Ein Lied für Zagreb 1990: Frei zu jaulen

Daniel Kovac, Chris Kempers, DE 1990
Die Wel­pen­haf­ten

Früh­jahr 1990: die Mau­er war gefal­len, der dama­li­ge Kanz­ler Hel­mut Kohl (“Blü­hen­de Land­schaf­ten”) arbei­te­te ziel­stre­big auf die Wie­der­ver­ei­ni­gung hin, bezie­hungs­wei­se auf die zügi­ge Ein­ver­lei­bung der ehe­ma­li­gen DDR als arbeits­lo­sen­geld­fi­nan­zier­ter zusätz­li­cher Absatz­markt für West-Pro­duk­te. Zeit für einen Auf­bruch also, von dem man aber bei der deut­schen Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dung so gut wie nichts spür­te. Zwar gab sich der vom ver­ant­wort­li­chen Baye­ri­schen Rund­funk (BR) erneut als Mode­ra­tor ver­pflich­te­te Hape Ker­ke­ling alle erdenk­li­che Mühe, mit “wit­zi­schen” Gags und sti­cheln­den Kom­men­ta­ren über das ent­täu­schen­de Vor­jah­res­er­geb­nis (“Und die­ses hier, die­ser wei­ße Fleck, ist Öster­reich”) fri­schen Wind in die Show zu brin­gen. Doch erneut schei­ter­te der grund­sätz­lich sehr löb­li­che Ver­such der ARD kläg­lich, durch das Anschrei­ben der zehn kom­mer­zi­ell erfolg­reichs­ten deut­schen Musikproduzent:innen des Vor­jah­res markt­re­le­van­te, aktu­el­le Pop­songs und Acts von der A‑Liste in den Vor­ent­scheid zu hie­ven. Denn die­ser konn­te sich durch die wei­ter­hin bestehen­de Lan­des­spra­chen­pflicht nicht vom Nim­bus des voll­kom­men unzeit­ge­mä­ßen Schla­ger­fried­hofs befrei­en. Zwar fan­den sich 1990 nach län­ge­rer Durst­stre­cke auch wie­der mut­ter­sprach­li­che Lie­der in den Ver­kaufs­charts, doch han­del­te es sich dabei meist um Blö­del­ti­tel wie ‘Ding Dong’ (EAV) oder volks­tü­meln­den Schla­ger­hor­ror wie ‘Her­zi­lein’: Deutsch als die Spra­che dump­fer Deppen.

Nicht nur Bar­ba­ra Schö­ne­ber­ger kann wun­der­schö­ne Ent­schul­di­gungs­lie­der auf die Vor­jah­res­ka­ta­stro­phe sin­gen: lan­ge vor ihr begrün­de­te der fabel­haf­te Hape Ker­ke­ling die­se Tra­di­ti­on beim deut­schen Vor­ent­scheid 1990.

Und so gaben die Umwor­be­nen, um sich nicht die Hän­de schmut­zig zu machen am als unrett­bar alt­mo­disch emp­fun­de­nen Grand Prix, ihre Start­plät­ze an die übli­chen Ver­däch­ti­gen wei­ter. Oder sie schick­ten eige­ne Nach­wuchs­hoff­nun­gen mit halb­ga­ren Schla­ger­chen. Bei den Interpret:innen fand sich nicht ein bekann­ter Name beim Lied für Zagreb, mal abge­se­hen von Jür­gen Drews, der sich bekannt­lich ohne­hin für nichts zu scha­de ist, sowie dem Schau­spiel- und Schla­ger­stern­chen Isa­bel Varell, sei­ner­zeit mit Dra­fi Deut­scher liiert, der ihr die vor ran­zi­gem Schmalz nur so trie­fen­de, frisch aus den Sech­zi­ger­jah­ren impor­tier­te ‘Melo­die d’A­mour’ auf den dral­len Leib kom­po­nier­te. Und hin­ter­her wegen angeb­li­cher TED-Mani­pu­la­tio­nen gegen die ARD klag­te, weil sein Augen­stern – zu Recht – nur Sechs­te wur­de. Der Miss­erfolg färb­te auf die Ehe ab: im Jahr dar­auf ließ sich Varell, deren Kar­rie­re­weg sie 2004 ins RTL-Dschun­gel­camp füh­ren soll­te, von Dra­fi schei­den, der sei­ner Ex dar­auf­hin öffent­lich eine (von ihr frei­lich stets abge­strit­te­ne) les­bi­sche Lia­son mit der RTL-Ansa­ge­rin Bir­git Schro­wan­ge unter­stell­te. Die fun­gier­te bei Ein Lied für Zagreb pikan­ter­wei­se als ihre Song­pa­tin: ein Kniff, mit dem die ARD pro­mi­nen­te Namen in die Sen­dung hol­te, wo schon das Gesangs­per­so­nal nie­man­den hin­ter dem Ofen her­vor­zu­lo­cken vermochte.

Die Play­list mit den ver­füg­ba­ren Bei­trä­gen, teils nur als Audio verfügbar.

Und jetzt: die Werbung

Die Pat:innen wie­der­um nutz­ten die Gele­gen­heit im Plausch mit Hape zur aus­führ­li­chen Eigen­re­kla­me für ihre jeweils aktu­el­len Pro­jek­te, was zu einer zwan­zig­mi­nü­ti­gen Über­zie­hung der Sen­de­zeit führ­te. Drews, der spä­te­re “König von Mal­lor­ca”, zer­sang fah­rig einen von Han­ne Hal­ler bei­gesteu­er­ten, wirk­lich grot­ten­schlech­ten Schla­ger mit der gera­de­zu gip­fel­haft eige­niro­ni­schen Auf­takt­zei­le: “Und ich will mich nie wie­der schä­men”. Soll­test Du aber! Als Zuhörer:in jeden­falls ver­spür­te man das Ver­lan­gen, sich die Bir­ne bis zum ‘Alpen­glühn’ mit Jager­tee zuzu­lö­ten, um den Scheiß ertra­gen zu kön­nen. Der deut­sche Schla­gerkai­ser, der Roland, wirk­te hin­ge­gen nicht als Inter­pret mit, son­dern als Kom­po­nist: sein im top­ak­tu­el­len Stock-Ait­ken-Water­man-Sound­bett gehal­te­nes, in Zusam­men­ar­beit mit dem Dis­co­schla­ger­kö­nig Joa­chim Hei­der (‘Er gehört zu mir’) geschrie­be­nes ‘Wet­ten dass’, bei dem es um den Ein­satz von Sex als schnel­len Eis­bre­cher bei der Bezie­hungs­an­bah­nung ging, war tat­säch­lich der am wenigs­ten schmerz­brin­gen­de Bei­trag des Abends. Aller­dings betrau­ten die Zwei damit die in den Kate­go­rien Stim­me und Aus­strah­lung gering­fü­gig über­for­dert wir­ken­de New­co­me­rin Mara Lau­ri­en, von der man im Anschluss nie wie­der etwas hörte.

It’s never too late… um die­sen Song an sei­ne recht­mä­ßi­ge Besit­ze­rin Kylie Mino­gue zurück­zu­ge­ben: Mara Laurien.

Was viel­leicht auch dar­an gele­gen haben mag, dass Hape Ker­ke­ling, der aus sei­nem Ver­druss am Vor­ent­schei­dungs-Lin­e­up ohne­hin kein all zu gro­ßes Geheim­nis mach­te, sie mit der Fest­stel­lung “es gibt ja lei­der das klei­ne Pro­blem, dass heu­te Abend nicht so vie­le bekann­te Gesich­ter mit­ma­chen” aus­ge­spro­chen unchar­mant anmo­de­rier­te. Lus­tig: der “Pro­du­zen­ten­film” (also die Vor­stel­lungs-MAZ) für das Team um den Frank­fur­ter Werbefilm(!)-Komponisten Mino Sici­lia­no, Schöp­fer der ARD-Olym­pia-Melo­die ‘Go for Gold’, ent­stand in einem sehr guten mexi­ka­ni­schen Restau­rant direkt bei mir um die Ecke. Weni­ger lus­tig: der von Sici­lia­no ver­fass­te Pseu­do-Pope­ra-Schleim­prop­fen ‘Melis­sa’, von einem Divo (wer?) in jede ein­zel­ne Sil­be mas­siv über­be­to­nen­der Pseu­do­te­nor-Aus­spra­che vor­ge­knö­delt. Ansons­ten bevöl­ker­ten so illus­tre Weg­werf-Retor­ten­bands wie Star­light oder Mali­bu die Aus­wahl, die also das Schei­tern bereits im Namen tru­gen. Mit sol­chen bil­dungs­fer­nen Per­len wie ‘Hol­ly­wood ist bes­ser als Latein’ hät­te man sie frag­los bei jedem Spar­kas­sen-Nach­wuchs­för­de­rungs­abend acht­kan­tig raus­ge­wor­fen. Die ARD griff, geschla­gen von purer Ver­zweif­lung, hin­ge­gen zu.

Xan­a­du woll­ten die Tau­ben von Drü­ben anlo­cken (“Flie­ge durch das Dun­kel auf das Licht der Frei­heit zu”). Gelang nicht ganz: Platz 2, wie schon im Vor­jahr.

Unter den Tau­ben ist der Ein­oh­ri­ge bekannt­lich König, und so gewann gewis­ser­ma­ßen kon­kur­renz­los mal wie­der der noto­ri­sche Ralph Sie­gel, der sei­nen Start­platz dies­mal dem Mann­hei­mer Werbefilm(!)-Komponisten Ralf Zang (Vor­jah­res­hit: ‘Schat­ten an der Wand’ von Jule Neigel) abkauf­te ver­dank­te. Der Ph-Ralph wie­der­um beauf­trag­te zwei völ­li­ge No-Names, sein in der Titel­zei­le sehr vage auf die Wie­der­ver­ei­ni­gungs­eu­pho­rie zie­len­des, nichts­des­to­trotz um Him­mels Wil­len bloß nicht poli­tisch miss­zu­ver­ste­hen­des Lied­chen ‘Frei zu leben’ vor­zu­tra­gen. Der ver­mut­lich pas­send zum ESC-Aus­tra­gungs­ort Zagreb aus­ge­such­te Deutsch­slo­we­ne Dani­el Kovac, der den Songauf­takt gleich mal gründ­lich ver­sem­mel­te und im Übri­gen kaum einen Ton rich­tig traf, hat­te sich in den Acht­zi­gern als Video­clip-Ansa­ger beim zwi­schen­zeit­lich längst ein­ge­stell­ten Mün­che­ner Pri­vat­sen­der music­box, dem Vor­läu­fer von Tele 5, durch unsub­stan­ti­ier­tes Cool­ness­ge­ham­pel bereits sehr unan­ge­nehm pro­fi­liert. Sei­ne so debil wie devot drein­bli­cken­de Part­ne­rin Chris Kem­pers (1988 noch Chor­sän­ge­rin bei der Schla­ger­ka­pel­le Ren­dez­vous) hat­te Sie­gel beim einem TV-Auf­tritt als Jen­ni­fer-Rush-Imi­ta­to­rin in der Show Don­ner­lipp­chen ent­deckt. Nach dem ESC folg­te das übli­che Pro­ze­de­re: die umge­hen­de Auf­lö­sung des Duos und das zügi­ge Zurück in die Versenkung.

Lasst uns gemein­sam über alle Gren­zen gehen”: davon träum­ten die tau­sen­den von Fron­tex an den Zäu­nen der Fes­tung Euro­pa aktiv oder pas­siv getö­te­ten Men­schen sicher­lich auch mal.

Neben den pein­li­chen Anwanz­ern K+K gab es tat­säch­lich einen Ver­such, sich mit den aktu­el­len poli­ti­schen Ereig­nis­sen eini­ger­ma­ßen ernst­haft zu befas­sen. Die Grup­pe Kenn­zei­chen D, schon optisch leicht als Bei­tritts­ge­biet­ler aus­zu­ma­chen (gut, die hat­ten ja 40 Jah­re lang nichts, auch kei­nen Fri­su­ren- oder Mode­ge­schmack) sang ‘Wie­der zusam­men’, kam jedoch nur auf den ach­ten Platz. Mani­pu­lier­te, wie man­che ver­mu­te­ten, hier der Baye­ri­sche Rund­funk den TED, um zu ver­hin­dern, dass ein Bei­trag eines poli­tisch unlieb­sa­men Song­schrei­bers wei­ter­kommt? Schließ­lich gehör­te der mitt­ler­wei­le lei­der in die ver­schwö­rungs­gläu­bi­ge Alu­hut-Ecke abge­drif­te­te Kom­po­nist und Tex­ter des Lie­des, Diet­her Dehm, damals zu den pro­mi­nen­ten Lin­ken und schrieb unter ande­rem den deut­schen Text zum Agi­ta­ti­ons­song ‘Auf­stehn’ der bots. Dehm pro­du­zier­te sei­ner­zeit zudem den Kaba­ret­tis­ten und Kohl-Stim­men-Imi­ta­to­ren Ste­phan Wald (‘Hun­ger­ga­la’), der hier sowohl als Pate fun­gier­te als auch live ein paar Kanz­ler-Zita­te bei­steu­er­te. Das kam beim augen­schein­lich ziem­lich kon­ser­va­ti­ven Publi­kum im Deut­schen Thea­ter zu Mün­chen nicht so gut an: Buh­ru­fe aus dem Saal für die halb­par­odis­ti­sche (und musi­ka­lisch eher maue) Rock-Num­mer. Wenn auch nicht ganz so laut wie spä­ter bei der Bekannt­ga­be der Siegel-Sieger.

Der Die­ter-Boh­len-Dop­pel­gän­ger Mat­thi­as Reim, beim Vor­ent­scheid 1988 noch als Kom­po­nist für sei­nen Fri­su­ren­freund Bern­hard Brink am Start, hat­te 1990 mit sei­nem Signa­tur-Song ‘Ver­dammt ich lieb Dich’ (Reper­toire­bei­spiel) die Num­mer 1 der Jah­res­charts. Vom Grand Prix hielt er sich nun aller­dings fern. 

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1990

Ein Lied für Zagreb. Sams­tag, 29. März 1990, aus dem Deut­schen Thea­ter in Mün­chen. Zehn Teilnehmer:innen, Mode­ra­ti­on: Hape Ker­ke­ling. Televoting.
#Inter­pre­tenSong­ti­telAnru­fePlatzCharts
01Isa­bel VarellMelo­die d’Amour03.83706-
02Chris Kem­pers + Dani­el KovacFrei zu leben11.9550151
03Jür­gen DrewsAlpen­glühn01.26709-
04Mara Lau­ri­enWet­ten, dass02.60107-
05Ban­ditAlles, was ich haben will04.06405-
06DivoMelis­sa06.00404-
07Xan­a­duPalo­ma Blue08.53402-
08Kenn­zei­chen DWie­der zusammen02.45408-
09Mali­buEine Nacht voll Zärtlichkeit01.18010-
10Star­lightHol­ly­wood ist bes­ser als Latein06.72303-

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 27.04.2023

< Ein Lied für Lau­sanne 1989

Ein Lied für Rom 1991 >

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert