Deut­scher Vor­ent­scheid 1997: Wie schnell der Wind sich dreht

Bianca Shomburg, DE 1997
Die Unzeit­ge­mä­ße

In klei­nen Schrit­ten, aber mit gro­ßer Beharr­lich­keit, tas­te­te sich Jür­gen Mei­er-Beer, sei­nes Zei­chens Unter­hal­tungs­chef des NDR und seit dem Vor­jahr Deutsch­lands neu­er Euro­vi­si­ons­ver­ant­wort­li­cher, in die rich­ti­ge Rich­tung vor. Zugu­te kam ihm dabei iro­ni­scher­wei­se, dass sei­ne Regent­schaft mit einem Fias­ko begon­nen hat­te, näm­lich der Nicht­zu­las­sung des aus­ge­wähl­ten Bei­trags ‘Der blaue Pla­net’ zum Euro­vi­si­on Song Con­test 1996 durch eine inter­na­tio­na­le Jury. Das hier­durch ver­ur­sach­te Fern­blei­ben eines der wich­tigs­ten Haupt­zah­ler­län­der sorg­te für eine schwer zu schul­tern­de finan­zi­el­le Mehr­be­las­tung der klei­ne­ren Natio­nen und für einen erheb­li­chen Ein­bruch der Ein­schalt­quo­ten. JMB: “Dass Deutsch­land gebraucht wur­de, merk­te ich mir”. In Jan Fed­der­sens Euro­vi­si­ons­bi­bel ‘Ein Lied kann eine Brü­cke sein’ schil­dert er, wie sich bei der maß­geb­lich von ihm betrie­be­nen, längst über­fäl­li­gen Refor­mie­rung des sei­ner­zeit hoff­nungs­los ver­staub­ten Wett­be­werbs den­noch “in kaf­ka­es­ker Wei­se immer neue Euro­vi­si­ons­gre­mi­en” auf­ta­ten, wel­che “haupt­säch­lich aus älte­ren Her­ren” bestan­den, die im Grand Prix die geeig­ne­te Instanz zur Ret­tung ihrer natio­na­len Kul­tur­gü­ter sahen und sich dem deut­schen Fern­seh­ma­cher bei sei­nen Moder­ni­sie­rungs­plä­nen in den Weg stell­ten. Braucht halt alles sei­ne ‘Zeit’.

Schrott nach Acht: die Play­list mit den ver­füg­ba­ren Bei­trä­gen zum Durchskippen.

Immer­hin gelang es dem “Dok­tor­chen” (Jens Rie­wa), neben der Big-Four-Regel zumin­dest optio­nal die Abstim­mung per Tele­vo­ting sowie das Halb­play­back durch­zu­set­zen. Fünf Natio­nen, dar­un­ter unser Nach­bar­land Öster­reich, nah­men dar­auf­hin in Dub­lin von der Ver­wen­dung des Orches­ters und der Jury Abstand. Beim hei­mi­schen Vor­ent­scheid hat­te er die prin­zi­pi­ell rich­ti­ge Idee, die musi­ka­li­sche Bestü­ckung aus den Fän­gen der Kom­po­nis­ten­lob­bys zu befrei­en und sie statt­des­sen den fünf umsatz­stärks­ten Plat­ten­fir­men zu über­las­sen, in der hoff­nungs­vol­len Annah­me, dass die­se ihre bes­ten Acts bei­steu­ern wür­den. Die Musik­ma­jors lie­ßen den Ham­bur­ger jedoch schnö­de im Stich. Was auch damit zu tun hat­te, dass die beschrie­be­nen kaf­ka­es­ken Euro­vi­si­ons­gre­mi­en die von Mei­er-Beer eben­falls ver­folg­te Auf­he­bung des Lan­des­spra­chen­zwangs wei­ter­hin blo­ckier­ten. Dem­entspre­chend zeig­ten die Mul­tis wenig Inter­es­se, ihre natio­na­len Hauptumsatzträger:innen (ver­kaufs­stärks­te deutsch­spra­chi­ge Titel 1997: ‘War­um?’ von Tic Tac Toe, ‘Du liebst mich nicht’ von Sabri­na Set­lur und ‘Engel’ von Ramm­stein) in einer ris­kan­ten Vor­ent­schei­dung zu ver­hei­zen, wo ein hin­te­rer Platz für einen Kar­rie­re­knick sor­gen könn­te. Nur, um sie dann zu einem wei­te­ren Wett­be­werb zu ent­sen­den, der auf­grund die­ser Beschrän­kung kei­ner­lei Chan­ce auf eine inter­na­tio­na­le Ver­mark­tung bot. Also schick­ten sie bloß Nach­wuchs­stern­chen und Ausschussware.

Micha­el Jack­son, NDW-Mar­kus, La-le-lu-Rüh­mann und Libe­r­ace in einem: Leon.

Ein Text­zi­tat aus Leons ‘Pla­net of Blue’, dem im Vor­jahr bei der inter­na­tio­na­len Vor­auswahl auf so skan­da­lö­se Wei­se geschei­ter­ten deut­schen Bei­trag, ver­half der Sen­dung zu ihrem Namen: “Der Count­down läuft”. Leon ging erneut an den Start. Sei­ne Kom­po­nis­tin Han­ne Hal­ler hat­te sich auf der Suche nach Inspi­ra­ti­on bei ihren Streif­zü­gen durch die Archi­ve der Neu­en Deut­schen Wel­le dies­mal nicht bei Peter Schil­ling bedient, son­dern bei Mar­kus und des­sen pos­sier­lich-cam­per, inter­stel­la­rer Lie­bes­bal­la­de ‘Klei­ne Taschen­lam­pe brenn’. Leons viel zu harm­lo­se Neu­be­ar­bei­tung konn­te sich jedoch nicht so recht zwi­schen Zucker­schock und Dance­f­lo­or ent­schei­den, zumal er nicht nur mit dop­pelt so vie­len Hintergrundtänzer:innen antrat wie im Vor­jahr, son­dern selbst dop­pelt so auf­ge­dreht her­um­ham­pel­te. Unge­lenk-semi­syn­chro­ne Schritt­chen führ­ten eben­so die Ver­lieb­ten Jungs vor, eine vom Musik­pro­du­zen­ten Bob Arnz (spä­ter ver­ant­wort­lich für die pop­mu­si­ka­li­schen Schnell­schüs­se der Big-Brot­her-Con­tai­ner­be­woh­ner, dar­un­ter Zlat­ko) zusam­men­ge­cas­te­te Boy­band, deren vier Mit­glie­der zwar nicht mit stimm­li­chem oder tän­ze­ri­schem Talent punk­ten konn­ten, dafür aber mit auf­ge­pump­ten Brust­mus­keln. Lei­der ver­ga­ßen sie, vor dem Auf­tritt die in Nord­deutsch­land ganz­jäh­rig erfor­der­li­chen Regen­män­tel aus­zu­zie­hen, so dass sie sehr schnell ins Schwit­zen kamen.

Bei die­sem Voll­play­back­auf­tritt zeig­te sich die deut­sche Köni­gin des Come­backs etwas frei­zü­gi­ger als bei der Vor­ent­schei­dung: Michelle.

Auch die Sän­ge­rin Vive­ca (wer?), als deren Cla­im to Fame der erneut zum Mode­ra­tor beru­fe­ne tages­schau-Schmier­lap­pen Jens Rie­wa das Ein­sin­gen der Titel­me­lo­die zur RTL-Dai­ly-Soap ‘Gute Zei­ten, schlech­te Zei­ten’ annon­cier­te, ließ sich von vier beein­dru­ckend durch­trai­nier­ten Her­ren tän­ze­risch beglei­ten. Was ihren Bei­trag ‘Komm zurück’ zumin­dest optisch etwas erträg­li­cher mach­te, wenn schon nicht akus­tisch. Manue­la Ahl­richs war mal Mit­glied im Damen-Schla­ger­trio Valerie’s Gar­ten (sic), die zwi­schen 1991 und 1993 eine Hand­voll mitt­le­rer Hits hat­ten. Solo soll­ten ihr kei­ne Erfol­ge mehr gelin­gen. Den Soli­da­ri­täts­zu­schlag in Form des obli­ga­ten Auf­tritts einer in der TV-Abstim­mung voll­kom­men chan­cen­lo­sen ost­deut­schen Künst­le­rin kas­sier­te dies­mal die im Harz gebo­re­ne Chan­son­nie­re und spä­te­re Gesangs­schul­do­zen­tin Anke Lau­ten­bach († 2012). ‘Im Auge des Orkans’ stand eine gewis­se Tan­ja Hewer, Schlagerfreund:innen auch als Michel­le bekannt. Die sowohl in ihrer künst­le­ri­schen Lauf­bahn wie im Pri­va­ten zur gro­ßen Tra­gö­die nei­gen­de, klein­wüch­si­ge Sän­ge­rin mit der mar­kan­ten Pieps­stim­me kam im fest­li­chen Abend­kleid und mit ihrem fie­pend vor­ge­tra­ge­nen Schmacht­fet­zen immer­hin auf den drit­ten Platz.

Manch­mal wirft der Herr kein Hirn vom Him­mel: die Sie­gel­schen Seniorendisco-Engel.

Neben den Plat­ten­mul­tis durf­ten auch die vier best­plat­zier­ten Komponist:innen des Vor­jah­res je einen Bei­trag bei­steu­ern, wes­we­gen Ralph Sie­gel gleich zwei Eisen im Feu­er hat­te. Er schick­te sei­ne bei­den Patent­bei­trä­ge, das Senio­ren­dis­co-Pot­pour­ri und die Welt­frie­dens­kitsch­hy­me. Ken­nen Sie das Geräusch, das Kat­zen von sich geben, wenn man sie im Wei­her ersäuft? Ich auch nicht, aber es muss sich unge­fähr so anhö­ren wie die Gesangs­küns­te des unmit­tel­bar nach der erfolg­lo­sen Vor­ent­schei­dungs­teil­nah­me wie­der auf­ge­lös­ten, Sie­gel­schen Ein­weg-Damen­quin­tetts All about Angels, von des­sen weit­ge­hend namen­los blei­ben­den Töne­schän­de­rin­nen ledig­lich Lili­an Kle­bow spä­ter eine Kar­rie­re machen soll­te. Wenn auch nicht musi­ka­lisch, son­dern als Seri­en­schau­spie­le­rin (SOKO Wien). Ihr besin­nungs­los bal­lern­der Syn­thie­schla­ger ‘Engel’ bedien­te sich frei­zü­gig bei Cin­dy & Bert‘Immer wie­der sonn­tags’ und sei­nem legen­dä­ren “Dip a dip a dip dip, dip”. Sowie am Sound­ge­rüst des Vor­jah­res­vor­ent­schei­dungs­kult­knal­lers ‘Sur­fen – Mul­ti­me­dia’ der fabel­haf­ten Euro­cats. Er gehört wie eben jenes Mach­werk damit selbst­re­dend zu mei­nen scham­volls­ten Guil­ty Pleasures.

Gab es je eine ‘Zeit’ für die­se Flat­ter­lap­pen, Bianca?

Die Trau­ben ern­te­te Sie­gel statt­des­sen mit sei­nem zwei­ten Bei­trag ‘Zeit’. Wie er spä­ter ver­riet, schrieb er die pom­pö­se Bom­bast­bal­la­de ursprüng­lich für Esther Ofa­rim, um sie als image- und punk­te­för­der­li­ches deutsch-israe­li­sches Aus­söh­nungs­pro­jekt ver­kau­fen zu kön­nen. Frau Ofa­rim for­der­te aber 50.000 € Gage: einen sol­chen Betrag konn­te woll­te Mr. Grand Prix nicht hin­blät­tern. Es sprang die über­per­for­ma­ti­ve Bie­le­fel­der Bank­kauf­frau Bian­ca Shom­burg ein, die Sie­gel mit Rüschen­läpp­chen und Land­po­me­ran­zen­dau­er­wel­le als mög­lichst maß­stabs­ge­treue Nico­le-Kopie aus­staf­fier­te. So glaub­ten wohl vie­le TED-Anrufer:innen, mit ihr die ‘Zeit’ um 15 Jah­re zurück­dre­hen zu kön­nen. Natür­lich, auch wenn ich damit vor­grei­fe, ver­ge­bens. Frau Schaum­burg, die im Jahr zuvor als Céli­ne-Dion-Kopie die inter­na­tio­na­le RTL-Sound­mix­show gewann, blieb dem Cas­ting-Métier treu: nach­dem ihr eine eigen­stän­di­ge Schla­ger­kar­rie­re nicht gelin­gen woll­te, brach­te sie etli­chen Kandidat:innen von Deutsch­land sucht den Super­star das Sin­gen bei. Gemein­sam mit ihrem Mann grün­de­te sie zudem eine Country-Formation.

Der Muff ist end­lich ver­trie­ben” behaup­te­te Jens Rie­wa im Hin­blick auf die Neue­run­gen beim Euro­vi­si­on Song Con­test. Beim deut­schen Vor­ent­scheid 1997 (gan­ze Show am Stück) staub­te es hin­ge­gen noch reichlich.

Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1997

Der Count­down läuft. Don­ners­tag, 27. Febru­ar 1997, aus der Musik- und Kon­gress­hal­le Lübeck. Neun Teilnehmer:innen, Mode­ra­ti­on: Jens Rie­wa. Televoting.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tePlatzCharts
01Ver­lieb­te JungsIch bin solo01,8%09-
02Michae­la AhlrichsEs lebe die Liebe09,3%05-
03Jea­naKein “Bit­te ver­zeih mir”05,8%06-
04All About AngelsEngel04,3%07-
05Michel­leIm Auge des Orkans11,8%03-
06LeonSchein (mei­ne klei­ne Taschenlampe)13,0%02-
07Bian­ca ShomburgZeit40,2%0190
08Vive­caKomm zurück02,5%08-
09Anke Lau­ten­bachZwi­schen Him­mel und Erde11,4%04-

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1 Comment

  • Steht hier in Ö grad in jeder Zei­tung, dass die Schau­spie­le­rin Lili­an Kle­bow bei All About Angels dabei war 😀

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