Ein Lied für Lau­sanne 1989: So hoch geflogen

Nino de Angelo, DE 1989
Der Über­flie­ger

Nach dem Vor­jah­res­fi­as­ko mit ran­zi­ger Sie­gel-Schla­ger­wa­re ging der Baye­ri­sche Rund­funk im Jah­re 1989 end­lich einen muti­gen Schritt zur Auf­fri­schung der deut­schen Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dung. Zum einen ver­pflich­te­te er als Mode­ra­tor Hape Ker­ke­ling, der im Ver­bund mit den mehr oder min­der pro­mi­nen­ten Pat:innen der (nur noch) zehn Bei­trä­ge einen fla­chen Kalau­er nach dem ande­ren ablie­fer­te, dies jedoch mit sehr viel jugend­li­chem Charme. Bloß die ras­sis­ti­schen Aus­rut­scher rund um den Song­pa­ten Rober­to Blan­co hät­te es nicht gebraucht. Zum ande­ren, und viel ent­schei­den­der noch, nahm der BR Abstand vom offe­nen Bei­trags­ein­sen­de­ver­fah­ren und bat statt­des­sen die zehn kom­mer­zi­ell erfolg­reichs­ten deut­schen Musik­schaf­fen­den des Vor­jah­res, jeweils einen Song mög­lichst aus eige­ner Feder oder Pro­duk­ti­on bei­zu­steu­ern. Unter die­sen von der Publi­kums­gunst Belohn­ten befand sich Ralph Sie­gel zwar nicht. Er durf­te aber anstel­le von Deutsch­lands berüch­tigts­ter Dis­co­fox­trott-Drag­queen Fan­cy (‘Fla­mes of Love’) kom­po­nie­ren, der wie etli­che ande­re der Ange­schrie­be­nen kei­ne Lust hat­te, sei­ne künst­le­ri­sche Glaub­wür­dig­keit für den übel beleu­mun­de­ten Grand Prix aufs Spiel zu set­zen und sei­nen Start­platz ver­mut­lich meist­bie­tend wei­ter­ver­stei­ger­te. Über die Höhe des Autoren­ab­stands ist nichts bekannt, gelohnt hat sich die Inves­ti­ti­on für den Mün­che­ner jedoch nicht.

Wenn der Pau­sen­act als Höhe­punkt her­hal­ten muss: der Vor­ent­scheid 1989.

Sie­gel schick­te die spä­ter als Seri­en­schau­spie­le­rin (Unter uns, Kli­ni­kum Ber­lin Mit­te) und Play­boy-Model ledig­lich einem ein­ge­weih­ten Kreis bekann­te Dor­kas Kie­fer. Die Frau mit der mar­kant hohen Stirn und dem panisch-star­ren Blick eines Rehs im Schein­wer­fer­ke­gel soll­te jedoch erst ein hal­bes Jahr­zehnt spä­ter als das “Do” in MeKa­Do zu ihrem Euro­vi­si­ons­auf­tritt kom­men. Denn mit dem ange­sichts des fri­schen Grand-Prix-Win­des durch­aus spre­chen­den (und berech­tig­ten) Titel ‘Ich hab Angst’ zog Sie­gel gegen­über Die­ter Boh­len den deut­lich Kür­ze­ren. Der ersann mit dem ‘Flie­ger’ einen druck­vol­len und moder­nen Koka­in­ver­herr­li­chungs­schla­ger (“Du und ich, wir sind so hoch geflo­gen”) und beauf­trag­te den als Dome­ni­co Gor­go­gli­o­ne in Karls­ru­he gebo­re­nen Nino de Ange­lo, der ohne­hin gera­de in sei­nem Tötens­e­n­er Ton­stu­dio her­um­lun­ger­te, wo sich der ehe­ma­li­ge Jen­seits-von-Eden-Star mitt­ler­wei­le als Chor­sän­ger bei Modern-Tal­king-Pro­duk­tio­nen ver­din­gen muss­te, mit der pep­pi­gen Mid­tem­po­num­mer. Der leicht über­per­for­ma­ti­ve Auf­tritt des attrak­ti­ven Italo­deut­schen, der spä­ter erzähl­te, einst von Dra­fi Deut­scher die ers­te Line aus­ge­ge­ben bekom­men zu haben, erhär­te­te zwar mei­nen Ver­dacht über die eigent­li­che Aus­sa­ge des Boh­len-Bei­trags, dies fiel aber man­gels Kon­kur­renz nicht wei­ter ins Gewicht.

Als er noch ein Flie­ger war: Nino de Angelo.

Denn auch wenn der BR mit dem Ver­zicht auf das völ­lig anti­quier­te Orches­ter und dem Ein­satz des kos­ten­spa­ren­den Halb­play­backs für einen wei­te­ren Moder­ni­täts­schub sorg­te, trat die ange­streb­te Trend­wen­de weg vom erbärm­li­chen Schla­ger und hin zu inter­na­tio­nal kon­kur­renz­fä­hi­gem, aktu­el­lem Pop auf­grund des Wei­ter­be­stehens der Spra­chen­re­gel nicht im erhoff­ten Aus­ma­ße ein. Wie auch: selbst bei uns war Deutsch als Gesangs­spra­che so unbe­liebt wie nie; unter den 50 meist­ver­kauf­ten Sin­gles des Jah­res 1989 fand sich nicht eine ein­zi­ge (!) mut­ter­sprach­lich into­nier­te. Beim Lied für Lau­sanne bla­mier­te sich unter­des­sen der mit dem Italo-Dis­co-Kra­cher ‘Bal­la… bal­la’ (einem Stars-on-45-ähn­li­chen Stampf­mix der schlimms­ten Son­ne-Strand-und-Lam­brusco-Schla­ger) zu inter­na­tio­na­len Hit­eh­ren gekom­me­ne Fran­ces­co Napo­li, der uns in sei­nem schwach­brüs­ti­gen Kli­scheeschla­ger ‘Viva l’A­mo­re’ weis­zu­ma­chen such­te, er wol­le sin­gen wie “Caru­so”, sich dabei aber gebär­de­te wie Monts­er­rat Cabal­lé. Er konn­te sich genau so wenig durch­set­zen wie das Schla­ger­stern­chen Andre­as Mar­tin Krau­se, der mit ‘Herz an Herz’, einem vom mitt­ler­wei­le ohren­schein­lich im deut­schen Schla­ger zwin­gend vor­ge­schrie­be­nen, stump­fen Dis­co­fox­beat unpas­send unter­leg­ten Welt­frie­dens­lied­lein, wenigs­tens noch einen Platz in den unte­ren Chart­re­gio­nen ergatterte.

Boney M. haben ange­ru­fen und wol­len ihre Hook­li­ne zurück: Xanadu.

Im Gegen­satz zu Jörg Sie­ber. Der hat­te im Vor­jahr unter dem Band­na­men Domi­noe sei­nen ein­zi­gen Hit mit dem Poprock­lied­chen ‘Here I am’, das sei­ne Bekannt­heit vor allem dem pene­tran­ten Ein­satz als Wer­be­me­lo­die für einen fran­zö­si­schen Auto­mo­bil­her­stel­ler ver­dank­te. Die Vor­ent­schei­dungs­büh­ne nutz­te der Ulmer, der bereits als Teen­ager sei­ne Mut­ter ver­lor, nun vor allem, um nach eige­nen Wor­ten “mei­nen Vater stolz zu machen”, der immer von ihm gefor­dert habe, auch mal einen Song auf Deutsch zu schrei­ben. Das dürf­te der Papa an die­sem Abend bit­ter bereut haben. Unter dem neu­en Pro­jekt­na­men Clou behel­lig­te Sie­ber ihn und uns näm­lich mit einer text­lich wie musi­ka­lisch extrem depri­mie­ren­den Kla­vier­bal­la­de mit dem Titel ‘Heut Nacht sind sie allein’, die ein erschre­ckend düs­te­res Sze­na­rio über Alters­ein­sam­keit ent­warf. Genau so sehr als Dro­hung konn­te man das hoff­nungs­los chao­ti­sche, unaus­ge­go­re­ne Stück ‘Ich such Dich’ von Susan­ne Eder ali­as ZouZ­ou begrei­fen, das weder über eine erkenn­ba­re Struk­tur noch über eine erkenn­ba­re Hook­li­ne ver­füg­te. Eder, die sich heu­te Susan­na Reed nennt und in Coun­try macht, soll­te spä­ter mal eine Zeit­lang bei Texas Light­ning sin­gen, bevor man sie durch Jane Comer­ford ersetzte.

Dro­hung oder Hil­fe­ruf? Bei Sie­ber hat­te man kei­nen Clou, was er eigent­lich von uns wollte.

Ein Blick auf die Punk­te­ta­bel­le, die erst­mals nicht durch “reprä­sen­ta­tiv aus­ge­wähl­te” Infratest-Proband:innen zustan­de kam, son­dern durch direkt anru­fen­de Zuschauer:innen, zeig­te in aller Klar­heit: beim Publi­kum kam an die­sem Abend nur ein ein­zi­ger Titel wirk­lich an. Näm­lich der auch den Charts abhe­ben­de ‘Flie­ger’. Deut­lich dahin­ter lan­de­te die Dis­co­schla­ger­for­ma­ti­on Xan­a­du, von Bad-Boys-Blue-Mas­ter­mind Tony Hen­drik mit einem geschickt getarn­ten Pla­gi­at des Boney-M-Hits ‘El Lute’ ver­sorgt. Was wie­der­um auf­grund des mei­nun­ge­res­ken Sülz­tex­tes von einem ‘Traum für die­se Welt’ gar nicht wei­ter auf­fiel, weil man als Zuhörer:in so sehr damit beschäf­tigt war, sich vor Kli­scheeschmerz auf dem Boden zu wäl­zen. Die bei­den Front­fi­gu­ren von Xan­a­du soll­ten indes noch Musik­ge­schich­te schrei­ben: Lyane Leigh, die Blon­di­ne in der Jeans­ja­cke, als weib­li­che Stim­me des kom­mer­zi­ell unfass­bar erfolg­rei­chen Kir­mes­tech­noacts E‑Rotic (‘Max don’t have Sex with your Ex’) und David Bran­des, der mit dem Zöpf­chen, als Pro­du­zent eben die­ser Stu­dio-Band sowie von Vanil­la Nin­ja und Gra­cia Baur, die er 2005 mit selbst getä­tig­ten Plat­ten­käu­fen in den deut­schen Vor­ent­scheid manipulierte.

Camou­fla­ges Depe­che-Mode-Pas­ti­che ‘The Gre­at Com­man­de­ment’ ken­ne ich noch als (ver­mut­lich ille­gal ver­wen­de­te) Hin­ter­grund­mu­sik aus einem Video aus dem Bereich der Erwach­se­nen­un­ter­hal­tung. Das hier sind ihre Erben (plus Play­list mit den ver­füg­ba­ren Vorentscheidungstiteln).

Der Anknüp­fungs­punkt des Titels ‘Wun­der­land’ an die Ver­kaufs­charts bestand in Per­son der gleich­zei­tig als Song­pa­tin wie als Chor­sän­ge­rin fun­gie­ren­den Man­dy Win­ter. Die hat­te 1988 einen Hit mit dem in sei­ner zyni­schen Nai­vi­tät und sei­nem fal­schen, trie­fen­den Pathos unfrei­wil­lig lus­ti­gen Anti-Dro­gen-Song ‘Juli­an’, kom­po­niert von Stone & Stone. Die schrie­ben natür­lich auch ‘Wun­der­land’: eine durch & durch schau­der­haf­te Num­mer, ange­sichts des stu­ten­bis­si­gen stimm­li­chen Zwei­kamp­fes zwi­schen der mit ihrer Rol­le als zwei­te Gei­ge erkenn­bar unzu­frie­de­nen Frau Win­ter und der offi­zi­el­len Inter­pre­tin Canan Braun (wer?), die aus Angst, durch die pro­mi­nen­te Patin aus­ge­sto­chen zu wer­den, ange­strengt krei­schend über­mo­du­lier­te, jedoch nicht ohne einen gewis­sen scha­den­freu­di­gen Unter­hal­tungs­wert. Apro­pos Scha­den­freu­de: die Dritt­plat­zier­te Dor­kas, die aus dem Sie­gel-Stall, ver­ein­te in der TED-Abrech­nung nur noch halb so vie­le Stim­men auf sich wie Nino. Ab Rang vier konn­te man von kaum mehr als Mit­leids­zäh­lern spre­chen. Wobei: Mit­leid muss­te man mit die­sen pop­mu­si­ka­li­schen Ver­bre­chen wahr­lich nicht haben. Noch nicht mal mit Caren Faust (wer?), deren extrem spär­li­che Punk­te­aus­beu­te sich auch der Unfä­hig­keit der ARD ver­dank­te, die kor­rek­te Tele­fon­num­mer für die TED-Umfra­ge ein­zu­blen­den. Den pas­sends­ten Kom­men­tar zu der gan­zen Malai­se san­gen die an ers­ter Stel­le star­ten­den Erben: ‘Bit­te nicht noch mal’. Genau!

One-Hit-Won­der und Canan-Braun-Patin Man­dy Win­ter mit ihrem mora­lin­sauren Just-say-no-Schin­ken, den man nur auf Dro­ge über­ste­hen kann (Reper­toire­bei­spiel).

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1989

Ein Lied für Lau­sanne. Sams­tag, 23. März 1989, aus dem Deut­schen Thea­ter in Mün­chen. Zehn Teilnehmer:innen, Mode­ra­ti­on: Hape Ker­ke­ling. Televote.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tePlatzCharts
01Die ErbenBit­te nicht nochmal1.79907-
02Xan­a­duEinen Traum für die­se Welt10.8910275
03ClouHeut Nacht sind sie allein1.15609-
04Dor­kas KieferIch hab Angst7.97303-
05Fran­ces­co NapoliViva l’A­mo­re1.65908-
06ZouZ­ouIch suche Dich1.94106-
07Andre­as MartinHerz an Herz3.8550464
08Canan BraunWun­der­land2.57005-
09Nino de AngeloFlie­ger14.6250113
10Caren FaustDie­se Zeit84110-

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 27.04.2023

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