San-Remo-Fes­ti­val 1964: Gib mir noch Zeit

Wel­che her­aus­ra­gen­de Bedeu­tung das San-Remo-Fes­ti­val zu sei­ner Blü­te­zeit weit über die Gren­zen Ita­li­ens hin­aus hat­te, ver­mag man sich heut­zu­ta­ge kaum noch vor­zu­stel­len. Eine leich­te Ahnung davon ver­mit­telt der Blick auf die Inter­pre­ten­lis­te des als Grand-Prix-Vor­ent­scheid genutz­ten Wett­be­werbs im Jah­re 1964. Da kam die aus­füh­ren­de Sen­de­an­stalt Rai näm­lich auf die gran­dio­se Idee, die Zweit­ver­sio­nen der in den bei­den Semi­fi­na­len vor­ge­stell­ten 24 Lie­der von inter­na­tio­na­len Künstler:innen sin­gen zu las­sen, um den Duft der gro­ßen wei­ten Welt in die ohne­hin schon gla­mou­rö­se Ver­an­stal­tung zu holen. Und das Ver­rück­te: die ein­ge­la­de­nen Gäs­te kamen auch! So unter­nahm bei­spiels­wei­se neben der Ita­lie­ne­rin Mil­va die Fran­zö­sin und spä­te­re Euro­vi­si­ons­sie­ge­rin Fri­da Boc­ca­ra eine musi­ka­lisch beschwing­te Rei­se in der ‘Letz­ten Stra­ßen­bahn nach Mit­ter­nacht’; zusätz­lich zum hei­mi­schen “König des Swing”, Nico­la Ari­glia­no mach­te sich der deut­sche Rock’n’Roller Peter Kraus auf den Marsch der ’20 Kilo­me­ter nach Mor­gen’; dabei ‘Schritt für Schritt’ beglei­tet von der neben ihrer Hei­mat auch im deutsch­spra­chi­gen Raum als Schla­ger­sän­ge­rin erfolg­rei­chen US-Ame­ri­ka­ne­rin Peg­gy March. Die Bra­si­lia­ne­rin Mari­na Moran (‘Lady Bos­sa Nova’) steu­er­te die Pro­mi-Ver­si­on des herr­lich pit­to­res­ken Tou­ris­mus-Wer­be­schla­gers ‘Sole, Piz­za, Amo­re’ bei, der schon im Titel alles ver­ein­te, was man sich von einem Ita­li­en-Urlaub erträum­te. Lus­tig: mit­ten im Song ist auf ein­mal das Wort “Kai­ser­stra­ße” zu hören, damals der Pro­sti­tu­ti­ons-Hot­spot in mei­ner Hei­mat­stadt Frank­furt am Main.

Nein, fra­gen Sie mich bit­te nicht, war­um da vier schick geklei­de­te Gra­zi­en mit Pip­pi-Lang­strumpf-Zöp­fen umher­hüp­fen, wäh­ren Nico­la Ari­glia­no sich ver­lo­ren in der Ecke ste­hend die See­le aus dem Leib ras­pelt. Ich versteh’s auch nicht.

Es ein­te alle die­se Stars (und ihre hei­mi­schen Coun­ter­parts), dass es für sie nicht für das Fina­le am Sams­tag reich­te, denn ihre Titel schie­den bereits in der Vor­run­de aus. Und zwar gemein­sam mit den meis­ten der ein­ge­reich­ten Bal­la­den, denn die Rai hat­te außer­dem in einem wei­te­ren Anfall von Moder­ni­tät fest­ge­legt, dass die stimm­be­rech­tig­ten regio­na­len Jurys nun­mehr zur Hälf­te aus jun­gen Men­schen (sprich: unter 25jährigen) bestehen soll­ten, wohl um die Stim­me der plat­ten­kau­fen­den Jugend bes­ser abbil­den zu kön­nen. Und die­se bevor­zug­te nun mal flot­te­re Lie­der wie ‘Sta­se­ra no, no, no’ des Mai­län­ders Remo Ger­ma­ni (bür­ger­lich: Remo Spe­ro­ni), einem von zahl­rei­chen Bei­spie­len für das Phä­no­men, dass die inter­na­tio­na­len Star­gäs­te die Titel meis­tens deut­lich schwung­vol­ler inter­pre­tier­ten als die hei­mi­schen Sänger:innen. In die­sem Fall war es das ita­lie­nisch­stäm­mi­ge, US-ame­ri­ka­ni­sche Geschwis­ter-Duo Nino Tem­po und April Ste­vens (Anto­nio und Carol Lo Tiem­po), das dem Song durch ein sich über­schla­gen­des Jodeln und kes­se Tanz­ein­la­gen zusätz­li­che Wür­ze ver­lieh. A pro­pos Wür­ze: April hauch­te einst den von ihrem Bru­der geschrie­be­nen und von vie­len Men­schen fälsch­li­cher­wei­se Mari­lyn Mon­roe zuge­ord­ne­ten 1959er Hit ‘Teach me Tiger’ der­ma­ßen ver­füh­re­risch-sinn­lich ins Mikro, dass sie mit einem Radio­boy­kott bestraft wurde.

Shake dat Ass: Nino geizt nicht mit sei­nen Reizen.

Lag es bei den an den Nia­ga­ra-Fäl­len auf­ge­wach­se­nen Geschwis­tern auf­grund ihrer fami­liä­ren Wur­zeln natür­lich nahe, dass sie den Titel wie Ger­ma­ni auf ita­lie­nisch san­gen, so erstaunt es um so mehr, dass die meis­ten ande­ren inter­na­tio­na­len Star­gäs­te die­sem Bei­spiel folg­ten, sei es aus Respekt vor den Gast­ge­bern oder weil sich ihre Plat­ten­fir­ma auf die­se Wei­se die Erschlie­ßung zusätz­li­cher Märk­te erhoff­te. Das galt selbst für einen Welt­star wie Paul Anka, bekannt durch sei­nen im zar­ten Alter von 15 Len­zen selbst geschrie­be­nen Hit ‘Dia­na’ aus dem Jah­re 1957, das zu den meist­ver­kauf­ten Lie­dern aller Zei­ten zählt und glo­bal mehr als zehn Mil­lio­nen mal (!) über die Laden­ti­sche ging. Der in Kana­da gebo­re­ne Schnul­zier mit liba­ne­si­schen Wur­zeln, der spä­ter die US-ame­ri­ka­ni­sche Staats­bür­ger­schaft annahm, gehör­te mit sei­ner Fas­sung des San-Remo-Titels ‘Ogni Vol­ta’ (‘Wann auch immer’) zu einem der weni­gen aus­län­di­schen Inter­pre­ten, denen es gelang, von ihrer Ver­si­on in Ita­li­en mehr Plat­ten abzu­set­zen als der hei­mi­sche Sän­ger, der wenig bekann­te Roby Ferran­te. Der mit bür­ger­li­chem Namen als Robert von Nea­pel iro­ni­scher­wei­se in Rom gebo­re­ne Roby, wel­cher den Titel auch schrieb, starb tra­gi­scher­wei­se nur zwei Jah­re spä­ter im Alter von 23 Jah­ren bei einem Verkehrsunfall.

Selbst in der Stu­dio­fas­sung dringt gele­gent­lich der ame­ri­ka­ni­sche Akzent ein klei­nes biss­chen durch: Paul Anka pflügt sich durch sei­nen San-Remo-Song.

Ankas Teil­nah­me und kom­mer­zi­el­ler Erfolg erbos­te Medi­en­be­rich­ten zufol­ge den San-Remo-Dau­er­sie­ger Dome­ni­co Modug­no, der bei dem Ame­ri­ka­ner gerüch­te­hal­ber 1959 mit der Bit­te um ein per­sön­li­ches Dar­le­hen abge­blitzt sei und der sich nun, noch immer zutiefst belei­digt, wei­ger­te, mit ihm auch nur ein ein­zi­ges Wort zu wech­seln. Modug­no gebär­de­te sich im Umfeld die­ses San-Remo-Fes­ti­vals über­haupt als gekränk­te Diva, wei­ger­te sich, Auto­gram­me zu geben und diss­te das Sie­ger­lied die­ses Wett­be­werbs öffent­lich. Sein unter die­sen Umstän­den köst­lich iro­nisch beti­tel­ter, natür­lich eigen­kom­po­nier­ter Bei­trag ‘Che me ne impor­ta… a me’ (‘Das ist mir egal’), ein melo­diö­ser Tan­go, bekam den unter dem bür­ger­li­chen Namen Fran­ces­co Pao­lo LoVec­chio als Sohn ita­lie­ni­scher Ein­wan­de­rer in Chi­ca­go gebo­re­nen Fran­kie Lai­ne als Zweit­sän­ger zuge­teilt. Den kennt man hier­zu­lan­de unter ande­rem für die Titel­me­lo­die ‘Do not for­sa­ke me’ aus dem Wes­tern ‘High Noon’. Im Ver­ei­nig­ten König­reich blo­ckier­te er 1953 mit dem reli­giö­sen Song ‘I belie­ve’ gan­ze 18 Wochen lang die Num­mer Eins und brach­te im Ver­lauf des Jah­res ins­ge­samt sie­ben Titel in den Charts unter. 1964, zum Zeit­punkt sei­nes San-Remo-Auf­tritts, war sei­ne seit Mit­te der Vier­zi­ger­jah­re bestehen­de Musik­kar­rie­re auch zu Hau­se in den USA gera­de am Abklin­gen, wobei Lai­ne bis an sein Lebens­en­de im Jah­re 2007 wei­ter Plat­ten ver­öf­fent­lich­te und auftrat.

Der gute Wil­le zählt: der komö­di­an­tisch begab­te Fran­kie Lai­ne muss den Text sei­nes Bei­trags vom Blatt able­sen und sorgt dabei für Hei­ter­keit im Publikum.

Der zwei­te inter­na­tio­na­le Künst­ler, der wie Paul Anka das Kunst­werk schaff­te, den hei­mi­schen Inter­pre­ten kom­mer­zi­ell zu über­trump­fen, war der US-Ame­ri­ka­ner Gene Pit­ney, zu Hau­se und im Ver­ei­nig­ten König­reich das gan­ze Jahr­zehnt hin­durch erfolg­reich als Sän­ger sowie als Kom­po­nist. So schrieb Pit­ney für Ricky Nel­son den Hit ‘Hel­lo, Mary Lou’, just im Jahr sei­nes ers­ten San-Remo-Auf­tritts geco­vert von Adria­no Celen­ta­no, der dem Wett­be­werb aus Pro­test gegen die Zulas­sung inter­na­tio­na­ler Künstler:innen aller­dings fern­blieb. Pit­ney lie­fer­te dort mit ‘Quan­do vedrai la mia Ragaz­za’ (‘Wenn du mei­ne Freun­din siehst’) eben­falls eine deut­lich pep­pi­ge­re Ver­si­on ab als der mitt­ler­wei­le etwas rund­lich gewor­de­ne Litt­le Tony und schaff­te es im Gegen­satz zu die­sem auf Rang 2 der Ver­kaufs­charts. Pit­ney, der anschlie­ßend eige­ne TV-Shows im ita­lie­ni­schen Fern­se­hen bekam, kehr­te noch drei Mal in Fol­ge nach San Remo zurück und ehe­lich­te dort sogar sei­ne Frau. In Deutsch­land wie­der­um igno­rier­te man ihn lei­der zu sei­nen Hoch­zei­ten. 1988 aller­dings schaff­te es sein größ­ter Hit, das fan­tas­ti­sche Herz­schmerz­dra­ma ‘Town wit­hout Pity’, auf den Sound­track des abso­lut genia­len John-Water-Films ‘Hair­spray’, und im Jahr dar­auf nahm der bri­ti­sche Künst­ler Marc Almond mit ihm zusam­men Pit­neys zwei­und­zwan­zig Jah­re alten Titel ‘Something’s got­ten hold of my Heart’ neu auf. Im Duett lan­de­ten sie damit auf Platz 1 der deut­schen Charts, eine spä­te Wie­der­gut­ma­chung. Pit­ney starb im Jah­re 2006 nach einem Auf­tritt im bri­ti­schen Car­diff in sei­nem Hotelzimmer.

Das ein oder ande­re “Hey” ist immer okay: Gene Pit­ney bei der Publikumsanimation.

Ein ähn­li­ches Schick­sal erlitt auch der US-ame­ri­ka­ni­sche Soul­star Ben E. King (gebür­tig Ben­ja­min Earl Nel­son), des­sen größ­ter Hit ‘Stand by me’ aus dem Jah­re 1961 im deutsch­spra­chi­gen Raum erst 1987 Beach­tung fand, nach sei­ner Ver­wen­dung als Titel­mu­sik in dem gleich­na­mi­gen Kino­film mit dem jun­gen River Phoe­nix in einer der Haupt­rol­len. Was die ban­ge Fra­ge auf­wirft, wie ekla­tant geschmacks­be­hin­dert die Ger­ma­nen in den Sech­zi­ger­jah­ren tat­säch­lich waren, sich so eine Per­le ent­ge­hen zu las­sen. Der ehe­ma­li­ge Lead­sän­ger der R&B‑Band The Drift­ers ver­wei­ger­te sich beim San-Remo-Fes­ti­val als einer der weni­gen inter­na­tio­na­len Star­gäs­te der Lan­des­spra­che. Aus dem von Tony Dall­ara prä­sen­tier­ten ‘Come potrei dimen­ti­car­ti’ (‘Wie könn­te ich dich ver­ges­sen’) wur­de in Kings Über­set­zung ‘Around the Cor­ner’, wo in den streng seg­re­gier­ten Groß­städ­ten der USA bekannt­lich schon ein neu­es Vier­tel mit einer völ­lig ande­ren eth­ni­schen und sozio­kul­tu­rel­len Zusam­men­set­zung lie­gen kann. Fol­ge­rich­tig erzähl­te sein Lied von einer ver­bo­te­nen Lie­be, wozu er zwar hin­rei­ßend die Lip­pen ver­zog, jedoch gesang­lich ziem­lich vom Orches­ter erschla­gen wur­de. Ob es dar­an lag, das King beim Aus­füh­ren von Tanz­be­we­gun­gen wäh­rend der musi­ka­li­schen Brü­cke mit dem Diri­gen­ten zusam­men­rem­pel­te? Einen nen­nens­wer­ten Ver­kaufs­er­folg konn­te jeden­falls kei­ne der bei­den Ver­sio­nen für sich verbuchen.

Wenn mich nicht alles täuscht, der ers­te schwar­ze Sän­ger bei einem Grand-Prix-Vor­ent­scheid: Ben E. King beim San-Remo-Festival.

Den erziel­te unter­des­sen der jun­ge Römer Rober­to Sat­ti, ein – wie man sowohl sehen als auch hören konn­te – sehr gro­ßer Fan von Elvis Pres­ley, den er als Bob­by Solo so direkt wie mög­lich zu kopie­ren such­te. Der Künst­ler­na­me soll der Legen­de nach ent­stan­den sein, nach­dem Rober­tos Vater, ein Luft­waf­fen­of­fi­zier, sein Veto dage­gen ein­leg­te, dass der ehren­wer­te Name Sat­ti durch dia­bo­li­schen Rock’n’Roll in den Schmutz gezo­gen wer­de. Rober­tos Mana­ger schlug dar­auf hin vor, ein­fach nur den angli­fi­zier­ten Vor­na­men zu ver­wen­den: “Bob­by, solo Bob­by”. Die Sekre­tä­rin notier­te… Jeden­falls kam Solo super an und galt mit dem schnul­zi­gen ‘Una Lacri­ma sul Viso’ (‘Eine Trä­ne im Gesicht’) vor­ab als gro­ßer Favo­rit auf den San-Remo-Sieg. Doch dann erwisch­te ihn – angeb­lich – aus­ge­rech­net am Final­abend eine fie­se Rachen­ent­zün­dung. Bob­bys Plat­ten­fir­ma nahm ihn aus der Wer­tung, deal­te mit den Ver­an­stal­tern jedoch aus, dass ihr Schütz­ling den­noch auf­tre­ten und sei­nen Titel zur bes­ten Sen­de­zeit als Voll­play­back prä­sen­tie­ren durf­te. Was der Musik­in­dus­trie bekannt­lich ohne­hin am liebs­ten ist, weil es dann logi­scher­wei­se exakt so klingt wie von der Plat­te, die man im Anschluss ver­kau­fen will. Das gelang: mit dem Nim­bus des ver­hin­der­ten “mora­li­schen Sie­gers” im Rücken ging die Num­mer mit zwei Mil­lio­nen abge­setz­ter Sin­gles steil und erklomm die Spit­ze der ita­lie­ni­schen Charts. Von dort aus führ­te sein Erfolgs­weg auch ins euro­päi­sche Aus­land: selbst in Deutsch­land folg­te in den nächs­ten Jah­ren Hit auf Hit, alle­samt Schmacht­schla­ger mit dem Wort “Trä­ne” im Titel.

Wofür so eine klei­ne Unpäss­lich­keit doch alles gut sein kann: Bob­by Solo und der Gre­at Rock’n’Roll Swindle.

Wie bereits im Vor­jahr hielt man beim ligu­ri­schen Lie­der­wett­be­werb im Sin­ne der För­de­rung jun­ger Talen­te erneut zwei Start­plät­ze frei für die Sieger:innen des Cas­tro­co­ra-Fes­ti­vals vom vor­an­ge­gan­ge­nen Herbst. Dabei han­del­te es sich zum einen um den erst 18jährigen Römer und vor­ma­li­gen päpst­li­chen Chor­kna­ben Bru­no Filip­pi­ni, der mit jugend­lich-hei­se­rer Stim­me und vor Auf­re­gung glän­zen­den Äug­lein eine hek­ti­sche Upt­em­po­num­mer über den mys­ti­schen ‘Saba­to Sera’, den ‘Sams­tag­abend’, vor­kräch­zen durf­te und mit einem fünf­ten Platz in den ita­lie­ni­schen Charts den größ­ten Hit sei­ner ver­gleichs­wei­se kur­zen Musik­kar­rie­re lan­de­te. Gar zwei zar­te Len­ze weni­ger zähl­te die zwei­te Cas­tro­ca­ra-Gewin­ne­rin, die aus einer gut­be­tuch­ten vero­ne­si­schen Adels­fa­mi­lie stam­men­de und deut­lich nach­hal­ti­ger erfolg­rei­che Giglio­la Cin­quet­ti. Die Kunst­stu­den­tin (laut ita­lie­ni­scher Wiki­pe­dia mit Lehr­amts­be­fä­hi­gung) leg­te in Sachen Musik­wett­be­wer­be einen ech­ten Rake­ten­start hin: nach dem Nach­wuchs­fes­ti­val in der Emi­lia-Roma­gna gewann sie mit der hauch­zar­ten Keusch­heits­bal­la­de ‘Non ho l’e­tà (per amar­ti)’ (‘Nicht alt genug [dich zu lie­ben]’) nun auch das San-Remo-Fes­ti­val und im Anschluss den Euro­vi­si­on Song Con­test in Kopen­ha­gen.

Die­se Kom­bi­na­ti­on aus unschul­dig ver­klär­tem Blick und ver­bo­ten gutem Aus­se­hen mach­te Bru­no Fil­li­pi­ni garan­tiert schon zu sei­ner Zeit im Vati­kan zu einem der belieb­tes­ten Chor­kna­ben (plus Play­list mit allen Final­ti­teln in bei­den Versionen).

Es pass­te aber auch ein­fach alles zusam­men, denn wer hät­te die­ses unver­gess­li­che Lied über die von der “Amo­re roman­ti­co” bedroh­te Unschuld bes­ser ver­kör­pern kön­nen als die erst sech­zehn­jäh­ri­ge Giglio­la, die bis heu­te jüngs­te San-Remo-Gewin­ne­rin? Das abso­lut zart und zer­brech­lich wir­ken­de Geschöpf hauch­te mit scham­haft gesenk­tem Köpf­chen und unschul­di­gen Bam­bi-Augen ihre fle­hent­li­che Bit­te um Ent­jung­fe­rungs-Auf­schub ins Mikro­fon, was im streng katho­li­schen Ita­li­en natür­lich auf begeis­ter­te Zustim­mung stieß. Wobei es einen doch ein wenig gru­selt, wenn man sich den Text mal etwas genau­er zu Gemü­te führt. Denn in der zwei­ten Stro­phe singt sie: “Non avrei nulla da dir­ti / Per­ché tu sai mol­te piú cose di me”, also sinn­ge­mäß: “Ich könn­te dir gar nichts ent­geg­nen / Denn du weißt so viel mehr als ich”. Was sich eigent­lich nur so aus­le­gen lässt, dass ihr Ange­be­te­ter deut­lich gebil­de­ter bezie­hungs­wei­se erfah­re­ner sein muss als sie. Mit ande­ren Wor­ten: um eini­ges älter. Ein Leh­rer? Der Pfar­rer? Ihr Mana­ger? Um eine Roman­ze auf Augen­hö­he scheint es sich auf jeden Fall nicht zu han­deln. Was Giglio­las ein­dring­li­ches Behar­ren auf Jung­fräu­lich­keit in einem ande­ren Licht erschei­nen lässt, eher als eine ver­zwei­fel­te Abwehr denn eine selbst­be­stimm­te Ent­schei­dung, so wie beim deut­schen Neun­zi­ger­jah­re-Update ‘Gib mir noch Zeit’ der Sän­ge­rin Jas­min Wag­ner ali­as Blümchen.

Ging es in dem Lied um ihn? Die Cin­quet­ti mit Gior­gio Gaber, dem Kom­po­nis­ten ihres Cas­tro­ca­ra-Sie­ger­songs ‘Le Stra­de di Notte’.

Beim Haupt­wett­be­werb in Kopen­ha­gen ver­moch­te die Cin­quet­ti bekannt­lich einen Erd­rutsch­sieg davon­zu­tra­gen, mit fast drei Mal so vie­len Jury­stim­men wie der Zweit­plat­zier­te. Wie sich das beim San-Remo-Fes­ti­val gestal­te­te, bleibt indes ver­lo­ren in den Nebeln von Nor­we­gen, um die Kol­le­gen von ESC Kom­pakt zu zitie­ren. Denn bei allen Neue­run­gen die­ses Vor­ent­schei­dungs­jahr­gangs leg­te man in Sachen Ergeb­nis­er­mitt­lung einen schar­fen Zeit­sprung zurück nach 1956 hin und gab nur die Sie­ge­rin bekannt, alle ande­ren Finalist:innen kamen geschlos­sen auf Rang 2 (bezie­hungs­wei­se den letz­ten Platz, in die­sem Fall das Glei­che). Dem Erfolg von ‘No ho l’e­tà’ tat dies kei­nen Abbruch: die Sin­gle ver­kauf­te sich im Anschluss euro­pa­weit ins­ge­samt vier Mil­lio­nen Mal und knack­te nicht nur die deut­schen Top 3, son­dern auch die für nicht-eng­lisch­spra­chi­ge Titel sonst her­me­tisch ver­schlos­se­nen bri­ti­schen Charts. Die Cin­quet­ti kehr­te in den Fol­ge­jah­ren regel­mä­ßig zum San-Remo-Fes­ti­val zurück, das sie 1966 (gemein­sam mit ihrem dies­jäh­ri­gen Wider­sa­cher Dome­ni­co Modug­no) noch­mals gewann. Einen wei­te­ren Num­mer-Eins-Hit hat­te sie 1973 im Hei­mat­land mit den fan­tas­ti­schen, hier­zu­lan­de schänd­li­cher­wei­se über­se­he­nen ‘Alle Por­ta del Sole’, einem Lied, an dem ich mich nie­mals satt hören kann. 1974 ver­trat sie das Land erneut beim Euro­vi­si­on Song Con­test, wo sie mit dem nicht min­der fan­tas­ti­schen ‘Sí’ den zwei­ten Platz beleg­te, und 1991 mode­rier­te sie die in Rom gas­tie­ren­de, aus­ge­spro­chen denk­wür­di­ge Show gemein­sam mit Toto Cutug­no. Das nen­ne ich Einsatz!

Ech­ter Euro­vi­si­ons-Adel: die fan­tas­ti­sche Giglio­la Cin­quet­ti mit ihrem magi­schen Musikstück.

Vor­ent­scheid IT 1964

Fes­ti­val del­la Can­zo­ne ita­lia­na di San­re­mo. Sams­tag, 1. Febru­ar 1964, aus dem Casinò Muni­ci­pa­le in San Remo. 16 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Mike Bon­gior­no und Gulia­na Lojodice.
Heimische:r Interpret:inInternationale:r Interpret:inSong­ti­telStim­menPlatzCharts
Giglio­la CinquettiPatri­cia CarliNon ho l’e­tà (per amarti)2.235.1470101 | –
Bru­no FilippiniFra­ter­ni­ty BrothersSaba­to seran.b.n.b.05 | –
Dome­ni­co ModugnoFran­kie LaineChe me ne impor­ta… a men.b.n.b.08 | –
Fabri­zio FerrettiFra­ter­ni­ty BrothersLa pri­ma che incontron.b.n.b.09 | –
Gino Pao­liAnto­nio PrietoIeri ho incont­ra­to mia Madren.b.n.b.– | 13
Litt­le TonyGene Pit­neyQuan­do vedrai la mia Ragazzan.b.n.b.06 | 02
Pino Don­ag­gioFran­kie AvalonMotivo d’A­mo­ren.b.n.b.12 | –
Remo Ger­ma­niNino Tem­po + April StevensSta­se­ra no, no, non.b.n.b.05 | –
Rober­ti­no LoretiBob­by RydellUn Bacio picolissmon.b.n.b.06 | –
Roby Ferran­tePaul AnkaOgni vol­tan.b.n.b.– | 02
Tony Dall­araBen E. KingCome potrei dimenticartin.b.n.b.– | –

Letz­te Über­ar­bei­tung: 14.06.2020

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3 Comments

  • Es han­delt sich bei “‘Sole, Piz­za, Amore’in der Tat um einen Wer­be­spot für das son­ni­ge Ita­li­en. Also sol­len ihre diver­sen Lieb­ha­ber Joe, Dolf aus Lon­don, resp. Düs­sel­dorf, Frank­furt und gar vom Broad­way sich schnells­tens auf den Weg zu ihr in die Son­ne machen sollen.
    Fran­kie Laine’s Auf­tritt mit Spick­zet­tel ist übri­gens gran­di­os, als Schau­spie­ler hat­te er offen­sicht­lich auch Kaba­rett im Repertoire.

  • @Tanja: sowohl Wiki­pe­dia als auch die Sei­te hitparade.ch wei­sen “Auf der Stra­ße der Son­ne” kei­ne Charts­plat­zie­rung in Deutsch­land zu, außer als B‑Seite der Sin­gle “Ja”, der deut­schen Fas­sung ihres ESC-Bei­trags “Si”. Es fällt mir auch schwer zu glau­ben, aber es scheint so zu sein.

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