Eesti Laul 2016: vom Bes­ten das Schlechteste

Die Esten sind ein erstaun­li­ches Volk: da stell­ten sie ges­tern, mal wie­der, die mit Abstand bes­te Vor­ent­schei­dung aller 43 teil­neh­men­den Natio­nen auf die Bei­ne, gespickt mit fan­tas­ti­schen Lie­dern und her­vor­ra­gen­den Dar­bie­tun­gen. Und dann schaff­ten sie es, die bes­ten davon auf der Stre­cke zu las­sen und ihr Super­fi­na­le ledig­lich mit einem unsym­pa­thisch bla­sier­ten James-Bond-Imi­ta­to­ren und zwei gesang­lich gehan­di­capp­ten Frau­en in Leucht­kos­tü­men zu bestü­cken. Gewon­nen hat, um es vor­weg zu neh­men, der Jun­ge-Uni­on-Spre­cher (und, wie soll­te es anders sein, aktu­el­le Est­land-sucht-den-Super­star-Sie­ger) Jüri Poots­mann mit dem vom Vor­jah­res­ver­tre­ter Stig Räs­ta mit­kom­po­nier­ten ‘Play’ – tat­säch­lich kein schlech­ter Song, wenn man wäh­rend der drei Minu­ten die Augen schließt. Poots­mann erwies sich im ers­ten Wahl­gang als abso­lu­ter Jury­lieb­ling und gewann dort, wie auch im hun­dert­pro­zen­ti­gen Tele­vo­ting im Super­fi­na­le, eben­so die Mehr­heit der Zuschau­er­stim­men (44%). Man scheint in Est­land also auf eine arro­gan­te Aus­strah­lung zu ste­hen, wie es sich ja auch schon 2015 zeig­te (und womit man ja auch da schon nicht unbe­dingt schlecht fuhr).

Schon die affi­gen Schu­he wür­den mich auf die ‘Stop’-Taste drü­cken las­sen: Jüri Pootsmann

Schimp­fen muss ich aber dies­mal mit dem est­ni­schen Publi­kum, dass den bei der Jury zweit­plat­zier­ten Mick Peda­ja mit dem fan­tas­tisch düs­te­ren, sphä­risch-expe­ri­men­tel­len ‘Seis’ aus dem Super­fi­na­le her­aus­kan­te­te und durch die plum­pe Lau­ra Rem­mel und ihr schon fast belei­di­gend schlich­tes ‘Super­so­nic’ ersetz­te. Frau Rem­mel hat­te sich als eine Art sti­li­sier­ter Christ­baum oder als Figur aus Tron ver­klei­det und schal­te­te ihre Leucht­strei­fen den gan­zen Abend lang nicht ab – auch nicht im Green Room. Herr Peda­ja, des­sen natür­lich nicht für Jeder­mann zugäng­li­cher Bei­trag offen­bar spal­te­te, kas­sier­te bei den ers­ten vier Juro­ren nichts als Höchst­wer­tun­gen, spä­ter aber auch ein paar Tief­schlä­ge. Er hin­ter­ließ visu­ell einen blei­ben­den Ein­druck, da er die meis­te Zeit, nur von hin­ten ange­leuch­tet, im völ­li­gen Dun­kel stand, so dass man nur sei­nen Umriss erkann­te, und sein eben­falls unkennt­li­ches Gesicht (oh, wie sehr wür­de ich mir das beim Poots­mann wün­schen) als Pro­jek­ti­ons­flä­che für bizar­re Licht­spie­le­rei­en dien­te, was das Trip­pi­ge sei­nes Lie­des um so mehr ver­stärk­te. Ganz gro­ße Kunst!

Oh, das LSD wirkt schon: Mick Pedaja.

Auf dem Gewis­sen haben die Televoter/innen auch das fabel­haf­te ‘Pati­ence’ mit der so erstaun­li­chen wie erstaun­lich ein­präg­sa­men und mit­singba­ren Hook­li­ne “My Feet are on Fire” von I wear Expe­ri­ment. Die Band um eine etwas schüch­tern wir­ken­de, leicht an Julia­ne Wer­ding erin­nern­de Lead­sän­ge­rin schloss im Jury­vo­ting punkt­gleich mit ‘Immor­ta­li­ty’ von Car­toon ab, einem visu­ell her­aus­ra­gen­den Bei­trag, der fast aus­schließ­lich aus einem mit den schwarz­wei­ßen, hand­ge­zeich­ne­ten Ele­men­ten aus a‑has epo­che­ma­chen­dem ‘Take on me’ und bun­tem 3‑D-Zei­chen­trick spie­len­den Video­clip bestand, zu dem die Gast­stim­me Kris­tel Aas­leid hin­ter der Pro­jek­ti­ons­wand kata­stro­phal schlecht sang. Da ‘Immor­ta­li­ty’ – ohne die beein­dru­cken­de Show drum­her­um ledig­lich ein okay­er, kein beson­ders her­aus­ra­gen­der Song – aber im Zuschau­er­vo­ting eben­falls auf dem drit­ten Platz lag, ‘Pati­ence’ jedoch nur auf Rang #8, zogen Car­toon ins Super­fi­na­le wei­ter, wo sie dann auf dem letz­ten Platz lan­de­ten. Scha­de drum, wie übri­gens auch um das uni­ver­sell ver­schmäh­te, taran­ti­no­haf­te ‘Sal­ly’ von Go away Bird, deren Lead­sän­ge­rin an eine jün­ge­re, coo­le­re Ver­si­on der unsterb­li­chen Pop-Iko­ne Debbie Har­ry (Blon­die) erinnerte.

Könn­te ich in End­los­schlei­fe hören: I wear*Experiment.

12 Punk­te allei­ne schon für die lus­ti­gen Sei­ten­dut­te: der Gro­ße Schrei­vo­gel (Go away Bird).

Das ein­zi­ge vage Lob, dass ich den Anrufer/innen aus­spre­chen kann, ist, dass sie in der ers­ten Abstim­mungs­run­de den von der Jury in wirk­lich skan­da­lö­ser Wei­se ver­nach­läs­sig­ten Meis­ter­ja­an wenigs­tens noch auf den vier­ten Platz wähl­ten und damit zeig­ten, dass sie die bes­se­ren Con­nais­seu­re sind. Von­sei­ten der angeb­li­chen “Exper­ten” (ernst­haft: bit­te sterbt, alle­samt) erhielt er, getreu des Mot­tos, dass das Genie im eige­nen Land nichts zählt, gera­de mal von einem nicht aus Est­land stam­men­den, in der Wer­tungs­pau­se als Inter­val Act auf­tre­ten­den, mir völ­lig unbe­kann­ten Jus­tin-Bie­ber-Loo­ka­li­ke acht Punk­te, ansons­ten nur weit dar­un­ter lie­gen­de Wer­tun­gen. Und das für das rund­weg fan­tas­ti­sche ‘Par­mu­pil­li­hul­lus’! Nie wie­der in mei­nem gesam­ten Leben wer­de ich ein Lied so sehr lie­ben kön­nen wie die­ses! Dass der genia­le Meis­ter­ja­an, der uns bereits 2011 bei der Eesti Laul mit dem nicht min­der sen­sa­tio­nel­len ‘Unema­ti’ einen sel­te­nen Moment der Grö­ße bescher­te, nicht gewin­nen wird, damit hat­te ich mich aller­dings schon im Vor­feld abge­fun­den. Und so bleibt die Eesti Laul wei­ter­hin eine Fund­gru­be, die an einem Abend mehr fan­tas­ti­sche Bei­trä­ge prä­sen­tier­te als die drei Run­den des Euro­vi­si­on Song Con­test 2016 dies ins­ge­samt tun, und die mal wie­der das Bes­te für sich behielt, aber immer­hin einen akzep­ta­blen Bei­trag für Stock­holm lie­fer­te. Oder, kurz gesagt: die Esten sind die Besten!

So sieht berech­tig­te Begeis­te­rung aus: Meis­ter­ja­ans Gespielinnen.

 

Schafft Est­land mit Jüri Poots­mann den Finaleinzug?

  • Na klar. Der Song ist abar­tig cool, und Jüri hat die genau dazu pas­sen­de Aus­strah­lung. Das lan­det sogar im Fina­le weit oben! (71%, 51 Votes)
  • Nein. Jüri ist brä­sig und bla­siert, der Song bes­ten­falls so la-la. Platz 11 im Semi. (29%, 21 Votes)

Total Voters: 72

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7 Comments

  • Die Begeis­te­rung für Meis­ter­ja­an kann ich jetzt nicht unbe­dingt nach­voll­zie­hen. Das ist schon irgend­wie stran­ge und lus­tig. Aber mehr als ein­mal wür­de ich mir das nicht anhö­ren wollen.

    Dass der Herr Poost­be­am­te mit Kens Plas­tik­helm-Fri­sur gewon­nen hat, hängt viel­leicht damit zusam­men, dass er Super­star-Gewin­ner ist und des­we­gen im Moment beson­ders popu­lär. Das Lied an sich ist nun wahr­lich nicht schlecht, aber im Ver­gleich zu ande­ren Bei­trä­gen im Wett­be­werb stinkt es mei­len­weit ab.
    Und somit haben sich die Esten wie­der ein­mal erfolg­reich davor gedrückt, den ESC im nächs­ten Jahr selbst aus­rich­ten zu müssen.

  • Jüri Poots­mann – auf sol­che Typen steht die Welt. Nicht grund­los schla­gen wir uns sei Jahr­zehn­ten mit der James Bond-Figur her­um. Immer­hin jemand der dem Tit­lel­an­wär­ter Lazarev was ent­ge­gen hal­ten und gefähr­lich wer­den kann. Der Kampf West gegen Ost fin­det so auch in Stock­holm wie­der mal sei­ne Entsprechung ! 😉

  • Gesamt betrach­tet womög­lich das Schlech­tes­te vom Bes­ten, im Super­fi­na­le der letz­ten drei dann aber in jedem Fall das Bes­te vom Schlech­tes­ten. Und auch bei dem dies­jäh­ri­gen eher mau­en ESC-Jahr­gang spielt Jüri ganz oben mit. Aber da konn­te bei der Qua­li­tät des Eesti Laul ohne­hin nicht viel schiefgehen.

  • Der Maul­tromm­ler Meis­ter­ja­an ist super. Coo­le Num­mer! Wie man einen Song aus nur einem Ton, einer Note schrei­ben kann – fabel­haft! Instru­men­te vom Ran­de des gän­gi­gen Reper­toires sind ja immer ganz drol­lig. Bin gespannt, wann ein­mal ein Sou­sa­phon, Trumm­scheit, The­or­be oder Heckel­phon auftauchen.
    Der geschnie­gel­te Sie­ger-Bubi – je nun, schlecht ist das Lied nicht! Und sin­gen kann der Kna­be auch.

  • Auch ich bin ges­tern ein gro­ßer Fan von “Seis” geworden.
    So einen atmo­sphä­ri­schen Bei­trag hät­te der ESC 2016 gebraucht.
    Völ­lig unvor­ein­ge­nom­men habe ich den Eesti Laul ver­folgt und war nach Mick Peda­jas Per­for­mance hin und weg.
    Scha­de, dass ich ihn jetzt nicht in Stock­holm sehen werde.
    Jüri geht zwar auch in Ord­nung, aber ich traue­re die­sem stimm­lich-magi­schen Vor­trag sehr nach.

  • Ich per­sön­lich war natür­lich vor allem von Meis­ter­ja­an und Mick Peda­ja begeis­tert, aber ich glau­be natür­lich auch, dass das nicht den Geschmack der Mas­sen trifft (weder offen­sicht­lich den natio­na­len als auch spä­ter von Gesamt­eu­ro­pa). Das ist mir natür­lich egal, weil es mir um gute und inter­es­san­te Bei­trä­ge geht, nicht um erfolg­rei­che. Aber so fand ich natür­lich, ähn­lich wie der Haus­herr, die Super­fi­nal­aus­wahl sehr enttäuschend.
    Unter den ver­blei­ben­den 3 gefiel mir dann die Car­too­nis­tin noch am bes­ten – nicht unbe­dingt sang­lich, aber es bleibt wenigs­tens optisch hän­gen, aber man weiß ja, was Cas­ting­show-Sie­ger an Fan­auf­ge­bo­ten mobi­li­sie­ren kön­nen, selbst wenn man nicht ein­mal unterstellt,dass dies aktiv betrie­ben wird.

    Ins­ge­samt bestä­tigt dies mei­nen Ein­druck von der dies­jäh­ri­gen Aus­wahl: das meis­te ist abso­lut harm­lo­ses Mit­tel­maß. Es gibt zwar erfreu­li­cher­wei­se bis­lang kein ein­zi­ges Lied, bei dem ich mich direkt über­ge­ben muss (wofür ich sehr dank­bar bin), aber ich ver­mis­se auch ech­te Perlen.

  • Die Jüri-Ent­schei­dung ist durch­aus nach­voll­zieh­bar, aller­dings trieft es doch arg vor Arro­ganz und Cool­ness bei dem jun­gen Boots­mann, schau an, ein Matro­se, der nur spie­len will. Der Song hört sich gut an und wenn ich den Auf­tritt mit dem jun­gen Polen ver­glei­che – da lie­gen Wel­ten dazwi­schen. Est­land ist mit die­sem Bei­trag für einen Top-Platz dabei. Wer­ter Blog­ger, da es Dei­nen YT-Link “geschrot­tet” hat – hier ein Video vom pro­du­zier­ten Video: https://www.youtube.com/watch?v=LWi9BAF-aZw&feature=youtu.be

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