Schweiz 2007: Tanz der Toten

Im Okto­ber 2006 offe­rier­te der (bezeich­nen­der­wei­se) größ­te Pop­star der Schweiz, DJ Bobo, in einer TV-Show, die Eid­ge­nos­sen­schaft beim Euro­vi­si­on Song Con­test in Hel­sin­ki zu ver­tre­ten – falls das Volk es denn wol­le. Wie von ihm erhofft, über­nah­men die hei­mi­schen Medi­en dar­auf­hin kos­ten­los das Mar­ke­ting und stell­ten in ihren Online­an­ge­bo­ten ent­spre­chen­de Umfra­gen parat, die der seit 1990 akti­ve Break­dan­cer und Rap­per, auf deren Erst­lings­sin­gle ‘I love you’ einst die ehe­ma­li­ge hel­ve­ti­sche Grand-Prix-Reprä­sen­tan­tin und ‑Kom­men­ta­to­rin San­dra Simó die weib­li­che Stim­me bei­steu­er­te, natür­lich für sich ent­schied. Nun stell­te er sei­nen Euro­vi­si­ons­bei­trag vor, für den er sich bei Micha­el Jack­sons ‘Thril­ler’ bedien­te und dar­aus eine lus­ti­ge Musi­cal-Num­mer mach­te. ‘Vam­pi­res are ali­ve’ heißt das Stück, und wie alles von René Bau­mann – so der Geburts­na­me Bobos – ist es ein im Hin­blick auf die geschmack­li­chen Vor­lie­ben der neu­tra­len Schweiz bis zur Unkennt­lich­keit ver­wäs­ser­tes Pop­zi­tat, in die­sem Fall eben aus dem Fun­dus des King of Pop. Im Sonn­tags­Blick ver­riet er sein ESC-Geheim­re­zept: “Unser Song tönt genau so, wie es im Bal­kan gut ankommt. Kei­ne Roman­tik, nichts Herz­er­wär­men­des, nur wuch­ti­ge Beats, stamp­fen­der Dis­co-Pop – das kommt in Russ­land, Polen und Ungarn sehr gut an.”

Der schwei­ze­ri­sche Fürst der Fins­ter­nis: DJ Bobo.

Und da mitt­ler­wei­le drei Vier­tel der abstim­mungs­be­rech­tig­ten Teil­neh­mer­län­der dort lie­gen, wo man im noch immer vom Kal­ten Krieg gepräg­ten deutsch­spra­chi­gen Raum den Osten ver­or­tet (die Bal­kan­be­woh­ner selbst begrei­fen sich ja eher als Mit­tel­eu­ro­pä­er, aber die­se Illu­si­on tei­len sie mit den Ost­deut­schen), kal­ku­liert der in den ange­spro­che­nen Län­dern durch­aus kom­mer­zi­ell erfolg­reich gewe­se­ne schwei­ze­ri­sche DJ ent­spre­chend. Wobei, hier von bewuss­ter Kal­ku­la­ti­on zu spre­chen, tut ihm zu viel der Ehre an: was ande­res als wuch­ti­ge Stampf­beats kann er ja ohne­hin nicht. Und die kom­men natür­lich nicht nur im Ost­block gut an, wer­den von dort beim Grand Prix aller­dings übli­cher­wei­se von knappst geschürz­ten dral­len Blon­di­nen vor­ge­tanzt und nicht von zwerg­wüch­si­gen, abge­lutsch­ten Tanz­pi­ra­ten. Oder ist das Lied gar selbst­re­zi­ta­tiv? Vam­pi­re leben ja bekannt­lich davon, ande­ren das Blut aus­zu­sau­gen. So wie der Bobo ande­ren Künst­lern (sei­en es Dance-Acts wie 2Unlimited, Mam­bo­kö­ni­ge wie Perez Pra­do oder eben Micha­el Jack­son) die krea­ti­ven Ideen aus den Adern saugt und in ver­dünn­ter, ver­harm­los­ter Form wider­gibt. Oder anders gesagt: kennt irgend­je­mand ernst­haft jeman­den, der älter ist als neun und DJ-Bobo-Fan?

Aus Bobos Anfangs­jah­ren: der Euro­dance­track ‘I love you’ mit San­dra Simó (Reper­toire­bei­spiel).

Unter­stüt­zung erhielt der vom Schwei­zer Fern­se­hen kon­kur­renz­los intern bestimm­te Bau­mann aus dem Kolleg:innenkreis: nach­dem ein paar hirn­ver­brann­te evan­ge­li­ka­le Fun­di­chris­ten die absur­de Behaup­tung auf­stell­ten, der harm­lo­se Song betrei­be Teu­fels­an­be­tung, und eine Peti­ti­on zum Ver­bot sei­ner Euro­vi­si­ons­teil­nah­me ins Netz stel­len, die tat­säch­lich knapp 50.000 Stim­men ein­sam­mel­te, sprang ihm Fran­ci­ne Jor­di zur Sei­te. “Da gäbe es viel frag­wür­di­ge­re Lie­der, über die man dis­ku­tie­ren müss­te,” sag­te sie der Aar­gau­er Zei­tung. Deut­lich ernst­haf­te­re Pro­ble­me als die Reli­gio­ten berei­te­ten dem bis heu­te für sei­ne per­fekt durch­cho­reo­gra­fier­ten Mas­sen­in­sze­nie­run­gen bekann­ten Bobo jedoch die Grand-Prix-Regeln, nament­lich die Pflicht zum Live­ge­sang und die Sechs-Per­so­nen-Gren­ze. Ohne sei­ne übli­che, viel­fa­che Zahl an Tänzer:innen und Backup-Sänger:innen sah das Gan­ze näm­lich ein­fach nur arm­se­lig aus und klang auch so. Die zur Vor­täu­schung der übli­chen Per­so­nen­fül­le auf die Euro­vi­si­ons­büh­ne gestell­ten Schau­fens­ter­pup­pen mach­ten alles nur noch schlim­mer. Mit Platz 20 schied die Neun­zi­ger­jahr­ei­ko­ne im berüch­tig­ten Blut­bad­fi­na­le von Hell­sin­ki mit sei­nen 28 Star­tern aus. Iro­ni­scher­wei­se gewann statt­des­sen eine herz­er­wär­men­de, roman­ti­sche Bal­kan­bal­la­de die­sen Jahr­gang.

Mit den heu­te beim ESC zuge­las­se­nen Chor­stim­men vom Band und einer digi­ta­len Visua­li­sie­rung hät­te der Bobo zwei­fels­frei abge­räumt. Scha­de drum!

Zuletzt aktua­li­siert: 30.05.2023

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