Ers­ter Super­sams­tag 2017: von Mit­leid, Spaß und Prolls

Einen Akt des Mit­leids begin­gen die unga­ri­schen Zuschauer/innen am gest­ri­gen ers­ten gro­ßen Super­sams­tag, an dem gleich vier natio­na­le Vor­run­den par­al­lel lie­fen (ganz im Ernst: kann das nie­mand bei der EBU mal koor­di­nie­ren?). Die dür­fen beim dor­ti­gen A Dal bekannt­lich, nach dem die Juro­ren aus zehn Bewerber/innen fünf Semi­fi­na­lis­ten her­aus­ge­pickt haben, einen sechs­ten “ret­ten”. Und dies­mal gin­gen ihre Stim­men an den letzt­plat­zier­ten Act im Jury­vo­ting, näm­lich die Band Soul­wa­ve. Deren juve­ni­ler, lei­chen­blas­ser Lead­sän­ger schau­te aber auch wäh­rend sei­nes Auf­tritts in die Kame­ra wie ein Reh­kitz auf der nächt­li­chen Bun­des­stra­ße in die Schein­wer­fer des her­an­brau­sen­den Land­ro­vers, der ihm gleich die Lich­ter aus­bläst. Und nicht nur in sei­nem Blick konn­te man die schie­re Angst erken­nen, son­dern auch an sei­nem deut­lich sicht­ba­ren Schwit­zen und in sei­ner Stim­me, die unter dem zent­ner­schwe­ren Kloß in sei­nem Hals doch ziem­lich litt. Was ver­setz­te das arme Kerl­chen nur in solch eine Panik? Hat­ten ihm die (um eini­ges älte­ren und ker­ni­ge­ren) Band­kol­le­gen gedroht, ihn zu ver­dre­schen, wenn er es live ver­geigt? Soll­te er sei­nen Platz als Front­mann im Halb­fi­na­le von A Dal viel­leicht bes­ser mit dem Gitar­ris­ten und Back-up-Sän­ger tau­schen, der nicht nur deut­lich bes­ser aus­sah, son­dern auch sehr viel ent­spann­ter wirk­te (und sang)? Der Song ‘Kalan­dor’ indes ent­pupp­te sich als net­te, fluf­fi­ge Folk-Pop-Num­mer mit run­dem Beat: nichts Sen­sa­tio­nel­les, aber tat­säch­lich eines der bes­se­ren Ange­bo­te an die­sem Abend. Dank also als unga­ri­sche Publi­kum: gut gemacht!

Help, I need some­bo­dy… (HU)

Der ein­zi­ge ande­re nen­nens­wer­te Song in der letz­ten Vor­run­de von A Dal (bevor es am kom­men­den Wochen­en­de an die bei­den Semis geht, die am Sams­tag und Sonn­tag qua­si hin­ter­ein­an­der weg lau­fen) hieß ‘Ori­go’ von Joci Pápai und ver­knüpf­te sehn­suchts­vol­les ziga­nes Gei­gen­ge­fie­del und weh­mü­ti­ge Kla­ge­ge­sän­ge mit zeit­ge­mä­ßen, druck­vol­len Elek­tro­beats und einer tech­nisch sau­ber abge­lie­fer­ten, wenn­gleich für mei­nen Geschmack ohne Wei­te­res ver­zicht­ba­ren Rap-Ein­la­ge. Auf unga­risch. Die Ver­bin­dung von Tra­di­ti­on und Moder­ne drück­te sich auch im Out­fit des Sän­gers aus, der aus­sah, als habe sich ein Zir­kus-Artist mit einem Leder­bar-Besu­cher im Dark­room gepaart. Ganz sicher nicht jeder­manns Geschmack, aber genau für so etwas (neben dem eben­so wun­der­ba­ren Trash) lie­be ich die Vor­ent­schei­de! Die rest­li­chen, qua­li­ta­tiv zwar tadel­lo­sen magya­ri­schen Bei­trä­ge lie­fer­ten aller­dings nichts als gepfleg­te Lan­ge­wei­le, was im ganz Beson­de­ren für den Sie­ger­song die­ser Vor­run­de gilt, die ent­setz­lich holp­rig gesun­ge­ne und uner­träg­lich nerv­tö­ten­de Grand-Prix-Bal­la­de ‘See it through’ von Gigi Radics. Bit­te, tut uns das nicht an, lie­be Ungarn – ich ertra­ge kein ein­zi­ges wei­te­res Depres­si­ons­lied mehr im Euro­vi­si­ons-Line-Up 2017! Habt doch um Got­tes Wil­len Mitleid!

Nein, wir sind kei­ne Augen­zeu­gen häus­li­cher Gewalt: Joci würgt sei­ne Herz­da­me nicht, wie man im Bewegt­bild erken­nen kann (HU)

Kei­ner­lei Mit­leid bewie­sen hin­ge­gen die Schwe­den mit der Grand-Prix-Vete­ra­nin Char­lot­te Per­rel­li (→ SE 1999, 2008), die in die­sem Jahr einen neu­en Anlauf zur Euro­vi­si­ons­glo­rie nahm und im ers­ten Vier­tel­fi­na­le des Melo­di­fes­ti­valen mit ihrer selbst­ver­fass­ten Gitar­ren­bal­la­de (!) ‘Mitt Liv’ spek­ta­ku­lär schei­ter­te: sieb­ter und letz­ter Platz. Doch auch hier muss ich den Zuschau­ern zustim­men: das kommt halt davon, wenn man sei­ne Schla­ger­wur­zeln ver­rät! Die “gei­le Blon­di­ne vom letz­ten Jahr” (Zitat Ste­fan Raab, DE 2000) gab sich mit dunk­len Haa­ren, ebsteineskem “Wrink­le, wrink­le, litt­le Star, hope they do not see the Scars”-Kaschier-das-Face­lift-Pony und dezen­ter Glit­zer­gi­tar­re ziem­lich ernst­haft und zurück­ge­nom­men. Mit einem Wort: laaaaaaa­ang­wei­lig! Fei­er­abend war eben­falls für Dinah Nah (→ Mel­lo 2015) und ihren Schlicht­schla­ger ‘One more Night’, die mit pin­ker Perü­cke, Cho­reo­gra­fie-Over­kill und baby­blau­em Eis­kunst­läu­fe­rin­nen­out­fit wirk­te wie ihr eige­ner Drag-Queen-Tri­bu­te-Act. Also fan­tas­tisch! Und ganz so, als wol­le das schwe­di­sche Fern­se­hen nach dem desas­trö­sen Aus­gang der US-ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­dent­schafts­wahl mit ihren unab­seh­ba­ren glo­ba­len Fol­gen ihren hei­mi­schen unter­pri­vi­le­gier­ten Mas­sen ein Signal der Wert­schät­zung und Ver­söh­nung sen­den, zogen inter­es­san­ter­wei­se die bei­den prol­ligs­ten Acts des Abends direkt til Glo­ben (ins Fina­le). Näm­lich zum einen mein per­sön­li­ches Lieb­lings-White-Trash-Girl Ace Wil­der (→ Mel­lo 2014), die in einer Art bauch­frei­em Schlaf-/ Jog­ging­an­zug mit Glit­zer­krus­ten­be­sti­ckung über die Büh­ne hüpf­te und behaup­te­te, sie sei ein ‘Wild Child’, die­se Aus­sa­ge aller­dings mit ihrem ziem­lich öden, ange­pass­ten Null-Acht-Fünf­zehn-Pop­song Lügen straf­te. Und zum zwei­ten ein bul­li­ger schwe­di­scher Hip-Hop­per namens Nano (nicht mit der 3sat-Wis­sen­schafts­sen­dung ver­wandt); mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, schö­ner Sing­stim­me und beglei­ten­dem Gos­pel­chor, der sei­nen kom­plet­ten Act eins zu eins vom Rag’n’Bone Man und sei­nem 2016er Num­mer-Eins-Hit ‘Human’ klau­te. Wobei der Dieb­stahl aktu­el­ler Chart-Ware kein schlech­tes Kon­zept sein muss, wie ein gewis­ser Frans (→ SE 2016) aus eige­ner Erfah­rung bestä­ti­gen kann…

Mach­te mich heu­er nicht La la la: die Nah (SE)

Immer­hin in die Andra Chan­sen schaff­te es mein per­sön­li­cher Lieb­lings­bei­trag, der nicht min­der prol­li­ge ‘Road­trip’ des schwe­di­schen Boll­er­he­ten­quar­tetts Det ver du. Der erin­ner­te musi­ka­lisch doch ein wenig an den ‘Ven­ga­bus’ und damit an die gol­de­nen, lei­der längst ver­gan­ge­nen Zei­ten des guten alten Neun­zi­ger­jah­re-Euro­dance-Trashs. Auch visu­ell wuss­ten die jun­gen Her­ren zu über­zeu­gen, und das noch nicht ein­mal wegen des kon­se­quent bar­brüs­ti­gen, mus­kel­be­pack­ten und son­nen­be­brill­ten Band­mit­glieds DJ-Hunk (zu plas­tik­haft) oder mit dem schi­cken Cabrio-Käfer, in dem die Vier wäh­rend ihrer drei Minu­ten her­um­turn­ten, dabei stel­len­wei­se beglei­tet von zwei Tän­ze­rin­nen in schrei­end gel­ben Bibo-Kos­tü­men. Nein, Song-Mit­au­tor und Bart­trä­ger Chris­to­pher “Chris” Mart­land ist es, der Mann mit den beweg­li­chen Augen­brau­en und dem für die einen brech­reiz­erre­gen­den, für die ande­ren unwi­der­steh­li­chen “Ich leg Dich eh flach”-Schlafzimmerblick, der mei­ne Hor­mo­ne in Wal­lung brach­te. Auch wenn Sie das jetzt ver­mut­lich weni­ger inter­es­siert. Ich hof­fe und bete, dass sie es doch noch ins Mel­lo-Fina­le und even­tu­ell sogar bis nach Kiew schaf­fen, denn wenn wir der­zeit etwas wirk­lich extrem drin­gend brau­chen, dann ist es end­lich mal wie­der ein Fit­zel­chen hirn­lo­sen, plat­ten Spaß. Und das mei­ne ich ganz im Ernst!

Wol­len Spaß, geben Gas: Det ver du (SE)

Falls es mit Det ver du nicht klappt, set­ze ich mei­ne Hoff­nun­gen unter­des­sen auf Litau­en: dort obsieg­te im ers­ten Vier­tel­fi­na­le mit den Stim­men der Zuschauer/innen die Frau mit den rie­si­gen feu­er­spei­en­den Glitz­erhör­nern und dem Gold­fo­li­en­kleid, die gran­dio­se Drag-Queen Loli­ta Zero und ihre dis­co­tas­ti­sche High-Ener­gy-Ohren­at­ta­cke ‘Get frigh­ten’. Die spie­ßi­ge Jury setz­te sie zwar auf Rang vier, den­noch konn­te sie sich im Gesamt­klas­se­ment durch­set­zen. Juchhu!

Litau­er, ich lie­be Euch: Loli­ta Zero sieg­te im Vier­tel­fi­na­le. Es ist noch nicht alles ver­lo­ren. (LT)

Unge­macht droht unter­des­sen von den Ukrai­nern, die am gest­ri­gen Sams­tag ihre ers­te (wie an dem *hüs­tel* äußerst sub­til ein­ge­setz­ten Pro­duct Pla­ce­ment zu erken­nen war, von einem ame­ri­ka­ni­schen Brau­se­her­stel­ler gespon­ser­te) Vor­run­de ver­an­stal­te­ten. Und die zwar als Ers­te bereits um 18 Uhr mit­tel­eu­ro­päi­scher Zeit anfin­gen, auf­grund des unend­li­chen Rede­be­darfs der dor­ti­gen drei­köp­fi­gen Jury, besetzt unter ande­rem mit Ver­ka Ser­dutsch­ka (→ UA 2007) und der, wenn man den Zuschau­er­re­ak­tio­nen glau­ben darf, augen­schein­lich sehr schlag­fer­ti­gen Vor­jah­res­sie­ge­rin Jama­la (→ Vor­ent­scheid 2011, UA 2016), aber als Letz­te fer­tig wur­den. Denn das Publi­kum und die Juro­ren votier­ten für eine wei­te­re jam­mern­de Frau namens Tayan­na mit einem wei­te­ren uner­träg­li­chen, lei­der jedoch sehr kom­pe­tent gesun­ge­nen Depres­si­ons­lied. Inter­es­sant hier­bei die Bild-Ton-Sche­re: hör­te man doch eine sehr klas­si­sche, bei­na­he schon iri­sche Euro­vi­si­ons­bal­la­de und sah dazu eine grell geschmink­te Stra­ßen­strich­pro­sti­tu­ier­te in Arbeits­klei­dung (inklu­si­ve käl­te­iso­lie­ren­dem rotem Leder­man­tel), die ihrem Frei­er ver­si­cher­te: ‘I love you’. Ja nee, is klar. Die Sex­ar­bei­te­rin ver­dräng­te einen Mann namens Arsen Mir­zoyan, der unter Beweis stell­te, dass die Ost­eu­ro­pä­er nicht nur die eng­li­sche Spra­che ger­ne auf das Schmerz­lichs­te schän­den, son­dern auch die fran­zö­si­sche. Er umschmei­chel­te eine Ange­be­te­te namens ‘Geral­di­ne’, und zwar, auch wenn man das erst nach einer guten Minu­te wirk­lich begriff, im gal­li­schen Idi­om. Ab dem Refrain hat­te er die Lin­gu­is­tik dann aber ganz gut im Griff, und ins­ge­samt erwies sich das flot­te Chan­son als gar nicht so schlecht. Mir­zoyan konn­te zwar ein Vier­tel aller Stim­men aus dem Tele­vo­ting auf sich ver­ei­nen, schei­ter­te aber an der teuf­li­schen Jury. Ich hof­fe nur, er konn­te ihnen heim­lich etwas von sei­nem Vor­na­men in ihre Pep­si schüt­ten. Scha­de um den Song!

Viel­leicht kann er ja für Frank­reich star­ten? All zuviel Bes­se­res hat­ten die in den letz­ten Jah­ren auch nicht (UA)

Weni­ger scha­de ist es um die Sof­trock­band Skai, fünf gestan­de­ne (und ihrer Band­home­page zufol­ge auch sozi­al enga­gier­te) Her­ren, die optisch durch­aus anzu­spre­chen wuss­ten, die aller­dings mit dem von US-ame­ri­ka­ni­schen Stu­dio­pro­fis abge­misch­ten Song-Rie­men ‘All my Love for you’ ein der­ar­tig lah­mes Stück hin­leg­ten, dass Bon Jovi neben ihnen wie Motör­head wirk­ten. Guten Geschmack bewie­sen die Ukrainer/innen, die sich nach einer län­ge­ren Sen­dungs­un­ter­bre­chung auch noch von den in den euro­vi­sio­nä­ren Nach­barn­län­dern Weiß­russ­land und Geor­gi­en bereits aus­ge­wähl­ten Grand-Prix-Ver­tre­tern als Pau­sen­un­ter­hal­tung bespie­len las­sen muss­ten, hin­ge­gen beim zwei­ten ins Fina­le wei­ter­ge­wähl­ten Act, dem Trio Sal­to Nazad. Das heißt, als Trio prä­sen­tier­te es sich ledig­lich im Ein­spiel­film. Auf der Büh­ne stan­den dann nur zwei Mit­glie­der: ein ziem­lich sexy aus­se­hen­der glatz­köp­fi­ger Voll­bart­trä­ger, der im schwar­zen Haupt­sa­che-bequem-Out­fit und mit hand­ge­schnitz­ter Holz­ket­te irgend­wie einen sym­pa­thisch alter­na­tiv-eso­te­ri­schen Ein­druck mach­te und im Instru­men­talb­reak sei­nes auf ange­neh­me Art skur­ri­len Titels ‘Oh Mamo’ eine extrem läs­si­ge und sehr schrä­ge Tanz­ein­la­ge hin­leg­te. Sowie eine unglaub­lich attrak­ti­ve Schwar­ze mit einer fan­tas­ti­schen Krau­se, die sich auf der Büh­ne zunächst bei den schick beabend­klei­de­ten Chor­sän­ge­rin­nen ein­reih­te, spä­ter aber ihren Glat­zen­kol­le­gen naht­los beim wil­den Tan­zen ablös­te. Aber erst, nach­dem sie sich ele­gant ihrer High Heels ent­le­digt hat­te. Das war gran­di­os. Die will ich beim Con­test sehen, bitte!

Die I‑l­ove-Bela­rus-Faust kann er auch, der hüb­sche Front­mann von Sal­to Nazad (UA)

2 Comments

  • ))))))was den musik­ge­schmack angeht, kor­re­spon­die­ren wir zwar nicht immer, und dei­ne fre­chen kom­men­ta­re über die schweiz regen mich manch­mal grau­sam auf.
    Trotz­dem, dei­ne “perlen“sind ja so lus­tig, das ich jedes mal um mei­nen leis­ten­bruch ban­gen muss. Schreib doch mal ein buch.
    Gra­tu­lie­re und mach wii­ter so

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