Ein Lied für Göte­borg 1985: Sie läu­ten auch zur letz­ten Stunde

Wind, DE 1985
Die Bekiff­ten

Ein beson­de­rer Zwei­kampf spiel­te sich ab bei der deut­schen Grand-Prix-Vor­ent­schei­dung des Jah­res 1985; einer, der das gan­ze unfass­ba­re Elend der Ver­an­stal­tung vor­treff­lich illus­triert. Der Kampf der Gigant:innen lau­te­te näm­lich Ralph Sie­gel ver­sus Han­ne Hal­ler. Der Grand-Prix-Jun­kie und die gefühls­sehn­süch­ti­ge Schrank­les­be tra­ten als Komponist:innen und Produzent:innen jeweils mit gleich zwei (Sie­gel) bzw. sogar drei (Hal­ler) Acts an, die alle­samt nicht weni­ger reprä­sen­ta­tiv für die deut­sche Musik­sze­ne hät­ten sein kön­nen. Zum Ver­gleich: die kom­mer­zi­ell erfolg­reichs­te Sin­gle aus deut­scher Pro­duk­ti­on hieß ‘You’­re my Heart, you’­re my Soul’, best­ver­kauf­tes deutsch­spra­chi­ges Lied war ‘Rock me, Ama­de­us’ von Fal­co. Sol­che Kali­ber such­te man beim Lied für Göte­borg ver­ge­bens. Auf Sei­ten der antre­ten­den Interpret:innen fehl­ten bekann­te Namen voll­stän­dig. Mit Aus­nah­me des Schla­ger­fos­sils Bernd Clü­ver, des­sen Darm-‘Wind von Paler­mo’ schlicht­weg stank. Zudem muss­te sich ‘Der klei­ne Prinz’ beim Live-Auf­tritt die Show von sei­nem Drum­mer steh­len las­sen, wel­cher der­ma­ßen auf­ge­zo­gen agier­te, als sei der Geist von The Ani­mal aus der Mup­pet-Show in ihn gefah­ren. Was umso lus­ti­ger wirk­te, da er selbst so bie­der aus­sah wie ein Post­be­am­ter in Frei­zeit­kluft. Schön, dass so wenigs­tens Einer die Zeit sei­nes Lebens hatte.

Beim Vor­ent­scheid 1985 griff der BR the­ma­tisch die nament­li­che Nähe des Grand Prix Euro­vi­si­on zum Auto­rennen auf. Pas­send, denn musi­ka­lisch folg­te ein Car­crash auf den nächs­ten (kom­plet­te Show).

Sie­gel konn­te nur völ­li­ge Nobo­dys auf­bie­ten, so wie die nach Eigen­aus­sa­ge “wie die Jung­frau zum Kind” gekom­me­ne, 2016 im Alter von nur 42 Jah­ren früh ver­stor­be­ne Caro Puk­ke, die im “Gon­zo”-Out­fit (Eigen­zi­tat, tat­säch­lich sah sie in ihrer schwar­zen Kunst­le­der­kluft ein biss­chen aus wie C.C.Catch, der man das Haar­spray gestoh­len hat­te) den rund­weg arm­se­li­gen Öko­schla­ger ‘Grün, grün, grün’ mas­sa­krier­te und die ihren Auf­tritt im Nach­hin­ein selbst als “schreck­li­che Jugend­sün­de” bezeich­ne­te. Ganz offen­sicht­lich mied mitt­ler­wei­le ein:e jede:r in gera­de­zu pani­scher Angst den Grand Prix, der als Komponist:in oder Künstler:in noch einen Rest an Repu­ta­ti­on besaß. Um den Umstand, dass es sich um eine rei­ne Ama­teur­ver­an­stal­tung han­del­te, zu bemän­teln, enga­gier­te die ARD zwölf ehe­ma­li­ge Grand-Prix-Teilnehmer:innen (dar­un­ter die in einem haut­far­be­nen Kleid wie eine leben­de Lei­che aus­se­hen­de Nico­le) als pro­mi­nen­te “Paten”, die ihre Lau­da­tio größ­ten­teils sto­ckend vom Blatt abla­sen. Was immer­hin für den amü­san­ten Ver­spre­cher “Kom­po­nist: Ralph Sie­ger” durch Siw Malmkvist sorg­te und deut­lich unter­halt­sa­mer war als das auf Roll­schu­hen durch das Deut­sche Thea­ter sau­sen­de, den­noch unglaub­lich stei­fe Mode­ra­to­ren­paar Mar­git Geiss­ler und Wolf­gang Mascher.

Selbst die Radio­vor­run­den hat­te man 1985 von den übli­chen 24 auf 20 Titel gekürzt, weil man die Hörer:innen wohl nicht über die Maßen quä­len woll­te (Play­list mit ver­füg­ba­ren Audioversionen).

Den nur vier Jah­re spä­ter ver­stor­be­nen Mascher hat­te der vom BR im ver­geb­li­chen Bemü­hen um eine etwas moder­ne­re Anmu­tung der Show als Regis­seur beauf­trag­te Micha­el Pfleg­har aus sei­ner kurz­le­bi­gen TV-Kla­mauk­rei­he ‘Die Gim­micks / Zwei himm­li­sche Töch­ter’ mit­ge­bracht, einem Able­ger von ‘Klim­bim’, in wel­cher Ingrid Stee­ger und Iris Ber­ben die Lüf­te unsi­cher mach­ten. Auch die Geiss­ler weilt nicht mehr unter uns: die ehe­ma­li­ge Sexkla­mot­ten­dar­stel­le­rin (‘Zum Gast­hof der sprit­zi­gen Mäd­chen’) und spä­te­re Puff­be­trei­be­rin fiel 2016 dem Lun­gen­krebs zum Opfer. Einen Song im Ren­nen hat­te das les­bi­sche Musi­ke­rin­nen­paar Cor­ne­lia von dem Bot­t­len­berg und Swet­la­na Min­kow, die in den Vor­jah­ren unter dem Band­na­men Cora mit den fra­gi­len Lie­bes­lie­dern ‘Istan­bul’ (einem mei­ner All-Time-Favo­ri­tes) und ‘Ams­ter­dam’ das deut­sche Pop­ge­sche­hen um zwei wun­der­schön melan­cho­li­sche Stü­cke berei­chert hat­ten, wenn­gleich ihnen ledig­lich mit ‘Ams­ter­dam’ ein klei­ne­rer Hit in Frank­reich (#22) gelang. Für ein Les­ben­paar als Inter­pre­tin­nen war der BR aber zu homo­phob, und so muss­ten sie ihren Titel ‘Du bist da’ dem mit deutsch­spra­chi­gen Cover­ver­sio­nen von Italo­schla­gern Anfang der Acht­zi­ger kurz­zei­tig erfolg­rei­chen Hete­n­duo Con­ny & Jean (wer?) anver­trau­en, wel­ches das (ohne­hin wenig mit­rei­ßen­de) Lied gesang­lich voll gegen die Wand fuhr.

Atze Schrö­der, bist Du das? Con­ny und Jean Metz (plus Play­list mit den ver­füg­ba­ren Video­clips bzw. Audioversionen).

Ihre ‘Sehn­sucht nach einem Gefühl’ (offen­sicht­lich dem der quä­len­den Lan­ge­wei­le) ver­nu­schel­te im Auf­trag von Han­ne Hal­ler die eine Zeit­lang noch im Bereich des volks­tüm­li­chen Schla­gers akti­ve, seit 2010 aber vom Markt ver­schwun­de­ne Sie­ben­bür­ge­rin Sus­an Schu­bert, die uns 1992 noch ein­mal begeg­nen soll­te. Der heu­te als Maler täti­ge Wolf­gang Bau­er, der 2006 sei­nen Bache­lor in den Stu­di­en­gän­gen Gen­der Stu­dies und Fine Arts an der UCLA in Los Ange­les mach­te, arbei­te­te sich hier unter dem Künst­ler­na­men Wolff Ger­hard durch den erkennt­nis­frei­en Schlicht­schla­ger ‘Also lebe ich’. Die immense Erleich­te­rung, als die drei Minu­ten end­lich durch­ge­stan­den waren, ließ sich dem offen schwu­len Öster­rei­cher im Gesicht able­sen. Uns ging es da ganz ähn­lich! Der Kom­po­nist Tony Hen­drik, der mit der im Fahr­was­ser von Modern Tal­king mit­schwim­men­den Euro­dance-Retor­ten­for­ma­ti­on Bad Boys Blue (‘You’­re a Woman’) in die­sem Som­mer die Charts auf­mi­schen soll­te, schrieb für die­se Ver­an­stal­tung mit dem pom­pö­sen ‘König & Dame’ eine trie­fen­de Welt­frie­dens-Kitsch­schla­ger­bal­la­de, von einer völ­lig über­agie­ren­den Sil­via (wer?) und einem Dudel­sack­spie­ler (!) in den Abgrund agiert.

Sehr deut­lich am plas­tik­haf­ten Pseu­do­pomp von ‘Jen­seits von Eden’ ori­en­tiert: ‘Also kle­be ich’ von Wolff Gerhard.

Sil­via sang eben­so ziel­si­cher an allen Hit­pa­ra­den vor­bei wie ihr Kon­kur­rent Gün­ther Stern (wer?), des­sen ‘Hier, da und über­all’ genau­so belie­big und belang­los vor sich hin­plät­scher­te, wie der Titel es sug­ge­riert. Ralph Sie­gel schick­te neben der Puk­ke mit Hei­ke Schä­fer und ihren ‘Glo­cken von Rom’ eine jun­ge Sän­ge­rin, die zwar höher krei­schen konn­te als die von Céli­ne Dion mit einem Mes­ser bedroh­te Mariah Carey und die in Sachen auf­ge­tuff­ter Elnett-Löwen­mäh­ne kaum hin­ter der größ­ten Haar­ar­tis­tin die­ser Deka­de, C.C. Catch, zurück­stand. Die aber den­noch eine der­ar­tig schlim­me Pro­vinz­spie­ßig­keit aus­strahl­te, wie sie ihr “Künst­le­rin­nen­na­me” nicht tref­fen­der hät­te zum Aus­druck brin­gen kön­nen. Ihr über­ra­schen­der­wei­se nicht von Cic­cio­li­nas poli­ti­schen Waf­fen, son­dern vom Kir­chen­ge­läut in der ita­lie­ni­schen Metro­po­le han­deln­des Lied erwies sich als die mit Abstand bom­bas­tischs­te, kleb­rig-kit­schigs­te und pathe­tischs­te Welt­frie­dens­hym­ne (“Und jeder Ton ist ganz ver­schie­den, doch alle schla­gen für den Frie­den”), die das Team Sie­gel & Mei­nun­ger jemals kom­po­nier­te. Plan­ten die bei­den, sich mit der Num­mer für die Hei­lig­spre­chung durch den Papst zu bewerben?

Ein Gesichts­aus­druck, als wäre der Hei­li­ge Geist gera­de in sie ein­ge­fah­ren: Hei­ke Schäfer.

Erstaun­li­cher­wei­se aber konn­te Han­ne Hal­lers Retor­ten­com­bo Wind mit ihrem sup­pi­gen Schla­ger­lein ‘Für alle’ die sich auf­grund ihrer Füh­rung im Zwi­schen­er­geb­nis aus­ge­spro­chen sie­ges­ge­wiss wäh­nen­de Frau Schä­fer bei der fina­len Stim­men­aus­zäh­lung mit hauch­dün­nem Vor­sprung von der Büh­ne wehen. Han­nes Titel­ver­spre­chen ent­pupp­te sich als glat­te Lüge, denn der Song woll­te gar nicht “Für alle” sein, son­dern nur für die, “die den Regen­bo­gen auch im Dun­keln sehn”, also unter Dro­gen ste­hen. Die man auch drin­gend brauch­te, um das win­di­ge Traum­ge­säu­sel zu über­le­ben. Letzt­lich mach­te es kaum einen Unter­schied: das Lied klang wie eines aus der Sie­gel-Kol­lek­ti­on und der (spä­ter aus­ge­tausch­te) Wind-Front­mann Rai­ner Högl­mei­er sang der­ge­stalt mäd­chen­haft hoch, dass er es fast mit Hei­ke Schä­fer auf­neh­men konn­te. Weni­ger Rouge als sie trug er auch nicht. Lan­ge Zeit glaub­te ich fest, Högl­mei­er mime ledig­lich zum Play­back und die Stim­me sei in Wahr­heit die sei­ner Pro­du­zen­tin. Die auch zugab, dass ihr der Song erst einen Tag vor Abga­be­schluss ein­ge­fal­len sei und sie ihn in Win­des­ei­le (daher der Band­na­me?) im Stu­dio ein­spie­len musste.

Schau mir in die Augen, Klei­ner: Wind.

Vor lau­ter Hek­tik ver­lor die zwei­te Lead­sän­ge­rin Petra Scheeser auch noch einen ihrer bei­den Hand­schu­he: es war zum Wei­nen, und Hal­ler tat das auch, vor Rüh­rung und Glück, dass ihr lau­es Lüft­chen es geschafft hat­te. Aller­dings: ein Erfolgs­ti­tel kam dabei her­aus – zwei­ter Platz in Göte­borg, Rang 18 in den Charts und sogar #22 in der schwe­di­schen Hit­pa­ra­de! Die Grup­pe soll­te in der Fol­ge in ste­tig wech­seln­den Beset­zun­gen, dar­un­ter zeit­wei­lig mit dem Mil­li-Vanil­li-Mimen Rob Pila­tus, noch mehr­fach an deut­schen Vor­ent­schei­dun­gen teil­neh­men und gar wei­te­re zwei Mal am Euro­vi­si­on Song Con­test, dann iro­ni­scher­wei­se mit Kom­po­si­tio­nen von Ralph Sie­gel. Sie kön­nen somit gewis­ser­ma­ßen als die Quint­essenz des euro­vi­sio­nä­ren deut­schen Schla­ger­schaf­fens in den Acht­zi­gern gelten.

Wer Abba nach­macht oder ver­fälscht oder ver­fälsch­tes oder nach­ge­mach­tes Abba sich ver­schafft und in Umlauf bringt, soll mit Wind nicht unter drei Alben bestraft wer­den (Reper­toire­bei­spiel).

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1985

Ein Lied für Göte­burg. Sams­tag, 21. März 1985, aus dem Deut­schen Thea­ter in Mün­chen. 12 Teil­neh­mer, Mode­ra­ti­on: Mar­git Geiss­ler und Wolf­gang Mascher. Demo­sko­pi­sche Befragung.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tePlatzCharts
01Jür­gen RenfordtAm Anfang der Zeit307309-
02Sus­an SchubertSehn­sucht nach einem Gefühl299410-
03Con­ny & JeanDu bist da298211-
04Wolff Ger­hardAlso lebe ich357203-
05WindFür alle36180118
06Hei­ke SchäferDie Glo­cken von Rom35970225
07MoMoSolan­ge wir träu­men, leben wir297112-
08Sil­viaKönig und Dame311308-
09Gün­ter SternHier, da und überall329106-
10Dan­ny FischerKin­der der Erde322007-
11Caro Puk­keGrün, grün, grün353504-
12Bernd Clü­verDer Wind von Palermo342405-

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 24.04.2023

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Ein Lied für Ber­gen 1986 >

1 Comment

  • Uff. Damals hab ich ja tat­säch­lich noch VEs geschaut. War­um eigent­lich? Das hier war Pein, Pein, Pein, und ja, man hat es damals tat­säch­lich geschafft, den bes­ten Song raus­zu­pi­cken. Nicht aus­zu­den­ken, wenn die im Vor­feld so hoch­ge­jazz­te (war­um?? War­um???) Hei­ke Schä­fer das Ticket nach Göte­borg gelöst hät­te… Grau­sam. Über den Rest brei­ten wir mal den Man­tel des Schwei­gens, vor allem über die Mode­ra­ti­on. Die wür­de ich nor­ma­ler­wei­se schmä­hen, aber die bei­den Ant­ago­nis­ten sind ja mitt­ler­wei­le bei­de tot, also las­sen wir das lieber.

    Wei­ter­hin erwäh­nens­wert: Wie dem Gitar­ris­ten von Momo im Schnell­durch­lauf beim Ver­beu­gen die Gitar­re auf den Boden don­nert (im Video bei 1:12:15). Bei Wind ist im Schnell­durch­lauf einer zu wenig im bzw neben dem Sul­ky. Und heißt Dan­ny Fischer mit bür­ger­li­chem Namen hin­ten­rum Rum­me­nig­ge? Aber der bes­te, bes­te, bes­te Moment der gesam­ten Show: Als am Schluss Hei­ke Schä­fers Ergeb­nis gesagt wird und klar ist, dass sie nicht gewon­nen hat. Ralph Sie­gels Gesicht in dem Moment: Unbezahlbar!

    Eigent­lich muss man es nicht gese­hen haben – doch, muss man. Es gab da näm­lich was Beson­de­res, näm­lich den Pau­sen­act! Dass die Paten alle bis­her dage­we­se­nen Bei­trä­ge ans­an­gen: Groß­ar­tig. Das gan­ze wur­de zwar von holp­ri­gen Ansa­gen per­fo­riert, aber geschenkt. Auf­fäl­lig übri­gens, dass die Damen Myh­re, Malmkvist und Valai­tis dabei den Rest ziem­lich alt aus­se­hen lie­ßen. Sowas hät­te ich gern mal wie­der – in Skan­di­na­vi­en gehts doch auch!

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