Per­len der Vor­ent­schei­dun­gen: Von blon­dier­ten Bar­bies und toten Schlagerdiven

So, ein ver­reg­ne­ter Sonn­tag­nach­mit­tag, noch ein paar Minu­ten bis zum Beginn des rumä­ni­schen Vor­ent­schei­dungs­fi­na­les: kurz Zeit also, über eini­ge Phä­no­me­ne der letz­ten Tage zu sin­nie­ren. Begin­nen wir zunächst mit dem schein­bar merk­wür­di­gen Abstim­mungs­ver­hal­ten in eini­gen Län­dern und den dazu­ge­hö­ri­gen Hin­ter­grün­den. Da ist das all­ge­mein uner­war­te­te und scho­ckie­ren­de Ergeb­nis in Polen, wo die Zuschauer/innen eine zot­te­li­ge Jack-Spar­row-Kopie wähl­ten und den von vie­len Fans bereits als mög­li­chen Sie­ger­ti­tel des ESC 2016 gehan­del­ten Song ‘Cool me down’ von Mar­ga­ret ver­schmäh­ten. Was viel­leicht weni­ger ver­wun­dert, wenn man sich vor Augen führt, dass der Sen­der TVP beim gest­ri­gen Tele­vo­ting pro Anschluss ledig­lich einen Anruf wer­te­te. Sicher­lich fai­rer im Hin­blick auf ein reprä­sen­ta­ti­ves, weni­ger von anruf­freu­di­gen Tee­nies ver­zerr­tes Resul­tat, bedeu­te­te dies eben auch, dass die älte­ren (und kon­ser­va­ti­ve­ren) Zuschauer/innen, die nicht mehr in dem sel­ben Maße Musik kau­fen wie ihre Kin­der und damit die Charts nicht mehr bestim­men, in einem stär­ke­ren Umfang über das Ergeb­nis ent­schie­den. Und die konn­ten mit einer “blon­dier­ten Bar­bie in Unter­wä­sche”, wie sie sich in man­chen Kom­men­ta­ren Luft mach­ten, nichts anfan­gen. Sicher­lich half Michał Szpak auch der Umstand, erst im vori­gen Jahr an der pol­ni­schen Aus­ga­be des Super­star teil­ge­nom­men zu haben.

Kam bei kon­ser­va­ti­ven Polen nicht gut an: Krach­ta­sche Mar­ga­ret (PL).

Ein ande­res Abstim­mungs­dra­ma ereig­ne­te sich bereits vor einer Woche in Lett­land, wo bekannt­lich Jus­ts mit einem von Vor­jah­res­ver­tre­te­rin Ami­na­ta geschrie­be­nen Titel gewann. Aller­dings denk­bar knapp: obwohl er in jeder der zahl­rei­chen Vor­run­den der Super­no­va haus­hoch führ­te, unter­lag er im Fina­le am ver­gan­ge­nen Sonn­tag im Tele­vo­ting der Hard­rock­band Cata­lep­sia und konn­te sich nur durch die gleich­zei­tig statt­fin­den­de Inter­net­ab­stim­mung mit weni­ger als 10% Gesamt­vor­sprung ret­ten. Wie Ben Robert­son in einer pro­fun­den Ana­ly­se für ESC Insight dar­legt, spiel­ten hier drei mög­li­che Ursa­chen zusam­men: zum einen die Abstim­mungs­power von Hard­rock­fans, zum zwei­ten die Ermat­tung der let­ti­schen Zuschau­er, die seit meh­re­ren Wochen stets für die sel­ben Titel anrie­fen und durch die jeweils noch in der Sen­dung ver­öf­fent­li­chen Zah­len wuss­ten, mit wel­chem mas­si­ven Vor­sprung ‘Heart­beat’ führ­te – und die nun zur eige­nen Unter­hal­tung für etwas Last-Minu­te-Dra­ma sor­gen woll­ten. Und drit­tens die ent­täusch­ten Fans des in der letz­ten Vor­run­de raus­ge­box­ten Dau­er­teil­neh­mers Mar­kus Riva, die Gerüch­ten zufol­ge aus Pro­test für Cata­lep­sia anrie­fen, um einen Sieg von Jus­ts zu ver­hin­dern. Was ihnen auch bei­na­he gelun­gen wäre, hät­te LTV die Inter­net­ab­stim­mung nicht euro­pa­weit geöff­net, so dass die inter­na­tio­na­len Fans (wie mei­ne Wenig­keit) online voten und den viel­ver­spre­chen­den Ami­na­ta-Song ret­ten konnten.

Gera­de noch ver­hin­dert: Cata­lep­sia (LT). Dan­kes­be­zeu­gun­gen ger­ne in die Kommentare!

Hard­rock droht uns übri­gens auch heu­te Abend aus Rumä­ni­en. Dort gewann im vor­ges­tern aus­ge­tra­ge­nen Halb­fi­na­le der wohl­ge­nähr­te Ovi­diu Anton das Jury­vo­ting mit der Bom­bast-Rock-Bal­la­de ‘Moment of Silence’. Mihai Trăis­ta­riu, der es nach 2006 (‘Tor­neró’) mit sehr gro­ßer Hoff­nung (böse Zun­gen sagen: ver­zwei­felt) noch­mal ver­sucht und dem Ver­neh­men nach erheb­li­che Geld­mit­tel in ein pro­fes­sio­nel­les Musik­vi­deo, eine cam­pe Büh­nen­show mit LED-beleuch­te­ten Tän­zern im Sti­le des iko­no­gra­fi­schen ‘Around the World’-Vide­os von Daft Punk sowie in die Revi­ta­li­sie­rung sei­ner Kopf­be­haa­rung inves­tier­te, lan­de­te knapp auf Rang 4. Unklar­heit herrscht der­zeit noch über eini­ge eigent­lich bereits aus­ge­wähl­te Bei­trä­ge: so will die San-Remo-Zwei­te Fran­ce­s­ca Michie­lin nach Mit­tei­lung von Euro­fi­re wohl beim aus­ge­wähl­ten Can­zo­ne ‘Nes­sun gra­do di sepa­ra­zio­ne’ blei­ben, den Titel aber immer noch lie­ber in Eng­lisch sin­gen (bit­te tu’s nicht!). Eine abschlie­ßen­de Ent­schei­dung hier­über ste­he aber noch aus. Anders als in Alba­ni­en, wo ver­mut­lich noch nicht ein­mal eine bewaff­ne­te ISIS-Trup­pe Ene­da Tarifa noch von dem mas­si­ven Feh­ler abbrin­gen kann, das wun­der­schö­ne ‘Për­ral­lë’ als ‘Fairy­ta­le Love’ dar­zu­bie­ten und mit einem mas­si­ven Remix zu ver­hun­zen (bit­te tu’s nicht!). Der israe­li­sche Ver­tre­ter Hovi Star über­le­ge hin­ge­gen auf­grund angeb­li­cher nega­ti­ver Reak­tio­nen, nicht mit dem sieg­rei­chen ‘Made of Stars’ zu fah­ren, son­dern den Song der bei Rising Star zweit­plat­zier­ten Ella Dani­el, ‘Some­bo­dy out the­re’, zu kapern. Er spiel­te die­sen den Titel bereits im Stu­dio ein, brü­te alter­na­tiv aber auch über einem Remix[ref]Nachtrag vom 07.03.2016: wie esc­to­day heu­te ver­mel­det, ent­schied sich Hovi für die­se Vari­an­te, auch da das israe­li­sche Publi­kum ja ‘Made of Stars’ gewählt habe. Man arbei­te jetzt an einer ver­bes­ser­ten Ver­si­on. Gute Wahl![/ref] von ‘Made of Stars’ (bit­te tu das!).

Camp as a Row of Tents: Mihia (RO).

In der Andra Chan­sen des schwe­di­schen Melo­di­fes­ti­valen flog am Sams­tag mit Dol­ly Styles ‘Rol­ler­co­as­ter’ erwar­tungs­ge­mäß der aller­letz­te auch nur im Ent­fern­tes­ten dem Schwe­den­schla­ger zure­chen­ba­re Bei­trag raus. Mel­lo-Chef Chris­ter Björk­man (SE 1992) erklär­te die Gat­tung bereits Ende Febru­ar 2016 in einem Inter­view mit dem Afton­bla­det für “tot”. Was natür­lich nicht wei­ter ver­wun­dert, da er selbst dem Schla­ger mit der von Char­lot­te Per­rel­li im Rah­men­pro­gramm des zwei­ten Mel­lo-Semis gesun­ge­nen, iro­nisch gemein­ten ‘Räd­da Schla­ger­di­van’-Hom­mage aktiv das Grab schau­fel­te. Wir erin­nern uns: 2004, als der NDR glaub­te, mit einem neu­en, chart­ba­sier­ten Vor­ent­schei­dungs­kon­zept den deut­schen Euro­vi­si­ons­t­i­tan Ralph Sie­gel end­lich erfolg­reich aus dem Geschäft gedrängt zu haben, spen­dier­te er die­sem ein sehr hüb­sches Med­ley sei­ner schöns­ten Grand-Prix-Melo­dien. Wie der all­seits gefürch­te­te “Preis für das Lebens­werk” sind sol­che Reve­ren­zen ja stets der unmiss­ver­ständ­li­che Hin­weis, dass die Zeit für jeman­den oder etwas abge­lau­fen ist. Ein Hin­weis, den die schwe­di­schen Zuschauer/innen auch genau so ver­stan­den. Dem Vor­wurf der schwe­di­schen Bou­le­vard­zei­tung, unter sei­ner Lei­tung aus dem Mel­lo eine “Vete­ra­nen­schlacht­fest” gemacht zu haben, ent­geg­ne­te Björk­man, dass die­se viel­leicht mit den “fal­schen Titeln” antra­ten. Wel­che, die er in sei­ner Funk­ti­on als ESC-Ver­ant­wort­li­cher des Sen­ders aber selbst aus­wähl­te! Böse Absicht? Dumm­heit? Fau­le Aus­re­de? Jeden­falls ste­hen nun­mehr zwölf Fina­lis­ten für kom­men­den Sams­tag fest, die mir ega­ler nicht sein könn­ten. Glück­wunsch, Christer!

Der Abge­sang auf die schö­ne Zeit des Schwe­den­schla­gers: 2016 läu­te­te sein Totenglöckchen.

4 Comments

  • Gehen auch Mord­dro­hun­gen statt Dan­kes­be­zeu­gun­gen? Ich hät­te lie­ber Cata­lep­sia in Stock­holm gesehen.^^

  • Obacht, nicht alles was düs­ter aus­sieht ist Hard­rock. So wür­de ich weder Cata­lep­sia dar­un­ter ein­ord­nen noch den Rumä­nen, der eher eine Num­mer aus einem Rock­mu­si­cal singt. Cata­lep­sia sieht sich wohl als doom-matal Band, also ein melo­di­scher, düs­te­rer und lang­sa­mer Rock, ich wür­de sie als Goths ein­ord­nen, die eben melo­di­schen Depris­ound machen. Für Hard­rock ist es dann doch zuwe­nig gitar­ren­zen­triert und zu langsam.

  • Dan­ke, mabu­rayu. Man möge es mir bit­te nach­se­hen, dass ich als altes Pop-Mäd­chen mit den Fein­hei­ten der Gen­re-Ver­äs­te­lun­gen im Rock nicht ganz so ver­traut bin. Außer­dem nei­ge ich ger­ne zu Gene­ra­li­sie­run­gen. Und so, wie für mich der Leit­spruch gilt “Wenn ich nicht dazu tan­zen kann, ist es eine Bal­la­de”, so ist für mich alles Hard­rock, was Gitar­ren hat und von düs­ter drein­bli­cken­den Män­nern mit lan­gen Haa­ren oder in mar­tia­li­scher Ver­klei­dung gespielt wird. Sobald es schnel­ler wird und die Gitar­ren ordent­lich brat­zen (ich es also wie­der mag), fällt es für mich in die Kate­go­rie “Metal”. 🙂

  • ojot­to­jott – die­se cata­lep­sen sind ja sowas von einer schlech­ten sis­ters-of-mer­cy-kopie, dass es einen graust. das war schon 1990 völ­lig out. wie kann man sowas heu­te noch dar­bie­ten. dann viel lie­ber die pira­ten­di­va – ich schenk ihr auch noch ne augenklappe

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