euro­pé­en­ne. Mitt­woch, 11. März 1959, aus dem Palais des Fes­ti­vals in Can­nes, Frank­reich. Elf Teil­neh­mer­län­der. Mode­ra­ti­on: Jac­que­line Joubert.
#LandInter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatz
01FRJean Phil­li­peOui, oui, oui, oui1503
02DKBir­the WilkeUh, jeg ville øns­ke jeg var dig1205
03ITDome­ni­co ModugnoPio­ve0906
04MCJac­ques PillsMon Ami Pierrot0111
05NLTed­dy ScholtenEen beet­je2101
06DEAli­ce + Ellen KesslerHeu­te Abend wol­len wir tan­zen gehn0508
07SEBri­ta BorgAugus­tin0409
08CHChris­ta WilliamsIrgend­wo­her1404
09ATFer­ry GrafDer k. u. k. Kalyp­so aus Wien0410
10UKTed­dy John­son + Pearl CarrSing litt­le Birdie1602
11BEBob Ben­nyHou toch van mij0907

Letz­te Über­ar­bei­tung: 27.09.2020

Ein komö­di­an­tisch beschwing­ter Abend, der ESC 1959. Dei­ne Lieb­lings­songs? (Max. 5 Nennungen)

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3 Comments

  • Doch etwas Papri­ka liegt eben­falls drin! Einer der bes­ten Con­tests der spä­ten Fünf­zi­ger bzw. frü­hen Sech­zi­ger. Vie­le flot­te, im Ansatz schon ent­fernt an Pop­songs erin­nern­de Bei­trä­ge (Deutsch­land, Nie­der­lan­de) und selbst die getra­ge­nen Chan­sons waren nicht über­mä­ßig schnar­chig. Und dann noch ‘der KuK Kalyp­so aus Wien’! Abso­lu­ter Oberkult! 😆

  • Gäbe es für den Song kei­nen eige­nen Ein­trag in der (eng­li­schen) Wiki­pe­dia, ich hät­te wohl nie erfah­ren, wofür “k. & k.” steht.

  • kai­ser­lich & könig­lich” übri­gens, für die­je­ni­gen, die zu faul sind, selbst nach­zu­schau­en. Bezieht sich auf die Mon­ar­chie Öster­reich-Ungarns, wo der öster­rei­chi­sche Kai­ser auch den unga­ri­schen König stell­te (wie wir alle ja noch aus den Sis­si-Fil­men wis­sen). Es gibt mitt­ler­wei­le auch einen deut­schen Wiki­pe­dia-Ein­trag dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Kaiserlich_und_k%C3%B6niglich

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