Deut­scher Vor­ent­scheid 1960: Dal­li, dalli!

Nach­dem die Direkt­no­mi­nie­rung der inter­na­tio­nal bekann­ten Kess­ler-Zwil­lin­ge durch die ARD als deut­sche Ver­tre­te­rin­nen beim Euro­vi­si­on Song Con­test 1959 nicht das erhoff­te Ergeb­nis gebrach­te hat­te, fand in die­sem Jahr zur Ermitt­lung des hei­mi­schen Grand-Prix-Bei­trags mit der Schla­ger­pa­ra­de wie­der eine öffent­li­che Vor­ent­schei­dung mit meh­re­ren Teilnehmer:innen statt. Für das For­mat ori­en­tier­te sich der ver­an­stal­ten­de Hes­si­sche Rund­funk (hr) vage an dem im Vor­jahr von der ältes­ten kom­mer­zi­el­len Hör­funk­sta­ti­on Euro­pas, dem Radio Luxem­burg, ins Leben geru­fe­nen Deut­schen Schla­ger-Fes­ti­val und wähl­te den­sel­ben Ver­an­stal­tungs­ort, die Rhein-Main-Hal­len in der hes­si­schen Lan­des- und Rentner:innen-Hauptstadt Wies­ba­den. Inter­es­san­tes Detail: auch der ORF über­trug die Sen­dung. Nach dem Vor­bild des ita­lie­ni­schen San-Remo-Fes­ti­vals ent­stand rund um den Vor­ent­scheid sogar ein Schla­ger­film glei­chen Titels, in wel­chem sämt­li­che Teilnehmer:innen einen Kurz­auf­tritt absol­vier­ten. Von der Kri­tik als “tur­bu­len­ter Unsinn” mit “Kla­mauk­hand­lung” bezeich­net, spiel­te der Strei­fen gera­de des­we­gen sein Geld an den Kino­kas­sen locker wie­der ein.

Die­se völ­lig unge­küns­tel­te, natür­li­che Che­mie zwi­schen den Bei­den! Das Schla­ger-Traum­paar Git­te & Rex im Jah­re 1964 (Reper­toire­bei­spiel).

Eine der, wenn man das über­haupt so nen­nen darf, tra­gen­den Film­rol­len über­nahm die Schla­ger­iko­ne Lud­wig Hirt­rei­ter ali­as Sex Dil­do Rex Gil­do, Anfang der Sech­zi­ger das belieb­tes­te Jugend­idol der Deut­schen und mehr­fa­cher Bra­vo-Otto-Preis­trä­ger. Sein Top-Hit aus dem glei­chen Jahr hieß ‘Das Ende der Lie­be’ und war die ange­mes­sen schmach­tend vor­ge­jaul­te Ein­deut­schung des herz­zer­rei­ßen­den ame­ri­ka­ni­schen Trä­nen­zie­hers ‘Tell Lau­ra I love her’. Der sei­ne Vor­lie­be für das eige­ne Geschlecht Zeit sei­nes Lebens ver­ste­cken müs­sen­de “Sexy Rexy”, der gera­de zu Beginn sei­ner kome­ten­haf­ten Kar­rie­re schwer­punkt­mä­ßig mit hete­ro­phi­len Lie­bes­du­et­ten beim plat­ten­kau­fen­den Publi­kum punk­te­te und den sein Plat­ten­la­bel dafür bevor­zugt mit der zehn Jah­re jün­ge­ren Con­ny Fro­boess oder mit Git­te Hæn­ning als Sand­prin­zes­sin­nen der Wahl ver­kup­pel­te, leg­te beim Wett­be­werb in Wies­ba­den statt­des­sen gemein­sam mit der bel­gi­schen Sän­ge­rin und dama­li­gen Ehe­frau sei­nes Pro­du­zen­ten Nils Nob­ach, Angè­le Durand, das (lei­der im Netz unauf­find­ba­re) ‘Abitur der Lie­be’ ab. Vor Zuschauer:innen, und das noch vor 22 Uhr! Sodom und Gomor­rha mal wie­der im deut­schen Fern­se­hen! Eben­falls aus dem Land der Frit­ten stamm­te der unter dem Künst­ler­na­men Tony Sand­ler auf­tre­ten­de und aus diver­sen wei­te­ren Schla­ger­fil­men bekann­te Luci­en Joseph San­telé, der kur­ze Zeit spä­ter gemein­sam mit dem US-Ame­ri­ka­ner Ralph Young das Duo Sand­ler & Young grün­de­te und ein Vier­tel­jahr­hun­dert lang die Kon­zert­büh­nen von Las Vegas unsi­cher machte.

Im zuge­schal­te­ten Nach­bar­land Öster­reich dürf­te man sich über den Künst­ler­na­men “Tony Stadt­strei­cher” viel­leicht etwas gewun­dert haben (Reper­toire­bei­spiel).

Ob der gebür­ti­ge Dach­au­er Kaba­ret­tist und Schau­spie­ler Rai­ner Hans Cle­mens Schink († 2004) für sei­ne Schla­ger­kar­rie­re, die fast aus­schließ­lich aus haupt­säch­lich bei Bil­lig­la­bels ver­öf­fent­lich­ten Cover­ver­sio­nen bestand und ihm ledig­lich einen ein­zi­gen Top-50-Hit bescher­te, den Künst­ler­na­men Rai­ner Bert­ram wähl­te, weil der für die Euro­vi­si­on sei­ner­zeit zustän­di­ge hr in der Frank­fur­ter Bert­ram­stra­ße resi­diert? Falls ja, dann brach­te es ihm wenig Glück: sein Wett­be­werbs­bei­trag ‘Ein Picas­so der Lie­be’ fiel gna­den­los durch und erschien nie auf Ton­trä­ger. Ein von Bert­ram im Jah­re 1961 ver­ur­sach­ter Auto­un­fall, bei dem sei­ne mit­fah­ren­de Schla­ger­kol­le­gin Gina Dobra (‘Man­do­li­nen­se­re­na­de’) schwer ver­letzt wur­de, trug nicht unbe­dingt zu sei­ner Popu­la­ri­tät bei, und so wech­sel­te er ab 1965 als Radio­mo­de­ra­tor hin­ters Mikro­fon bzw. als TV-Regis­seur (u.a. für die legen­dä­re RTL-Show Alles nichts oder?) hin­ter die Kame­ra. In die­ser Funk­ti­on fand er aller­dings zurück zum Euro­vi­si­on Song Con­test: ab 1979, als der Baye­ri­sche Rund­funk für über ein Dez­en­ni­um das Grand-Prix-Zep­ter über­nahm, pro­du­zier­te er meh­re­re Jah­re lang den deut­schen Vor­ent­scheid Ein Lied für… Und schließ­lich, als Krö­nung sei­ner Kar­rie­re, sogar den berühmt-berüch­tig­ten Con­test von 1983 aus der Mün­che­ner Rudi-Sedlmeyer-Halle!

Um sich die bei den Schla­ger­fest­spie­len 1963 besun­ge­ne eige­ne Höhen­son­ne leis­ten zu kön­nen, muss­te man damals aber schon zu den Spit­zen­ver­die­nern gehö­ren (Reper­toire­bei­spiel)!

Eben­so­we­nig wie bei den Lie­dern von Gil­do und Bert­ram konn­te eine Plat­ten­fir­ma über­zeugt wer­den, den eben­falls in den Wei­ten des Alls ver­schol­le­nen und ver­däch­ti­ger­ma­ßen wie eine schlüpf­ri­ge Beich­te beti­tel­ten Wett­be­werbs­bei­trag ‘Ich hab ein Hob­by’ auf Vinyl zu pres­sen, den der am Anfang einer lang­an­hal­ten­den Kar­rie­re als viel­be­schäf­tig­ter Film­mu­sik­kom­po­nist ste­hen­de Peter Tho­mas (u.a. Raum­pa­trouil­le, Der Alte) für die Sän­ge­rin Ingrid Wer­ner schrieb. Die kei­nes­falls mit der für ihr Pfeif­t­a­lent bekann­ten Ilse Wer­ner zu ver­wech­seln­de Ingrid, die eine Fach­zeit­schrift mal für ihre “raue, am Jazz geschul­te” Stim­me lob­te, half die­se voka­le Fär­bung beim eher auf Har­mo­nie und Lieb­lich­keit gepol­ten deut­schen Publi­kum aller­dings genau gar nichts: Hits hat­te sie nie, auch nicht unter ihrem bünd­nis­treu­en Pseud­onym Nina Wes­ten. Tho­mas setz­te sie den­noch wei­ter­hin ein, so zum Bei­spiel pas­sen­der­wei­se für den Sound­track zu dem von einer DDR-Repu­blik­flucht han­deln­den Zonen-Thril­ler ‘Flucht nach Ber­lin’ von 1961, auf dem sie den jaz­zig-ent­spann­ten Bar­mu­sik­ti­tel ‘High Sno­bie­ty’ sang und für wel­chen Tho­mas das Gol­de­ne Film­band für die bes­te Film­mu­sik erhielt.

So ging Kir­mes­mu­sik in den Sech­zi­gern: Ingrid Wer­ner als Nina Wes­ten beim Bum­mel über den Rum­mel (Reper­toire­bei­spiel).

Eben­falls vom Kin­topp kam Hei­di Brühl. Die durch ihre Haupt­rol­le als pfer­de­ver­narr­te Teen­age­rin Dal­li in der harm­los-hei­te­ren Immenhof-Tri­lo­gie zur damals belieb­tes­ten Schau­spie­le­rin Deutsch­lands Avan­cier­te ver­such­te hier, unge­ach­tet ihrer nur mäßi­gen stimm­li­chen Bega­bung, ihre immense Popu­la­ri­tät durch Plat­ten­ver­käu­fe zu ver­sil­bern. Was ihr spie­lend gelang: ‘Wir wol­len nie­mals aus­ein­an­der­gehn’ war der ers­te Schla­ger über den erst noch bevor­ste­hen­den Schlank­heits­wahn­sinn und ist ein Pflicht­stück für jede Ger­ma­nys-next-Top­mo­del-Buli­mie-Aspi­ran­tin. Scherz bei­sei­te: natür­lich han­del­te es sich mal wie­der um einen so roman­ti­schen wie unrea­lis­ti­schen musi­ka­li­schen Treue­schwur. Der musi­ka­lisch aus­ge­spro­chen tra­ni­ge Hoch­zeits­marsch besetz­te anschlie­ßend sie­ben Wochen am Stück die Spit­zen­po­si­ti­on der erst im Vor­jahr offi­zi­ell ein­ge­führ­ten deut­schen Sin­gle-Charts, in denen er sich ins­ge­samt 33 Wochen lang hielt und in der Jah­res­ab­rech­nung mit dem sieb­ten Rang abschloss. Ein wasch­ech­ter Megas­el­ler also! Den­noch beleg­te Frau Brühl in der Rhein-Main-Hal­le mit dem laut der Recher­che von Jan Fed­der­sen ursprüng­lich für Zarah Lean­der kom­po­nier­ten Super­hit völ­lig über­ra­schend nur den zwei­ten Rang. 

Sagt die Non­ne zu ihren Schen­keln: wir wol­len nie­mals auseinandergehn!

Die aus 15 angeb­li­chen “Pro­fis” (also Medi­en­men­schen) und 30 Lai­en bestehen­de Jury bestimm­te näm­lich – zum deut­lich ver­nehm­ba­ren Miss­fal­len des Saal­pu­bli­kums – aus nicht nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den den büh­nen­er­fah­re­nen Folk­bar­den und heu­ti­gen Rei­se­au­toren Wyn Hoop (bür­ger­lich Win­fried Lüs­sen­hop) mit der ster­bens­lang­wei­li­gen Seicht­schnul­ze ‘Bon­ne Nuit, ma Ché­rie’ zum deut­schen Euro­vi­si­ons­re­prä­sen­tan­ten. Womög­lich spe­ku­lier­te man mit Blick auf André Cla­veaus Sie­ger­ti­tel von 1958 (‘Dors, mon Amour’) dar­auf, mit einem euro­vi­si­ons­kon­form fran­ko­phi­len Schlaf­lied­chen auf inter­na­tio­na­lem Par­kett mehr raus­ho­len zu kön­nen als mit hete­ro­nor­ma­ti­vem Bezie­hungs­ge­sül­ze. Und, was soll man sagen: der vier­te Platz, den der mit gro­ßem Selbst­ver­trau­en aus­ge­stat­te­te Wyn Hoop (Zitat von eurovision.de: “Ich war natür­lich ein tota­ler Außen­sei­ter und konn­te dies nur mit der Arro­ganz eines gestan­de­nen Musi­kers den Schla­ger­sän­gern gegen­über sagen, aber von dem Song war ich rest­los über­zeugt.”) in Lon­don ersin­gen konn­te, lag deut­lich über dem Durch­schnitt der letz­ten Jah­re. Dal­li Hei­di Brühl ver­blieb nur, sich der­weil mit dem über­ra­gen­den kom­mer­zi­el­len Erfolg ihres Lie­des auf dem hei­mat­li­chen Markt zu trös­ten. Außer­dem soll­te sie 1963 ihre Chan­ce erhalten.

Ich ver­ges­se Dich nie’: der heu­te voll­stän­dig ver­ges­se­ne Wyn Hoop 1960 in London.

Vor­ent­scheid DE 1960

Schla­ger­pa­ra­de. Sams­tag, 6. Febru­ar 1960, aus der Rhein-Main-Hal­le in Wies­ba­den. Zehn Teilnehmer:innen, Mode­ra­ti­on: Hil­de Nocker und Wer­ner Ful­le­rer. 45köpfige Jury.

#Inter­pre­tenSong­ti­telPlatzCharts
01Angè­le Durand + Rex GildoAbitur der Lieben.b.-
02Ger­hard WendlandAlle Wun­der der Welt03-
03Git­ta LindAuf der Stra­ße mei­ner Träumen.b.-
04Wyn HoopBon­ne Nuit, ma Chérie0144
05Gerd StröhlDas Herz einer Fraun.b.-
06Rai­ner BertramEin Picas­so der Lieben.b.-
07Ingrid Wer­nerIch hab ein Hobbyn.b.-
08Tony Sand­lerOh, wie schönn.b.-
09Hei­di BrühlWir wol­len nie­mals aus­ein­an­der gehn0201
10Char­ming BoysLitt­le Joen.b.-

Letz­te Über­ar­bei­tung: 23.09.2022

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1 Comment

  • Die ein­ge­la­de­nen Kom­po­nis­ten konn­ten sich für ihre Titel Künst­ler “wün­schen”. Franz Gro­the (“Ein Picas­so der Lie­be”) prä­fe­rier­te eigent­lich Peter Alex­an­der und Fred Ber­tel­mann, Micha­el Jary konn­te sich vor­stel­len, neben Hei­di Brühl auch für Wil­ly Alber­ti, Siw Malm­q­vist oder Zarah Lean­der zu schrei­ben und Ger­hard Wink­ler woll­te eigent­lich Vico Tor­ria­ni oder Hei­di Brühl, die ihm aber bei­de absag­ten. Auch der dann prä­fe­rier­te US-ame­ri­ka­ni­sche Opern­sän­ger Law­rence Win­ters, spä­ter Ensem­ble­mit­glied an der Ham­bur­ger Oper, kam nicht zum Zug.

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