
Nach der Schande von Kiew, sprich dem letzten Platz mit vier armseligen Mitleidszählern für die durch aktiven Betrug an ihren Job gekommene deutsche Grand-Prix-Vertreterin Gracia Baur, gab der NDR-Unterhaltungschef Jürgen Meier-Beer entnervt seinen Rücktritt als Eurovisionsverantwortlicher bekannt. In seiner völligen Ratlosigkeit, was er nun mit der Sendung anfangen sollte, holte sich der öffentlich-rechtliche Senderverbund ARD Unterstützung dort, wo in Deutschland die Unterhaltungskompetenz beheimatet ist: bei den Privaten. Genauer: bei ProSieben und dessen dessen damaligen Comedy-Aushängeschild Thomas Hermanns (Quatsch Comedy Club, Pop Club). Der offen schwule Entertainer und bekennende Grand-Prix-Fan stürzte sich mit Feuereifer an die ehrenvolle Aufgabe und produzierte eine glamouröse, schwelgerische Retro-Show rund um den eigentlich bereits im Vorjahr begangenen fünfzigsten Geburtstag des Song Contests.
Dickie will uns ein Gedicht aufsagen: der viel zu früh verstorbene Dirk Bach saß beim deutschen Vorentscheid 2005 mit auf der Promi-Couch.
Einen passenderen Rahmen als das so prachtvolle wie vergleichsweise kleine Hamburger Schauspielhaus hätte er sich für diese rückwärts gewandte, glanzvolle Gala (den Anspruch, eine Sendung mit aktueller Popmusik zu produzieren, die auch heterosexuelle Zuschauer:innen unter Dreißig anspricht, gab man bereits im Vorfeld auf) nicht aussuchen können. Keine 800 Mann passten in den Saal: die Fanclubs blieben unter sich. Mit Georg Uecker (Carsten Flöter aus der Lindenstraße) als Anheizer, Stargästen wie Joy Fleming, die neben der ebenfalls geladenen RTL-Knutschkugel Dirk Bach richtig schmal wirkte, und der fröhlich durch den Abend fliegenden Lucy Diakowska (No Angels) gestaltete der Comedian ein intimes Fest für die engere Familie. Aufwändige Einspieler, Hape Kerkelings großartiger Gastauftritt als Reinkarnation von Toto Cutugno sowie sensationelle Medleys erhoben die Show zu einer Sternstunde schwulen Entertainments auf wirklich allerhöchstem Niveau. Welchen dekorativen und operativen Aufwand einige unserer besten Schlagergrößen hier für gerade mal vierzigsekündige Vollplayback-Performances betrieben, daran sollte sich die undankbare Schnepfe Nicole, die uns Gott sei Dank erspart blieb, mal ein Beispiel nehmen! Die Eurovisionssiegerin von 1982 war wie andere ehemalige deutsche Vertreterinnen eingeladen, an einem Grand-Prix-Potpourri mitzuwirken, sagte aber mit der Begründung “da gehe ich lieber mit meinen Kindern Pizza essen!” ab.
Hape & die Kerkelettes mit der inoffiziellen Europahymne (IT 1990).
Um sich das üppige Rahmenprogramm leisten zu können, sparte Hermanns beim Hauptteil ein: lediglich drei Teilnehmer:innen gingen ins Rennen um das Ticket nach Athen. Die von mir ursprünglich als sichere Siegerin getippte Vicky Leandros landete am Ende abgeschlagen auf dem letzten Rang. Mit ihrer – sachlich vermutlich gerechtfertigten – anschließenden Wehklagerei in der Bild über die mangelhafte Soundtechnik im Deutschen Schauspielhaus erwies sie sich leider als schlechte Verliererin. Denn auch als glühender Verehrer der großartigen, unvergleichlichen, einzigartigen Königin des deutschen Schlagers muss ich sagen: ihr Song war halt einfach dröge. Um die Sendezeit von 90 Minuten vollzukriegen, musste jede:r der Drei vor dem eigenen Wettbewerbstitel zunächst einen selbst ausgesuchten Eurovisionsklassiker anstimmen. Für diese Pflichtübung suchte sich die gebürtige Griechin ausgerechnet ihren großen Grand-Prix-Erfolg ‘Aprés toi’ aus. Kein all zu kluger Schachzug: erstens meisterte sie diesen nicht mehr ganz so fehlerfrei wie noch vor 34 Jahren. Und zweitens trat im direkten Vergleich dazu die Beliebigkeit und Glanzlosigkeit ihres aktuellen, wie alle Stücke dieses Abends englischsprachigen Beitrags ‘Don’t break my Heart’ um so deutlicher zu Tage. Bei allem Respekt für ihren Mut, sich nach so einer verdienstvollen Vorgeschichte noch mal dem Wettbewerb zu stellen: das war leider nichts!
Große Geste, schwacher Song: Vicky Leandros.
Thomas Anders, die ehemals bessere Hälfte von Dieter Bohlen (ist Ihnen eigentlich auch schon mal aufgefallen, dass alle der zahlreich folgenden Lebensabschnittspartnerinnen des DSDS-Impresarios mit ihrem dunklen Teint, langen Haaren und meist pinkfarbenen Lippenstift exakt so aussahen wie Thomas Anders in seiner Modern-Talking-Phase, während dessen damalige Gattin Nora dem Dieter wie aus dem Gesicht geschnitten wirkte? Aber ich schweife ab!), verdiente sich an diesem Abend meine Hochachtung: die Art und Weise, wie er das durch die Tonregie gleich zweifach versemmelte Song-Intro meisterte (“Ich kann es auch Acappella singen, wenn ich muss!”) war hoch professionell, unglaublich souverän und verdient absoluten Respekt. Sein Beitrag ‘Songs that live forever’ war indes erwartbar unterirdisch. Und nach seiner vorangegangenen, Liberace-würdigen Darbietung des ESC-Klassikers ‘Volare’, bei der er alle Register des schlechten Schlagersänger-Schmierlappentums zog, dürfte er wohl das Schmerzensgeld zurückzahlen müssen, das ihm ein Richter einst wegen der Invektive “höhensonnengegerbte Sangesschwuchtel” zusprach. Danke für diese drei Minuten hochgradig amüsanten Entertainments: so hab ich mich lange nicht mehr beömmelt!
Wer hätte gedacht, dass Thomas Anders so eine coole Sau ist?
Bleiben die würdigen Sieger: Dittsches Country-Kapelle Texas Lightning (wie sexy Fleming Olsen erzählte, der amerikanische Slang für die “Warmsanierung einer Farm”, also Versicherungsbetrug) hatte das frischste Lied, den stimmigsten Auftritt und die sympathischste Einstellung. “Das gibt’s gar nicht, dass man mit so einer kleinen tapferen Band dahin kommen kann”, freute sich ihr Frontmann und früherer RTL-Samstagnacht-Star Olli Dittrich aufrichtig nach dem Sieg. Und stimmte, um die frenetisch nach einer Zugabe jubelnden Grand-Prix-Fans im Saal glücklich zu machen und da die Tontechniker eine Minute nach Ende der TV-Übertragung bereits alle Stecker gezogen hatten, einfach eine Acappella-Version von ‘No no never’ an, begleitet von im Takt fingerschnipsenden, fröhlich stehschunkelnden Reihen im Hamburger Schauspielhaus. Das war richtig, richtig schön, für mich einer der unvergesslichsten Eurovisionsmomente überhaupt! Dafür danke! Der NDR jedenfalls konnte, auch dank entsprechender Vorberichterstattung, mit der Quote (über 5 Millionen, doppelt so viele wie Raabs BuViSoCo) zufrieden sein. Und mit dem Ergebnis: nach ‘Zwei kleine Italiener’ (1962), ‘Dschinghis Khan’ (1979), ‘Ein bisschen Frieden’ (1982) und ‘Can’t wait until tonight’ (2004) war ‘No no never’ der fünfte von sechs deutschen Beiträgen, die es in knapp 60 Jahren Contestgeschichte an die Spitze der heimischen Verkaufscharts schaffen sollten (‘Satellite’ komplettierte 2010 das Sextett). Der Haken an der Sache: wenn die Nation mal ausnahmsweise geschlossen hinter dem deutschen Beitrag steht, dann erwartet sie auch den Sieg beim Grand Prix. Der aber natürlich mit einem – noch so tollen – Countryschlager nicht zu holen war, denn außerhalb der USA und Deutschlands hat diese Musikrichtung nicht ganz so viele Anhänger:innen.
You’ll meet some lovely Country Girl: Texas Lightning.
Deutsche Vorentscheidung 2006
Der deutsche Vorentscheid – 50 Jahre Grand Prix. Donnerstag, 9. März 2006, aus dem Deutschen Schauspielhaus, Hamburg. Drei Teilnehmer:innen. Moderation: Thomas Hermanns. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Thomas Anders | Songs that live forever | 27,23% | 02 | - |
02 | Texas Lightning | No no never | 45,96% | 01 | 01 |
03 | Vicky Leandros | Don’t break my Heart | 26,81% | 03 | 69 |
Letze Aktualisierung: 11.01.2022
Say: wo ich hier gerade von der Einstimmungs-Pflicht lese: was haben damals Texas Lightning eigentlich gesungen? Vicky Leandros “Apres toi”, Thomas Anders “Volare”, aber was war der Grand-Prix-Hit, den die Sieger dargeboten haben?
Spontan würde ich auf Waterloo tippen. Bin aber alles andere als sicher.
So ist es tatsächlich.
[…] die alternde Schlagerdiva ist zuverlässig mit einem Statement zur Stelle. Ob sie nun, statt beim Vorentscheid eine gekürzte Version von ‘Ein bisschen Frieden’ zu singen, lieber “Pizza […]
[…] die originalgetreue deutsche Coverversion von ‘No no never’, unserem Eurovisionsbeitrag 2006! Selbstverständlich wieder im niederbayerischen Dialekt gesungen. Man möchte sofort zur Dachlatte […]
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[…] Humorzentrum jederzeit millimetergenau trifft, hatte den deutschen Grand-Prix-Vorentscheid seit 2006 nicht nur moderiert, sondern auch mitproduziert. Das Format einer glamourösen Gala mit vielen […]
[…] Herbst 2006, nur wenige Monate nach ihrer erfolglosen Teilnahme an der deutschen Eurovisionsvorentscheidung, hatte Frau Leandros den Posten als “Beauftragte für Kultur und internationale […]
[…] ein Thomas-Anders-gleicher Fehlstart (vermutlich lag der zuständige Tontechniker bereits im Tiefschlaf) bei Brincks […]
[…] hübsche, schwungvolle Countryballade ablieferten, an der sich selbst ‘No no never’ (DE 2006) noch eine Scheibe abschneiden kann. Leider war die Sängerin Jasmine so nervös, dass sie sich […]
Auch wenn ich Texas Lightning sehr mag, hätte ich Thomas Anders geschickt. Thomas ist im Ostblock ein Superstar und hätte uns verdammt viele Punkte gebracht. Hier hätte ich mir mehr Zockermentalität vom Publikum gewünscht.