ESC und Men­schen­rech­te: hilft ein Boykott?

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ESC-Logo, © EBU

Die Dis­kus­sio­nen tob­ten bereits im Vor­feld des Euro­vi­si­on Song Con­tests in Baku, und die aktu­el­le Debat­te um die homo­pho­ben rus­si­schen Geset­ze brin­gen das The­ma wie­der auf die Tages­ord­nung: wie gehen wir beim Euro­vi­si­on Song Con­test mit Län­dern um, wel­che die Men­schen­rech­te nicht beach­ten? Lars Peters ali­as Dou­ze Points vom Prinz-Blog ver­öf­fent­lich­te heu­te einen sehr per­sön­li­chen, sehr berech­tig­ten Wut­schrei über das taten­lo­sen Zuse­hen des Wes­tens. Sei­ne For­de­rung: Län­der, wel­che die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­let­zen, müs­sen von der Teil­nah­me und der Aus­tra­gung des ESC gesperrt wer­den. Alter­na­tiv sol­le die ARD bei einem Sieg eines sol­chen Lan­des den Wett­be­werb boykottieren.

Auf­hän­ger der umfas­sen­den und sehr lesens­wer­ten Abhand­lung ist natür­lich die Gesetz­ge­bung Putins, die unter dem faden­schei­ni­gen Vor­wand des Jugend­schut­zes die “Pro­pa­gan­da” gleich­ge­schlecht­li­cher Lebens­wei­sen unter Stra­fe stellt: schon die blo­ße Erwäh­nung von Homo­se­xua­li­tät in der Öffent­lich­keit kann in Russ­land mit har­ten Geld­stra­fen und Arrest geahn­det wer­den. Das betrifft Gäs­te eben­so: gera­de bestä­tig­te der rus­si­sche Sport­mi­nis­ter Wita­lij Mut­ko, dass das Gesetz auch auf Teil­neh­mer, Zuschau­er oder Jour­na­lis­ten der Olym­pi­schen Spie­le 2014 in Sot­schi Anwen­dung fin­de. Das mol­da­wi­sche Par­la­ment ver­ab­schie­de­te im Juli eher unbe­merkt ein ähn­li­ches Gesetz. Es ist vor­her­zu­se­hen, dass die­ses, wie in Russ­land auch schon, die Wel­le der Gewalt gegen­über Schwu­len und Les­ben wei­ter befeu­ern wird.


Ver­stö­rend: Jugend­gangs locken Schwu­le in die Fal­le, um sie öffent­lich bloß zu stellen

Lei­der ist die Homo­pho­bie bei gro­ßen Tei­len der ost­eu­ro­päi­schen Bevöl­ke­rung stark ver­wur­zelt. Gera­de die Kir­che ist hier­bei in vie­len Län­dern wie Polen oder Russ­land eine trei­ben­de Kraft. An Berich­te von Über­grif­fen durch gewalt­tä­ti­ge Natio­na­lis­ten, aber auch “nor­ma­le” Pas­san­ten bei CSDs in War­schau, Mos­kau, Bel­grad haben wir uns fast schon gewöhnt. Eben­so an unschö­ne Begleit­erschei­nun­gen des unter west­li­chen Fans als jähr­li­che Schwu­len­olym­pia­de gelieb­ten Grand Prix: schon bei der Nomi­nie­rung des slo­we­ni­schen Tra­ves­tietri­os Sest­re im Jah­re 2002 kam es zu Aus­schrei­tun­gen im Land, die sogar das Euro­pa­par­la­ment beschäf­tig­ten. Vor den ESCs in Bel­grad, Mos­kau und Baku ergin­gen Warn­hin­wei­se an die anrei­sen­den schwu­len Fans und Jour­na­lis­ten. Aber auch die Ent­sen­dung der spä­te­ren Sie­ge­rin Dana Inter­na­tio­nal, einer Trans­se­xu­el­len, sorg­te 1998 in Isra­el im Vor­feld für wüten­de Pro­tes­te reli­gi­ös-ortho­do­xer Kreise.


Ihre Teil­nah­me erzürn­te vie­le Slo­we­nen: Sestre

In beson­ders beschä­men­der Erin­ne­rung bleibt der am Tag des Euro­vi­si­ons­fi­na­les durch­ge­führ­te und mit bru­ta­ler Poli­zei­ge­walt auf­ge­lös­te Sla­vic Pri­de 2009 in Mos­kau und das fei­ge Weg­du­cken der EBU, die sich bereits im Vor­feld von den Ver­an­stal­tern des rus­si­schen CSDs distan­zier­te. Ein­zel­nen Con­test­teil­neh­mern wie den nie­der­län­di­schen Top­pers oder der schwe­di­schen Punk­te­an­sa­ge­rin Sarah Dawn Finer blieb es vor­be­hal­ten, Flag­ge zu zei­gen. Eben­so wie der groß­ar­ti­gen Anke Engel­ke, die 2012 bei der Punk­te­ver­ga­be nach Baku sag­te: “Euro­pe is wat­ching you!”. Und damit auch mein­te: wir haben Euch jetzt, wo wir dank des Euro­vi­si­ons­sie­ges über­haupt erst­ma­lig rich­tig von Euch Kennt­nis genom­men haben, auf dem Schirm und wol­len auch künf­tig ein Auge dar­auf wer­fen, wie es in Eurem Land so läuft. Was vor dem ESC defi­ni­tiv nicht der Fall war, auch nicht in den Mainstreammedien.


Was bau­melt da an Sarahs Hals? Rich­tig; die Regenbogenflagge!

Was wie­der­um die Fra­ge auf­kom­men lässt, ob ein Boy­kott tat­säch­lich ein sinn­vol­les Mit­tel ist. NDR-Mann Tho­mas Schrei­ber ließ im Zusam­men­hang mit den Dis­kus­sio­nen um die Durch­füh­rung der Show in dem als dik­ta­to­risch geführt gel­ten­den Unter­drü­ckungs­staat Aser­bai­dschan durch­bli­cken, bei einem Sieg Weiß­russ­lands über einen tem­po­rä­ren Aus­stieg Deutsch­lands nach­zu­den­ken. So, wie unter ande­rem Öster­reich im Jah­re 1969 dem Con­test im spa­ni­schen Madrid fern­blieb, das damals noch unter der Régime des Dik­ta­tors Fran­ko stand. Nach Baku reis­te die ARD aber den­noch – obwohl (oder ver­mut­lich eher weil) der wesent­lichs­te Unter­schied zwi­schen den des­po­ti­schen Regen­ten Ali­y­ew (AZ) und Lukaschen­ko (BY) dar­in besteht, dass Ers­te­rer über sehr viel mehr vom Wes­ten drin­gend benö­tig­tes Erd­öl und Erd­gas ver­fügt als Letzterer.


Gut, wenn man eine Wahl hat: dan­ke, Anke!

Doch weder der von Ste­fan Nig­ge­mei­er so treff­lich beschrie­be­ne “Mulm in Baku” hin­sicht­lich der auch wäh­rend des Con­test unver­min­dert wei­ter­lau­fen­den Unter­drü­ckungs­ak­tio­nen gegen die dor­ti­ge Oppo­si­ti­on, noch das Aus­spä­hen des Abstim­mungs­ver­hal­tens der eige­nen Bevöl­ke­rung beim Wett­be­werb durch die aser­bai­dscha­ni­schen Behör­den oder die Gerüch­te um einen Stim­men­kauf durch das nach wie vor sie­ges­hung­ri­ge Land konn­ten die EBU bis­lang dazu bewe­gen, über einen Aus­schluss auch nur nach­zu­den­ken. Viel lie­ber schmückt man sich mit wol­ki­gen Erklä­run­gen, als Garant der Mei­nungs­frei­heit und Demo­kra­tie wir­ken zu wol­len – zuckt aber nur mit den Schul­tern, wenn die Ali­y­ews für den Bau der Baku Crys­tal Hall mal eben Men­schen bru­tal und ent­schä­di­gungs­los aus ihren Häu­sern ver­trei­ben. Von die­ser Sei­te ist also, rea­lis­tisch gese­hen, nichts zu erwarten.


Hier sol­len Litau­er zum Power­vo­ting besto­chen wor­den sein

Blie­be noch ein Boy­kott durch die Fans. Die Bil­der fähn­chen­schwin­gen­der, ver­rückt kos­tü­mier­ter, ent­rückt jubeln­der Grand-Prix-Jün­ger in der Hal­le sind inzwi­schen fest in die TV-Über­tra­gung inte­griert. In Mal­mö errich­te­te der schwe­di­sche Sen­der für noch mehr Par­ty­stim­mung gar erst­mals eine “Euro­vi­si­on Mosh Pit”, also einen unbe­stuhl­ten Fan­be­reich direkt vor der Büh­ne – prompt kam es zum ers­ten Stage­di­ving wäh­rend einer Live­show durch die let­ti­schen Teil­neh­mer PeR. Zahl­lo­se – in der Über­zahl schwu­le – Blog­ger berich­ten wäh­rend der Pro­be­wo­chen rund um die Uhr von den Vor­be­rei­tun­gen und den Par­tys vor Ort und schü­ren so die Euro­vi­si­ons­flam­me. Und die­se Begeis­te­rung, die­ses hys­te­ri­sche Sum­men im Netz springt auch auf die Main­stream­m­e­di­en über. Was wür­de also pas­sie­ren, wenn die schwu­len und les­bi­schen Fans und Jour­na­lis­ten einem mög­li­chen (neu­er­li­chen) Con­test in Mos­kau, Minsk oder Chișinău geschlos­sen fern­blie­ben, ihn auch medi­al ignorierten?


Was wäre der Con­test ohne die schwu­len Fans?

Vol­le Hal­len gäbe es natür­lich den­noch: die (zu einem deut­lich stär­ke­ren Anteil hete­ro­se­xu­el­len) loka­len und ost­eu­ro­päi­schen ESC-Anhän­ger, die den Con­test ohne­hin eher als ernst­haf­ten Wett­be­werb begrei­fen denn als schrä­ge Par­ty mit frag­wür­di­ger Musik­be­schal­lung, näh­men dann halt die Plät­ze ein. Aller­dings zeig­te sich schon in Mos­kau, wo das rus­si­sche Fern­se­hen ger­ne um die schwu­len Fan­blocks her­um­film­te, um kei­ne “Pro­pa­gan­da” zu betrei­ben, dass sich hier die rech­te Stim­mung nicht ein­stellt. Dass aber selbst der im Auf­trag der links­al­ter­na­ti­ven Tages­zei­tung taz schrei­ben­de und für den NDR blog­gen­de, an sich reflek­tier­te Jan Fed­der­sen in Baku genervt über “Men­schen­rech­tis­ten” stöhn­te, die sei­ne bun­te Euro­vi­si­ons­bla­se zum Plat­zen brin­gen woll­ten, lässt befürch­ten, dass einem Groß­teil der Fans die Lage im Land scheiß­egal ist und sie sich auch nicht durch das Vor­bild des pol­ni­schen Ver­tre­ters von 2010, Mar­cin Mro­ziń­ski, der als Reak­ti­on auf die Anti-Homo-Geset­ze sei­ne Teil­nah­me an einem rus­si­schen Musik­fes­ti­val absag­te, vom Dabei­sein abhal­ten lassen.


Der Kopf ist rund, damit das Den­ken die Rich­tung wech­seln kann!

Auch ich, der seit Jah­ren schon nicht mehr vor Ort dabei bin, wüss­te noch nicht mal, ob ich dazu in der Lage wäre, einen gan­zen Jahr­gang kom­plett zu igno­rie­ren. Nicht dar­über berich­ten, ihn nicht im Fern­se­hen schau­en, noch nicht mal die ande­ren Blogs dazu ver­fol­gen? Der Ent­zugs­schmerz erscheint mir bei der rein gedank­li­chen Vor­stel­lung schon uner­träg­lich. Doch dass, wie Dou­ze Points im Prinz-Blog uto­piert, die TV-Sen­der der demo­kra­ti­schen Staa­ten die EBU ver­las­sen und eine neue Orga­ni­sa­ti­on grün­den, die dann den Grand Prix mit deut­lich dezi­mier­ter Teil­neh­mer­zahl fort­führt, hal­te ich für eben­so unrea­lis­tisch wie eine EBU-Instanz, die nicht­de­mo­kra­ti­sche Län­der mit Zwei­drit­tel­mehr­heit zeit­wei­lig vom Con­test sus­pen­diert. Man möge sich die diplo­ma­ti­schen Fol­gen vor­stel­len, wenn die Ver­tre­ter der ARD in einer Sit­zung der Refe­rence Group die Hand zum Aus­schluss Russ­lands erhöben!


Mal­mö, Kopen­ha­gen: alles dasselbe!

Das wird nicht pas­sie­ren, schon gar nicht wegen der Rech­te der Homos. Zumal wir uns kei­nen Illu­sio­nen hin­ge­ben müs­sen, dass mit dem immer stär­ke­ren Aus­ein­an­der­drif­ten der Gesell­schaft und im Zei­chen der Kri­se auch bei uns im ach so kusch­li­gen Wes­ten der Back­lash kom­men wird: wenn die Stim­mung schlecht ist, krie­gen es immer zuerst die Min­der­hei­ten ab, ob die Migran­ten in Grie­chen­land, die Roma auf dem Bal­kan oder die Schwu­len in Ost­eu­ro­pa. So, nun bin ich nach zehn lan­gen Absät­zen genau so rat­los wie zu Beginn. Trös­ten wir uns vor­erst damit, dass der Con­test 2014 in Däne­mark statt­fin­det, einem der libe­rals­ten Län­der der Erde, Rang 4 im Demo­kra­tie-Index. Die­se Show kön­nen wir also zumin­dest unbe­schwert genie­ßen. Und da freu ich mich schon drauf!

Ange­nom­men, Russ­land gewinnt den nächs­ten Song Contest.

  • Dann bin ich dafür, dass Deutsch­land nicht teil­nimmt. (52%, 58 Votes)
  • Dann blei­be ich auf jeden Fall zuhau­se. Schau­en und ver­fol­gen wer­de ich’s trotz­dem. (26%, 29 Votes)
  • Das über­le­ge ich mir dann. (16%, 18 Votes)
  • Dann fah­re ich auf jeden Fall wie­der nach Mos­kau. Ich lass mir das nicht mies machen. (5%, 6 Votes)
  • Dann wer­de ich die Show auch nicht im Fern­se­hen anschau­en. (0%, 0 Votes)

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9 Comments

  • Boy­kot­te sind immer so eine Sache. Man zeigt zwar berech­tig­ter­wei­se den Regimes die kal­te Schul­ter, aber ande­rer­seits bekom­men Regime­kri­ti­ker Auf­merk­sam­keit durch den ESC. Im Zwei­fels­fall soll­te man den ESC eben bei einem Sieg Russ­lands auch mal nach Wien geben, der Con­test war schon so lan­ge nicht mehr in Öster­reich und das Land dürf­te doch sehr tole­rant sein. Also lie­ber den Con­test in ein halb­wegs ein­wand­frei­es Land geben, das lan­ge kein Aus­rich­ter mehr war. 

  • Ich muss erst­mal sagen, ich bin seit ca. zwei Jah­ren ein Fan von aufrechtgehn.de und des Prinz Blogs, für mich sind die­se Blogs die ers­te Infor­ma­ti­ons­quel­le zum The­ma Euro­vi­si­on Song Con­test. Hat­te sonst nie gro­ßen Bedarf gese­hen, mal einen Arti­kel zu kom­men­tie­ren, da die­se meist auch mei­ne Mei­nung ver­tritt. Aber hier geht jetzt mei­ne Mei­nung von eurer aus­ein­an­der, wes­we­gen ich mich jetzt gezwun­gen sehe, in etwas län­ge­rer Form mei­ne Mei­nung dar­stel­len und hof­fe nicht, dass mein Kom­men­tar wegen Über­län­ge (oder zu har­ter Kri­tik?) gelöscht wird.

    Hät­ten wir “wirk­lich” ein Pro­blem mit sol­chen men­schen­rechts­ver­let­zen­den Län­dern, hät­te man die eigent­lich gar nicht erst an dem ESC teil­neh­men las­sen dür­fen. Aber, da wir die ja schon teil­neh­men las­sen haben, soll­te man nicht auf “über­rascht” machen, wenn der Sie­ger mal Aser­bai­dschan heißt. Dass es Dis­kri­mi­n­ue­rung von Homo­se­xu­el­len und poli­tisch Anders­den­ken­den gibt, dürf­te ja schon im Fal­le Weiß­russ­land vor der ers­ten Teil­nah­me 2004 bekannt gewe­sen sein. Und dass der Ali­jew-Clan ziem­lich auto­ri­tät regiert, es nicht sehr genau mit der Mei­nungs­frei­heit nimmt und der alte Berg­ka­ra­bach­kon­flikt waren schon vor 2008 bekannt. Mei­ner Mei­nung nach hät­te man schon viel frü­her auf die Bar­ri­ka­den gehen sollen!

    Ich hab mir auch mal “neben­bei” die euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on durch­ge­le­sen. Wenn man sich mal Arti­kel 14 durch­liest, muss ich komi­scher­wei­se an das Ver­sa­gen der staat­li­chen Insti­tu­tio­nen wie dem Ver­fas­sungs­schutz bei den NSU-Pro­zes­sen den­ken. Oder an den “gele­gent­li­chen” Über­grif­fen der Poli­zei an Leu­ten, die “aus­län­disch aus­schau­en” – Stich­wort Racial pro­fil­ing. Wur­de sogar vom Deut­schen Insti­tut für Men­schen­rech­te festgestellt.

    Soll­te die EBU tat­säch­lich bei Ver­stö­ßen gegen die euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on Län­der von Euro­vi­si­on Song Con­test aus­schlie­ßen – könn­te man auch Deutsch­land ein­fach mal so aus­schlie­ßen? Oder muss man so zynisch sein, und ein Limit für Ver­let­zun­gen des Men­schen­rechts ein­füh­ren – frei nach dem Mot­to “Ihr dis­kri­mi­niert ja nur gele­gent­lich ein Paar Neger, ihr dürft dabei sein!”?

  • Ein sehr guter und sehr berech­tig­ter Ein­wand, vie­len Dank! Auch wenn ich zwi­schen eher eigen­mäch­ti­gem (und mei­nes Erach­tens gesetz­lich nicht gedeck­tem) Racial Pro­fil­ing und dem strik­ten gesetz­li­chen Ver­bot, Homo­se­xua­li­tät auch nur öffent­lich zu erwäh­nen, noch einen klei­nen Unter­schied machen wür­de, hast Du natür­lich dem Grund nach Recht: Men­schen­rechts­ver­stö­ße kom­men über­all täg­lich vor, und es wer­den lei­der eher mehr als weni­ger. Dass der deut­sche Ver­fas­sungs­schutz sich kom­plett selbst ver­haf­ten müss­te, wenn er sei­ne Auf­ga­be ernst neh­men wür­de, ist eben­so bit­te­re Realität.

    Ich den­ke auch, mit einem Aus­schluss von Län­dern auf­grund von Men­schen­rechts­ver­stö­ßen wür­de man die Büch­se der Pan­do­ra öff­nen, frei nach dem Mot­to: wer da ohne Sün­de ist, wer­fe den ers­ten Stein (“Autsch! – Oh, Mut­ter!”). Dass sich die EBU da also raus hält, ist ja gar nicht so ver­kehrt – wenn sie sich nicht gleich­zei­tig als Hüte­rin eben die­ser Rech­te auf­spie­len wür­de! Sie soll doch bit­te ein­fach die­ses Gewäsch aus ihrer Eigen­wer­bung strei­chen, dann habe ich damit auch kein Pro­blem mehr.

    Eine ande­re Fra­ge ist aber aus mei­ner Sicht, wie wir Fans mit dem The­ma umge­hen. Für mich per­sön­lich ist klar, dass ich in ein so offen­siv schwu­len­feind­li­ches Land wie Russ­land nicht rei­se. Die Con­tests von Mos­kau und Baku habe ich schon mit halb­schlech­tem Gewis­sen und deut­lich ver­min­der­tem Ver­gnü­gen ver­folgt und ver­bloggt. Ich bin in der Sache aber auch ehr­lich ratlos.

  • Hmm, schwie­ri­ges The­ma. Grund­sätz­lich fin­de ich nicht, dass man Dik­ta­tu­ren vom ESC aus­schlie­ßen soll­te. Schließ­lich geht es um Musik und Show, und ich fin­de rus­si­sche oder unga­ri­sche Sän­ger sol­len sich genau­so auf der Büh­ne prä­sen­tie­ren dür­fen wie jeder ande­re auch. Bye­Alex kön­nen ja auch nix dafür, dass sie Bür­ger eines Staa­tes sind, der gera­de mit gro­ßen Schrit­ten in Rich­tung Neo­fa­schis­mus abdriftet.
    Was die EBU aber unbe­dingt ändern müss­te: die Rah­men­be­din­gun­gen für eine Aus­tra­gung! Nicht nur ein Sieg beim ESC soll­te Vorraus­set­zung sein, son­dern zusätz­lich noch die Ein­hal­tung der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on. Soll­te nur eines der bei­den Vorraus­set­zun­gen gege­ben sein: Pech gehabt! Wird das Aus­tra­gungs­recht halt an ein Land wei­ter­ge­ge­ben, dass die­se erfüllt. Das wäre für mich ein guter Kom­pro­miss – denn einer­seits bezieht man so gegen­über Dik­ta­tu­ren und Men­schen­rechts­ver­let­zern klar Stel­lung, auf der ande­ren Sei­te schlägt man gewis­sen Län­dern nicht gleich vor­ei­lig die Tür vor der Nase zu. Zudem hät­te das viel­leicht den ange­neh­men Neben­ef­fekt, dass Aser­bai­dschan oder Russ­land, mit dem Wis­sen den Con­test mit ihrer aktu­el­len Gesetz­ge­bung nicht aus­tra­gen zu dür­fen, etwas die Lust am mani­pu­lie­ren und Stim­men kau­fen ver­lie­ren. Das ist näm­lich das zwei­te Pro­blem, dass die EBU unbe­dingt ange­hen soll­te, es aber aus ver­mut­lich rein peku­niä­ren Grün­den nicht tut.
    Von den Fans erwar­te ich ehr­lich gesagt nicht viel. Einen Bei­trag, der für eine Dik­ta­tur antritt, darf man natür­lich trotz­dem gut fin­den, völ­lig legi­tim. Aber wenn, wie von mir in Mal­mö gesich­tet, schwu­le Fans Alyo­na Lans­ka­ya mit über­di­men­sio­na­len Weiß­russ­land-Flag­gen bekrei­schen, ist das eigent­lich nur noch grotesk.

  • Zumal ich nach wie vor glau­be, dass die Frau nicht echt war, son­dern ein Borg! 😉

    Dei­nen Gedan­ken­gang mit der Tren­nung von Teil­nah­me und Aus­tra­gung kann ich zwar nach­voll­zie­hen. Ande­rer­seits hal­te ich ihn für ein biss­chen ver­zwickt: die “Ehre”, den Con­test aus­tra­gen und damit das eige­ne Land ins Licht der Öffent­lich­keit zu rücken, ist der ein­zi­ge Bonus, der mit einem Sieg beim Con­test ver­bun­den ist. Dafür neh­men die Meis­ten doch über­haupt teil. Das ist irgend­wie so, als wür­de ich bei den Olym­pi­schen Spie­len sagen: die Rus­sen dür­fen beim Gewicht­he­ben zwar mit­ma­chen, aber wenn sie die meis­ten Kilo gestemmt haben, krie­gen sie trotz­dem kei­ne Gold­me­dail­le. Damit brüs­kie­re ich die­se Län­der ja noch mehr, in dem ich sie zu Teil­neh­mern zwei­ter Klas­se erkläre.

  • Schon wie­der die­se tol­le Idee, die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­tio­nen in den ESC zu über­tra­gen! Aber lei­der wür­de man auch damit den gesa­men ESC abschaf­fen, da es par­tout kein ein­zi­ges (!) Land in Euro­pa gibt, wel­ches sich zu 100% an die EMRK hält. Sogar die als sehr demo­kra­tisch gel­ten­den skan­di­na­vi­schen Län­der tun dies nicht im vol­len Umfang. Da genügt nur ein Blick in die aktu­el­len Jah­res­be­rich­te von Amnes­ty Inter­na­tio­nal (kann man auf amnesty.de ein­se­hen, http://www.amnesty.de/laenderberichte ). Daher stellt sich schon wie­der die bereits von mir erwähn­te Fra­ge: Wo soll die EBU bit­te eine “Gren­ze” zie­hen? Oder gleich alle Län­der vom ESC verbannen?

    Die könn(t)en höchs­tens Län­der raus­wer­fen, die gegen das ESC-Regle­ment ver­sto­ßen. Macht man aber nicht, weil das dann zu einer Situa­ti­on füh­ren wür­de wie 1996, als Deutsch­land in einer Audio-Vor­run­de aus dem ESC gekickt wur­den und man sich beschwer­te, dass durch die Nicht-Teil­nah­me der ESC als “schwer finan­zier­bar” gilt. Und selbst eine Nicht-Teil­nah­me der Län­der am ESC wür­de war­schein­lich sowie­so wenig bis gar nichts am poli­ti­schen Sys­tem ändern. Dafür haben sich ja z.B. die Rus­sen ja ande­re Gro­ße­vents bekom­men die Olym­pi­schen Win­ter­spie­le 2014, ein For­mel 1‑Rennen ab 2014 und die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft 2018.

    Da aber bis dato kein Land raus­ge­schmis­sen wur­de, und die “Dik­ta­tu­ren” seit Jah­ren erfolg­reich (Aus­nah­me: Weiß­russ­land) teil­nimmt, muss halt auch damit rech­nen, dass auch sol­che Län­der den Sieg errin­gen und soll­te auch den nächs­ten ESC aus­rich­ten dürfen. 

    Wem das trotz­dem nicht passt, dem empf­e­le ich schlicht und ergrei­fend, das Fern­seh­ge­rät an den ESC-Tagen abzu­schal­ten. Oder (Ach­tung: revo­lu­tio­när, nahe­zu kom­mu­nis­tisch klin­gen­de Töne!) sich dar­an betei­li­gen, die­se Unrechts­staa­ten Hand in Hand mit dem Volk zu stür­zen! 99,9% der Leu­te, die sich ange­spro­chen füh­len, wür­den die 1. Opti­on wählen.

  • Moment. Ver­ste­he ich den letz­ten Absatz rich­tig – ich habe, wenn mir die Tat­sa­che der Teil­nah­me von Dik­ta­tu­ren am ESC nicht passt, nur die Mög­lich­kei­ten, ihn nicht zu schau­en oder zum Che Gue­va­ra Jr. zu wer­den und in Aser­bai­dschan, Weiß­russ­land oder der Ukrai­ne auf die Stra­ße zu gehen?

    Nein. Sor­ry. Dazwi­schen gibt es viel­leicht auch noch ein paar ande­re Optio­nen. Ich muss nicht mit allem ein­ver­stan­den sein, was beim ESC pas­siert, aber das heißt noch lan­ge nicht, dass ich gar nichts, was dort geschieht, gut­hei­ße, was ein Total­boy­kott für mich impli­zie­ren wür­de. Soll ich 30 Län­der bestra­fen, die sich kaum etwas zuschul­den kom­men las­sen (vor­sich­ti­ge Schät­zung), indem ich die gan­ze Cho­se boy­kot­tie­re? Ich habe als Zuschau­er auch noch ande­re Mög­lich­kei­ten – viel­leicht stim­me ich ein­fach aus Prin­zip nicht für gewis­se Län­der. Oder ich gehe, wenn die­se Län­der dran sind, ein­fach mal was essen oder auf Toilette.

    Und zur Fra­ge, wo die Gren­ze zu zie­hen ist: Es gibt einen qua­li­ta­ti­ven Unter­schied zwi­schen “die­se Din­ge pas­sie­ren in einem Land” und “die­se Din­ge wer­den von die­sem Land ent­ge­gen der EMRK legis­la­tiv gut­ge­hei­ßen” (Gesetz­ge­bung in Russ­land oder Mol­da­wi­en, staat­li­ches Sys­tem in Aser­bai­dschan oder Weiß­russ­land). Ers­te­res ist nor­mal – so bedau­er­lich das ist, aber nie­mand ist per­fekt -, letz­te­res ist es ganz ent­schie­den nicht. Jeder Ver­stoß gegen die Kon­ven­ti­on ist einer zuviel, aber ich kann mir schlicht nicht vor­stel­len, dass – nur mal als Bei­spiel – ein deut­scher Sol­dat wegen Mor­des an einem Polen wäh­rend eines NATO-Manö­vers ver­ur­teilt wird, in die Hei­mat über­stellt wird und dort nicht nur eine Begna­di­gung, son­dern auch noch eine Beför­de­rung bekommt. Eben­so­we­nig glau­be ich, dass so etwas in Nor­we­gen, Ita­li­en oder Rumä­ni­en pas­sie­ren wür­de. In Aser­bai­dschan ist genau das pas­siert (der Sol­dat galt als Held, weil sein Opfer Arme­ni­er war). Das ist der Unter­schied zwi­schen sys­tem­kon­trär und systemimmanent.

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