Ein Lied für Ber­gen 1986: Die Wahl der Qual

Ingrid Peters, DE 1986
Die Mager­süch­ti­ge

Sie begann schon gleich mit einer Pan­ne, die vom Baye­ri­schen Rund­funk leicht anrü­chig als “End­aus­schei­dung” apo­stro­phier­te Grand-Prix-Vor­auswahl im Jah­re 1986: gera­de groov­ten sich die deut­schen Vor­jah­res­ver­tre­ter Wind auf der Büh­ne des Deut­schen Thea­ters zu Mün­chen zum Voll­play­back von ‘Für alle’ ein, da klemm­te bereits nach weni­gen Sekun­den das Band. Auf den hoch­not­pein­li­chen Moment folg­te hilf­los-nerv­tö­ten­des Mode­ra­ti­ons­ge­stam­mel von einer absurd auf­tou­pier­ten Dame mit dem sehr spre­chen­den Namen Sabri­na Lal­lin­ger. Ihrer deut­lich pro­mi­nen­te­ren Komo­de­ra­to­rin kam die Auf­ga­be zuteil, die zwölf Lie­der anzu­sa­gen und dabei der­ma­ßen grau­en­haf­te Lime­ricks stol­pernd vom Blatt abzu­le­sen, dass man sich die Ein­füh­rung der Scha­ria in Deutsch­land her­bei­sehn­te, um die hier­für ver­ant­wort­li­chen BR-Redak­teu­re mit Stock­schlä­gen bestra­fen zu dür­fen. Nicht jedoch die Able­se­rin, die abso­lut char­man­te nor­we­gi­sche Schla­ger­kö­ni­gin und eins­ti­ge deut­sche ESC-Reprä­sen­tan­tin Wen­cke Myh­re, die den Abend zwi­schen­drin mit einem freud’schen Ver­spre­cher per­fekt zusam­men­fass­te: “Nur noch zwei Lie­der, dann hat die Jury die Wahl der Qual”!

Schon im zwei­ten Jahr nach Ein­füh­rung von Pri­vat­sen­dern sank auch bei den Öffent­lich-Recht­li­chen das Niveau: wer hat­te um Got­tes Wil­len bloß die Lal­lin­ger ins Fern­se­hen gelassen?

Gleich vier (!) die­ser Qua­len steu­er­te der, wie es der Zufall so will, eben­falls in Mün­chen ansäs­si­ge Kom­po­nist Ralph Sie­gel bei. ‘Tele­fon’, von einer bunt zusam­men­ge­wür­fel­ten Trup­pe mit dem so lako­ni­schen wie irre­füh­ren­den Namen That’s Life unter Mit­wir­kung von Gabrie­le Thys­sen (wie der Name mut­ma­ßen lässt, ein Teil der deut­schen Stahl­dy­nas­tie) per­for­ma­to­risch kom­plett in den Sand gesetzt, hat­te unser Ralph schnö­de bei sei­nem ver­stor­be­nen Vater und des­sen gleich­na­mi­gem 1957er Grand-Prix-Lied (dar­ge­bo­ten sei­ner­zeit von Mar­got Hiel­scher) abge­kup­fert, ergänzt noch um ein schrei­en­ma­chen­des “Din­ge lin­ge”. Nekro­lo­gi­schen Pla­gia­ris­mus nennt man das, und man muss als Kom­po­nist schon ziem­lich her­un­ter­ge­kom­men sein, um so eine boden­lo­se Lei­chen­fled­de­rei ein­zu­rei­chen. A pro­pos Lei­chen­fled­de­rei: auch die mitt­ler­wei­le arg ange­gam­mel­ten Res­te von Dschinghis Khan, hier in größ­ten­teils neu­er Zusam­men­set­zung und mit dem Anhäng­sel Fami­ly ver­se­hen, reani­mier­te Sie­gel nach dem Mot­to ‘Wir gehörn zusam­men’. Das Publi­kum teil­te die­se Ansicht nur bedingt, viel­leicht weil sich Hen­ri­et­te Hei­chel gera­de von ihrem nun bei That’s Life mit­ma­chen­den Exmann Wolf­gang getrennt hat­te und damit sowohl den Song­ti­tel als auch den neu­en Namen der Sie­gel-Retor­ten­ka­pel­le Lügen straf­te: zwei­ter Platz.

Respekt: Bernd Mei­nun­ger ver­bau­te für die Dschinghis Khan Fami­ly sämt­li­che nur denk­ba­ren Text­kli­schees aus 30 Jah­ren gesam­mel­ter Grand-Prix-Geschich­te in nur einem ein­zi­gen Schla­ger! (Plus Play­list mit den sie­ben ver­füg­ba­ren Clips zum Durchskippen.)

Dem res­sour­cen­scho­nen­den Alt­lie­der-Recy­cling fühl­te sich Onkel Ralph übri­gens zeit­le­bens ver­pflich­tet: 2006 ver­wer­te­te er wei­te Tei­le von ‘Wir gehörn zusam­men’ für sein schwei­ze­ri­sches Euro­vi­si­ons­pro­jekt Six4One und mach­te dar­aus ‘If we all give a lit­te’, von generv­ten Euro­vi­si­ons­fans in ‘If we all hit Ralph Sie­gel’ umge­tex­tet. Beim 1986er Vor­ent­scheid goss Sie­gel indes sei­nen 1980er Euro­vi­si­ons­bei­trag ‘Thea­ter’ noch­mals auf und lie­fer­te mit Hil­fe von sechs namen­lo­sen, aus dem ver­ständ­li­chen Wunsch nach Zeu­gen­schutz bis zur Unkennt­lich­keit geschmink­ten Gestal­ten einen wei­te­ren Grund dafür, ‘Clowns’ zu has­sen. Die gran­dio­se Joy Fle­ming muss­te, anders sei­ner­zeit beim Song Con­test zu Stock­holm, dies­mal nicht mit einem schlim­men Wurst­pel­lenk­leid und einem obsti­na­ten Orches­ter kämp­fen. Dafür jedoch mit einem lei­der sehr bana­len, mit den glei­chen aus­ge­lutsch­ten Text­kli­schees wie ‘Wir gehörn zusam­men’ auf­war­ten­den Schla­ger­chen namens ‘Mit­ein­an­der’ und einem kom­plett über­flüs­si­gen Duett­part­ner namens Marc Ber­ry, sei­nes Zei­chens Öster­rei­cher und ehe­dem Mit­glied der Grand-Prix-Retor­ten­ka­pel­le Blue Danu­be. Sowie mit einer Chor­sän­ge­rin, die nach der Rückung um meh­re­re Okta­ven zu hoch krisch, so als habe ihr gera­de jemand ihre Quer­flö­te rek­tal ein­ge­führt. Wor­auf­hin vor den bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Bild­schir­men das rest­li­che Lied in Lach­sal­ven unterging.

Bei 3:28 Min.: was ist nur in Joys Backing­s­än­ge­rin gefahren?

Den Trash-Höhe­punkt der Show mar­kier­te indes ein ver­mut­lich als sehr spä­te NDW-Par­odie gedach­ter Schla­ger mit dem revi­sio­nis­ti­schen Titel ‘Rein und klar, wie’s frü­her war’, dar­ge­bo­ten von einem als metal­lic­grü­nes Ali­en ver­klei­de­ten Men­schen mit dem spre­chen­den Namen Mis­ter Fis­to. Nun ja, eine Faust im Arsch tut im Ver­gleich zu die­ser Num­mer deut­lich weni­ger weh. Für den Fis­ter zeich­ne­te ein Kom­po­nist ver­ant­wort­lich, der eben­so wie Sie­gel die deut­schen Vor­ent­schei­dun­gen die­ser dunk­len Deka­de mit musi­ka­li­scher Aus­schuss­wa­re nur so über­schwemm­te: Gün­ther-Eric Thö­ner. 1973 schrieb er den halb­hym­nen­haf­ten ‘Jun­gen Tag’ für die gro­ße Git­te Hæn­ning, danach ver­ließ ihn die Muse. Mitt­ler­wei­le hat­te er schon Schwie­rig­kei­ten, über­haupt noch jeman­den zu fin­den, der für sei­ne Musik­gur­ken das Gesicht hin­hal­ten woll­te. So muss­te er sei­nen nicht min­der mise­ra­blen Schla­ger ‘Du bist der Wind, der mei­ne Flü­gel trägt’ (ein The­ma, das die fan­tas­ti­sche Bet­te Mid­ler zwei Jah­re spä­ter sehr, sehr viel bes­ser umset­zen soll­te) selbst sin­gen. Der mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit auch unter dem Mis­ter-Fis­to-Mofa­helm ste­cken­de Thö­ner hin­ter­ließ der hei­mi­schen Kul­tur­his­to­rie den­noch etwas, wie das Memo­ry­Ra­dio recher­chier­te: er lieh dem Wer­be­klas­si­ker ‘Wenn der Tee­kes­sel singt’, der schänd­li­chen kom­mer­zi­el­len Ein­deut­schung des Cat-Ste­vens-Klas­si­kers ‘Father and Son’, sei­ne Stimme!

Mehr Trash geht nicht: Mis­ter Fisto.

Ernst zu neh­men­de Produzent:innen und Künstler:innen mie­den die Euro­vi­si­on mitt­ler­wei­le so sehr, dass tat­säch­lich schon Hinz und Kunz ans Mikro durf­ten. So wie eben Stef­fi Hinz mit dem Maso­chis­mus-Schla­ger ‘Ich habe nie­mals nie gesagt’ (hät­te sie’s doch bloß mal getan!) und die vom BR wohl als Preis­ein­stiegs­al­ter­na­ti­ve von Nicki gebuch­te Mar­git Kunz Petrasch­ka mit dem selbst geschrie­be­nen (und vom ehe­ma­li­gen Teil­neh­mer Lenz Hau­ser pro­du­zier­ten) Fehl­zün­der ‘Der Son­ne ent­ge­gen’. Ja, bit­te, ganz schnell, auf dass Du ver­glü­hen mögest! Es war zum Stei­ner­wei­chen. Kein Wun­der, dass der mit “mar­me­la­di­gem Pathos” (Jan Fed­der­sen) daher­kom­men­de, hym­nen­brä­si­ge Welt­frie­dens­schla­ger ‘Über die Brü­cke gehn’ der saar­län­di­schen Schla­ge­ret­te Ingrid Peters sieg­te: bei aller musi­ka­li­schen Alt­mo­disch­keit erwies er sich, wie übri­gens auch weni­ge Wochen spä­ter im nor­we­gi­schen Ber­gen beim Haupt­wett­be­werb, in einem depri­mie­ren­den Umfeld von viert­klas­si­gen Ver­zweif­lungs­lied­lein als ein­zi­ger wenigs­tens annä­hernd pro­fes­sio­nel­ler Bei­trag des Abends. Und blieb dem­entspre­chend auch der ein­zi­ge, von dem ein paar Sin­gles an den Mann gebracht wer­den konn­ten: die gra­zi­le frü­he­re Sport­leh­re­rin fei­er­te damit ihren letz­ten Chart-Hit.

So lang­sam spür’ i, wie mich der Hafer sticht”, singt Mar­git P. Ich tip­pe ja eher auf einen Sonnenstich.

The­ma­tisch folg­te der brü­cken­schla­gen­de Text dem von Joy Fle­ming bereits 1975 vor­ge­tram­pel­ten Pfad der Völ­ker­ver­bin­dung durch die Kraft der Musik und bemüh­te damit gewis­ser­ma­ßen den Grund­ge­dan­ken des Euro­vi­si­on Song Con­test. Lei­der fällt es schwer, ange­sichts sol­cher nai­ven Welt­ver­bes­se­rungs­phan­ta­sien wie “Gute Gedan­ken / schmel­zen das Eis in den Her­zen / unse­rer Welt” nicht in Zynis­mus zu ver­fal­len: ach, wenn es denn bloß so ein­fach wäre! Dann bräuch­te man Pegi­da-Demos und die Par­tei­ta­ge von AfD und CSU nur mit Peters’ Song in End­los­schlei­fe zu beschal­len; Angst und Hass wür­den aus den Her­zen und Hir­nen wei­chen; noch der fie­ses­te Neo-Nazi wür­de auf­hö­ren, Flücht­lings­un­ter­künf­te anzu­zün­den und statt­des­sen “über die Brü­cke gehn / ande­re Men­schen ver­stehn”. Wie herr­lich! Einen wun­der­ba­ren und ver­söhn­li­chen Schluss­punkt unter die Ver­an­stal­tung setz­te das zer­lau­fen­de Mas­ca­ra auf dem Gesicht der Saar­brü­cker Schla­ger­sän­ge­rin, als sie nach ihrer Sie­ges­ak­kla­ma­ti­on den spon­ta­nen Fluss der Freu­den­trä­nen nicht mehr stop­pen konn­te. Sowie das beherz­te Ein­grei­fen von Kol­le­gin Wen­cke, die sie noch auf der Büh­ne behut­sam wie­der tro­cken tupf­te, so dass Ingrid die Sie­ger­re­pri­se prä­sen­ta­bel überstand.

Nein, Angst hat sie nicht, die fan­tas­ti­sche Ingrid Peters, auch nicht vor Schulterpolstern.

Inso­fern hat­te sich der Abend am Ende ja doch noch gelohnt. Und das soll­te ihn in erheb­li­chem Maße von den Vor­ent­schei­den der nächs­ten Jah­re unter­schei­den, über die ich am liebs­ten den Man­tel des Schwei­gens aus­brei­ten möch­te, wenn mich nicht die Chro­nis­ten­pflicht dazu zwän­ge, die Trau­ma­ta noch­mals zu durch­le­ben. Was ich nicht alles für Sie tue, lie­be Lese­rin­nen und Leser!

Stand: 21.06.2020

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1986

Ein Lied für Ber­gen. Sams­tag, 27. März 1986, aus dem Deut­schen Thea­ter in Mün­chen. 12 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Sabri­na Lal­lin­ger und Wen­cke Myh­re. Demo­sko­pi­sche Umfrage.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tePlatzCharts
01That’s LifeTele­fon201112-
02Gün­ther-Eric ThönerDu bist der Wind, der mei­ne Flü­gel trägt289309-
03Dschinghis Khan FamilyWir gehörn zusammen408802-
04Ingrid PetersÜber die Brü­cke gehn42360145
05ClownsClowns359706-
06Stef­fi HinzIch habe nie­mals nie gesagt276910-
07Mis­ter FistoRein und klar, wie’s frü­her war210211-
08Head­lineEuro­pa387105-
09Mar­git P.Der Son­ne entgegen292308-
10Chris Heart + BandDie Engel sind auch nicht mehr das, was sie warn402703-
11Fle­ming & BerryMit­ein­an­der398904-
12Tie BreakKopf oder Zahl311807-

< Ein Lied für Göte­borg 1985

Ein Lied für Brüs­sel 1987 >

3 Comments

  • Rich­tig mie­ser, unter­ir­di­scher Vor­ent­scheid. Abso­lu­ter Tief­punkt unter vie­len Tief­punk­ten: die bedau­erns­wer­te Stef­fi Hinz, die ihren gru­se­li­gen Sado­ma­so-Wal­zer (“Du bist der ein­zi­ge Mann der mich zu neh­men ver­steht” “seit dei­ne Hand mei­ne Rich­tung bestimmt”) schein­bar sel­ber so hirn­ris­sig und grot­tig fin­det, dass ihr gegen Ende, als die Cho­se mit einem schie­fen Back­ground­chor so rich­tig den Bach run­ter­geht, ein pein­li­che berühr­ter Ele­fan­ten­seuf­zer ent­fleucht (3:57 im You­tube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=yVgrx8pjQcs ). Arme Frau!

  • Uaaaaaah! Grau­en in Tüten. Wen­cke war natür­lich ado­ra­bel, Ingrid Peters eben­so, ver­dien­te Sie­ge­rin. Den­noch, für einen der Songs muss ich mal eine Lan­ze bre­chen, näm­lich für “Euro­pa” von Head­line. Der hat­te was und hät­te auch gern gewin­nen und mit ent­spre­chen­der Per­for­mance auch in Ber­gen was rei­ßen kön­nen. Aber da haben wir das Pro­blem: Die Per­for­mance war, obwohl Head­line damals weiß Gott kein unbe­schrie­be­nes Blatt waren, der­art unpro­fes­sio­nell und pein­lich, dass man das nicht nach Ber­gen schick­te. Scha­de um einen an sich guten Song, aber alles in allem: Schwein gehabt!

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