Deut­scher Vor­ent­scheid 1963: Das geht mir viel zu schnell

Heidi Brühl, DE 1963
Die Zicki­ge

Die Idee, die vom Süd­west­funk aus der Tau­fe geho­be­nen und von gleich vier ARD-Lan­des­sen­dern gemein­schaft­lich ver­an­stal­te­ten Deut­schen Schla­ger­fest­spie­le als Grand-Prix-Vor­ent­scheid zu nut­zen, hat­te 1962 Moder­ni­tät und Glanz in die Ver­an­stal­tung gebracht und mit ‘Zwei klei­ne Ita­lie­ner’ für einen fri­schen, kom­mer­zi­ell über­aus erfolg­rei­chen deut­schen Bei­trag gesorgt, den erfolg­reichs­ten die­ses Dez­en­ni­ums gar. Wür­de man die­ses rund­her­um gelun­ge­ne Expe­ri­ment also fort­set­zen, wie es jede mensch­li­che Logik gebie­tet? Weit gefehlt! Denn Hans-Otto Grü­ne­feldt, der Unter­hal­tungs­chef des Hes­si­schen Rund­funks und dama­li­ge Euro­vi­si­ons­ver­ant­wort­li­che der ARD, woll­te ja gera­de kei­ne Hits, son­dern ein “anspruchs­vol­les” Lied. Noch dazu beleg­te die auf die­sem Wege aus­ge­wähl­te Con­ny Fro­boess im euro­päi­schen Schla­ger­wett­be­werb in Luxem­burg nur einen (aus dama­li­ger Sicht) ent­täu­schen­den sechs­ten Platz, und man wünsch­te sich doch so drin­gend den Sieg!

Ein Mil­lio­nen­sel­ler: der Sie­ger­ti­tel der Deut­schen Schla­ger­fest­spie­le 1963 (Reper­toire­bei­spiel).

Wir ler­nen also: Kom­mer­zia­li­tät ist pfui, Erfolg­lo­sig­keit aber auch doof – eine in sich kom­plett para­do­xe und zutiefst ver­que­re Hal­tung, die aber gera­de in Deutsch­land beson­ders vie­le und beson­ders hart­nä­cki­ge Anhänger:innen zählt. Die nun­mehr ohne Euro­vi­si­ons­ver­bin­dung noch bis 1966 fort­be­stehen­den Deut­schen Schla­ger­fest­spie­le pro­du­zier­ten in die­sem Jahr mit Git­te Hæn­nings für die dama­li­gen Ver­hält­nis­se durch­aus fre­chem, komö­di­an­ti­schem Coun­try­schla­ger ‘Ich will ’nen Cow­boy als Mann’ nicht nur eine heim­li­che Hym­ne für einen bestimm­ten Schlag schwu­ler Feti­schis­ten, son­dern vor allem einen neu­er­li­chen Num­mer-Eins-Hit und unsterb­li­chen Gas­sen­hau­er. Also genau das, was beim Con­test für Auf­se­hen gesorgt hät­te. Und was der deut­sche ESC-Ver­ant­wort­li­che zutiefst ver­ab­scheu­te. Hät­te sie 1963 schon exis­tiert, die Zeit ihres Bestehens stets sehr eli­tär kom­men­tie­ren­de und den Mas­sen­ge­schmack ableh­nen­de Musik­zeit­schrift Spex wäre bestimmt stolz auf Grü­ne­feldt gewe­sen. Der hr-Mann buch­te statt­des­sen exklu­siv die sehr popu­lä­re Schau­spie­le­rin und Sän­ge­rin Hei­di Brühl. Einer wei­te­ren Kon­kur­renz hät­te sie nach dem spek­ta­ku­lä­ren, knap­pen Schei­tern beim Vor­ent­scheid von 1960 wohl auch nicht gestellt. Grü­ne­feldt ließ ihr fünf Lie­der schrei­ben, die sie in einer eige­nen One-Woman-Show im Sen­de­saal des hr-Funk­hau­ses am Dorn­busch zu Frank­furt am Main vor­sin­gen durfte.

Wer ficken will, muss freund­lich sein: die Hei­di in London.

Was die Ein­schalt­quo­ten anging, erwies sie sich als gol­de­ner Griff. Die Brühl erfreu­te sich auch Jah­re nach ihrer Haupt­rol­le als pfer­de­ver­narr­ter Teen­ager namens – oh, herr­li­che Iro­nie! – Dal­li in der harm­los-hei­te­ren Hei­mat­film­tri­lo­gie Immenhof hier­zu­lan­de in allen Alters­klas­sen einer unglaub­li­chen Beliebt­heit. Unfass­ba­re 63% aller TV-Haus­hal­te waren beim Vor­ent­scheid auf Emp­fang, beim Lon­do­ner Con­test selbst noch 58%: die höchs­te deut­sche ESC-Quo­te aller Zei­ten. Revo­lu­tio­när: per Post­kar­te durf­ten erst­ma­lig die TV-Zuschauer:innen ihren Lieb­lings­ti­tel bestim­men, und sie wähl­ten mit sat­ter Zwei­drit­tel­mehr­heit den flot­ten, wenn­gleich etwas über­an­strengt wir­ken­den Schla­ger ‘Mar­cel’, das Kla­ge­lied einer fri­gi­den Zicke über ihren for­schen Ver­eh­rer, in wel­chem sie ihm bedeu­tet, dass auf dal­li bei ihr mal über­haupt nichts läuft. Inwie­weit die­sem, wie Jan Fed­der­sen in sei­ner Euro­vi­si­ons­bi­bel zu kol­por­tie­ren weiß, ursprüng­lich für Hil­de­gard Knef kom­po­nier­ten Song, wel­cher es in den Charts bis auf Rang 36 schaff­te, nun ein tie­fe­rer inhalt­li­cher oder künst­le­ri­scher Anspruch inne­wohnt als dem inkri­mi­nier­ten ‘Zwei klei­ne Ita­lie­ner’, ist mir zwar nicht ersicht­lich. Aber viel­leicht kann mir das ja ein:e Spex-Leser:in erklä­ren?

Stimm­lich bes­ser als die Brühl, aber auch Mar­got Eskens macht aus ‘Mar­cel’ kei­nen Bringer.

Weni­ger zufrie­den dürf­te Mar­got Eskens gewe­sen sein. Im Janu­ar 1963, kurz vor dem 21. Geburts­tag (der dama­li­gen Gren­ze zur Voll­jäh­rig­keit) des Kin­der­stars Hei­di Brühl starb deren Vater, der sie bis dahin gema­nagt hat­te. Brühls Teil­nah­me am Vor­ent­scheid und ihr Ein­satz in Lon­don stan­den damit erst mal in den Ster­nen. In sei­ner Not enga­gier­te der Hes­si­sche Rund­funk die Eskens als Ersatz­kraft. Die Gute ging dar­auf­hin ins Stu­dio und nahm schon mal alle fünf Titel auf. Hei­di Brühl aber woll­te ihre Chan­ce nut­zen und bestand dar­auf, antre­ten zu dür­fen. Nun wur­de Frau Eskens nach offi­zi­el­ler Les­art “krank” – für ihr koope­ra­ti­ves Ver­hal­ten ent­schä­dig­te sie der hr dann drei Jah­re spä­ter mit einer eige­nen Exklu­siv­bu­chung. Hei­di Brühl pro­bier­te im Lau­fe ihrer noch fol­gen­den, ziem­lich wech­sel­haf­ten Kar­rie­re alles Mög­li­che aus, vom Musi­cal (‘Annie, get your Gun’) über Show-Auf­trit­te in Las Vegas, Gast­rol­len in TV-Seri­en wie Colum­bo oder Pra­xis Bülow­bo­gen, ein neu­er­li­ches zwei­tei­li­ges Sequel zur unent­rinn­ba­ren Immenhof-Rei­he, dies­mal in der Rol­le der Guts­be­sit­ze­rin, die obli­ga­to­ri­schen Nackt­fo­tos im Play­boy, Ein­sät­ze als Syn­chron­spre­che­rin und ein kur­zes musi­ka­li­sches Come­back Anfang der Acht­zi­ger­jah­re mit diver­sen Dis­co-Titeln, von den einer sogar char­te­te (DE #45). 1991 ver­starb das Mul­ti­ta­lent im Alter von nur 49 Jah­ren an den Fol­gen einer Krebserkrankung.

Let’s get phy­si­cal: mit prä­zi­se exe­ku­tier­tem gym­nas­ti­schem Arm­ge­we­del und dem obli­ga­to­ri­schen Stirn­band gab uns Hei­di Brühl Anfang der Acht­zi­ger die deut­sche Oli­via New­ton-John (Reper­toire­bei­spiel).

Vor­ent­scheid DE 1963

Hei­di Brühl singt. Don­ners­tag, 28. Febru­ar 1963, aus dem Gro­ßen Sen­de­saal des Hes­si­schen Rund­funks, Frank­furt am Main. Eine Teil­neh­me­rin, kei­ne Mode­ra­ti­on. Publi­kums­ent­scheid per Postkarte.
#Inter­pre­tinSong­ti­tel%PlatzCharts
01Hei­di BrühlDie blaue Stunde0604-
02Hei­di BrühlDas klei­ne Lied0505-
03Hei­di BrühlZum gro­ßen Glück0703-
04Hei­di BrühlMar­cel660136
05Hei­di BrühlEin schö­ner Tag170236

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1 Comment

  • Wußt ich doch, das mich USFD an etwas erin­nert, auch im Jahr nach einer erfolg­rei­chen VE-Show ‘USFO’ wird die­ses Kon­zept zu Guns­ten einer Per­so­na­li­ty-Show ein­kas­siert. Ein biß­chen ähn­lich. Übri­gens, auch hier ein pri­ma Rückblick!

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