Per­len der Vor­ent­schei­dun­gen: en sten­hipp Man och en Prinsessa

Stel­len Sie sich vor, lie­be Lese­rin, lie­ber Leser: Sizi­li­en 1931 Lis­sa­bon 2017. Es ist der Abend des ers­ten Semi­fi­na­les des neu auf­ge­leg­ten Fes­ti­val da Can­ção, Por­tu­gals tra­di­ti­ons­rei­chem Lie­der­abend, der nach einem Jahr euro­vi­sio­nä­rer Schmoll­pau­se – angeb­lich inhalt­lich kom­plett auf­ge­frischt – erneut als Vor­ent­schei­dungs­for­mat des noto­risch erfolg­lo­sen Grand-Prix-Lan­des fun­giert. Sechs der acht Bei­trä­ge die­ser Run­de sind bereits an Ihnen vor­über­ge­zo­gen, ers­te Ermü­dungs­er­schei­nun­gen stel­len sich ein, geschul­det der Tat­sa­che, dass das Fes­ti­val tra­di­tio­nell erst gegen 22 Uhr mit­tel­eu­ro­päi­scher Zeit star­tet. Und dass Sie, was die bis­he­ri­gen Lie­der anging, nichts von der groß ver­kün­de­ten Neu­aus­rich­tung fest­stel­len konn­ten: fade und glanz­los plät­scher­te das alles an Ihnen vor­bei, selbst der ein­zi­ge eng­lisch­spra­chi­ge Upt­em­po­song lös­te nur Lan­ge­wei­le aus. Nun annon­ciert ein Ein­spie­ler den sieb­ten Teil­neh­mer des Abends, einen hüb­schen jun­gen Mann namens Sal­va­dor Sobral, sei­nem Äuße­ren nach zu urtei­len ein sym­pa­thisch wir­ken­der urba­ner Hips­ter mit läs­si­gem Haar­zopf und sexy Voll­bart. Etwas ver­spielt-coo­les wird jetzt sicher kom­men, den­ken Sie sich, viel­leicht ein wenig Elek­tro­folk wie sei­ner­zeit von Bye­Alex (→ HU 2013). ‘Amar pelos Dois’ (‘Lie­be für Zwei’) heißt der Titel, wie die Ein­blen­dung ver­rät – ein gern genom­me­nes Song­the­ma, das kei­ne wei­te­ren Auf­schlüs­se zulässt. Dann blen­det die Kame­ra in den Saal und fährt lang­sam auf Sal­va­dor zu, der in der Büh­nen­mit­te im Halb­dun­kel steht. Wäh­rend sie sich ihm immer mehr nähert, setzt die Musik ein. Und Sie mer­ken instink­tiv: hier stimmt etwas nicht.

Was zur Höl­le? (PT)

Zwei Schock­wel­len wir­ken gleich­zei­tig auf Ihre völ­lig über­for­der­ten Sin­ne ein, eine visu­el­le und eine akus­ti­sche. Denn der coo­le Hips­ter aus dem Ein­spie­ler steht da auf ein­mal in einem völ­lig ver­knit­ter­ten, drei Num­mern zu gro­ßen Sak­ko, das offen­sicht­lich per Zeit­ma­schi­ne direkt aus den Acht­zi­gern hier­her gebeamt wur­de. Dar­un­ter ein eben­falls deut­lich zu gro­ßes, bau­schig über die Hose hän­gen­des Hemd, wel­ches dem eigent­lich schlan­ken Sän­ger eine sehr unglück­li­che Figur ver­leiht. Der steht mit geschlos­se­nen Augen und schlaff her­un­ter­hän­gen­den Armen leicht nach links gebeugt hin­ter dem Mikro und macht einen stark sedier­ten Ein­druck. Wäh­rend die Kame­ra das Bild des Schre­ckens ein­mal voll­stän­dig umkreist, wer­den Sie der Musik gewahr, die Sie auf eine Zeit­rei­se in gol­de­nen Fünf­zi­ger ent­führt. Schwel­ge­ri­sche Strei­cher umschmei­cheln har­mo­nisch das Ohr, und stün­de da nicht schon der bekiff­te Hips­ter, so wür­den Sie erwar­ten, dass nun Lys Assia (→ CH 1956, 1957, 1958) in einem geschmack­vol­len Abend­kleid die Büh­ne betritt und anhebt, ‘Refrain’ zu sin­gen. Und tat­säch­lich: schlös­se man jetzt, da Sal­va­dor den Mund öff­net, die Augen, könn­te man die Illu­si­on auf­recht erhal­ten, denn der Sie­ben­und­zwan­zig­jäh­ri­ge into­niert tat­säch­lich mit hel­ler, hoher Frau­en­stim­me die ers­te Stro­phe sei­nes Lie­des. Im Ver­lau­fe sei­nes Bei­trags fin­det er aller­dings zu etwas tie­fe­ren Tönen zurück, dafür über­rascht er mit merk­wür­di­gen Ver­ren­kun­gen: prak­tisch jedes Mal, nach­dem er eine Text­zei­le been­det hat, zuckt er sprung­haft vom Mikro­fon zurück, so als habe er uns gera­de das Inners­te sei­ner See­le offen­bart und sei nun ein biss­chen ver­ängs­tigt ob sei­ner Ver­letz­lich­keit oder ob der Unge­heu­er­lich­keit des gera­de von ihm Gesag­ten. Manch­mal zieht er sei­nen Kopf zwi­schen die Schul­tern, so als sei er eine Schild­krö­te und wol­le Schutz in sei­nem Pan­zer fin­den, manch­mal macht er Bewe­gun­gen, die wie inver­se Ver­beu­gun­gen aus­se­hen, dann spielt er ner­vös mit sei­nen Fin­gern. Und bei alle­dem schwankt er hin und her, als sei er trun­ken. Vor Lie­be ver­mut­lich, so sug­ge­riert es ja sein Song­ti­tel. Gele­gent­lich diri­giert er gedan­ken­ver­lo­ren neben­bei das unsicht­ba­re Orches­ter mit, das auf­spielt, als gel­te es, ‘Ein Herz und eine Kro­ne’ mit Audrey Hepb­urn oder eine ähn­li­che schwarz­weiß ver­film­te Lie­bes­schnul­ze zu ver­to­nen. Und schließ­lich endet er, als die Bal­la­de sanft aus­blu­tet, in einer Kör­per­hal­tung, die sich nur als mensch­ge­wor­de­nes Fra­ge­zei­chen beschrei­ben lässt.

Die Sieb­zi­ger haben ange­ru­fen und wol­len ihren schlech­ten Kla­mot­teng­schmack zurück: die Gol­den Slum­bers (PT)

Ich gebe zu, mich hat die­se uner­war­te­te Dar­bie­tung beim ers­ten Sehen sehr stark irri­tiert und völ­lig rat­los hin­ter­las­sen. Was den­ken die­se irren Por­tu­gie­sen sich nur? Ist das eine Par­odie? Meint der das ernst? Wel­che Dro­gen nimmt der? Soll ich lachen oder wei­nen? Oder wütend wer­den? Was soll das, zur Höl­le noch mal? Gleich­zei­tig hat­te Sal­va­dors intro­ver­tier­ter Auf­tritt aber auch etwas unmit­tel­bar Anrüh­ren­des, etwas wun­der­bar Fra­gi­les und Auf­rich­ti­ges. Völ­lig frei von Berech­nung sang er da, so mein unter­schwel­li­ger Ein­druck, völ­lig unbe­ein­druckt vom Wett­be­werbs­ge­dan­ken und jed­we­der Kal­ku­la­ti­on, ob sein Lied Punk­te bringt oder nicht. Wie unwich­tig! Ein­zig und allein sei­ne Geschich­te woll­te er uns erzäh­len, und auch wenn ich kein Wort davon ver­ste­he und mich der völ­lig unzeit­ge­mä­ße musi­ka­li­sche Back­ground noch immer ver­wun­dert und ver­stört, so blieb er mir doch als ein­zi­ger Künst­ler des gesam­ten Abends im Kopf. Und heu­te, da ich den Auf­tritt noch­mal und noch­mal und noch­mal schaue und mich jedes­mal ein Stück­chen mehr dar­in ver­lie­be, da begin­ne ich, immer stär­ke­ren Respekt für die­ses skur­ri­le, eigen­wil­li­ge Völk­chen im Süd­wes­ten Euro­pas zu emp­fin­den, das ich ges­tern Abend noch kol­lek­tiv in die geschlos­se­ne Abtei­lung hät­te ein­wei­sen las­sen wol­len. Denn die vom Alters­durch­schnitt her noch mit den besag­ten Audrey-Hepb­urn-Fil­men groß gewor­de­nen Juro­ren bestimm­ten Sobral zu ihrem Lieb­ling, und mit einem drit­ten Platz im Tele­vo­ting zog er sou­ve­rän ein ins Fina­le. Wo ich nun hof­fe und bete, dass er gewinnt, denn die­sen Moment der völ­li­gen Ver­wir­rung und tota­len Ver­zau­be­rung, den wün­sche ich auch den euro­päi­schen Zuschauer/innen.

Die Fri­sur sagt Lady Gaga, das Kleid sagt Cate­ri­na Valen­te, die Tän­zer sagen Schü­ler­wett­be­werb: Lisa Gar­den, die bis­lang ver­heim­lich­te Schwes­ter von Maxi Gar­den (DE 1988)

Genie oder Wahn­sin­ni­ger? Was sagst Du zu Sal­va­dor Sobrals Auftritt?

  • Ich lie­be ihn! Total bezau­bernd, total authen­tisch, sehr berüh­rend. Der muss nach Kiew! (41%, 30 Votes)
  • Wie gaga ist das denn? Das wäre ja 1956 schon inak­zep­ta­bel gewe­sen. Mach’s weg! (16%, 12 Votes)
  • Du lobst auf ein­mal eine Bal­la­de? Müs­sen wir uns Sor­gen machen? (16%, 12 Votes)
  • Ich kann per­sön­lich null damit anfan­gen, aber es fällt zumin­dest auf. Respekt. (14%, 10 Votes)
  • Ich mag das durch­aus, aber das ist in Kiew völ­lig chan­cen­los. (12%, 9 Votes)

Total Voters: 73

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7 Comments

  • Lisa Gar­dens Auf­tritt ist unge­fähr so modern wie Kolig Kay 1997 (die Tän­ze­rin ist auf jeden Fall die­sel­be). Wie wol­len die jemals wie­der ins Fina­le kom­men? Oder wol­len die das gar nicht…?

  • Das ist ja groß­ar­tig, Sal­va­dor Sobral möch­te ich unbe­dingt in Kiew, ich ver­spre­che auch, dass ich für ihn anru­fe, wenn er im 2. Semi ist. Der Moment als ihm der Ohr­ste­cker raus­plumpst: so ver­spielt. Das ist toll, er schaut sku­ril aus, aber das Lied ist so schön und sei­ne Stim­me und alles passt dazu. Mich hat das bereits beim ers­ten Mal erwischt, aber du, wer­ter Blog­ger, hast ihn ja auch in den “höchs­ten” Tönen ange­prie­sen. Dan­ke dafür 🙂

  • Wie wun­der­bar! Bin ganz geflasht von Sal­va­dor, hof­fent­lich schafft er das! Es gibt übri­gens schon eine CD von ihm bei spo­ti­fy, sehr schön pro­du­ziert! Lis­boa Chill Out Style…

  • https://espalhafactos.com/2017/02/21/salvador-sobral-hospitalizado/ Wenn ich das rich­tig über­setzt habe (per dic­tion­a­ry), dann trug Sal­va­dor Sobral nicht ohne Grund die­se merk­wür­di­ge Klei­dung, denn er hat wohl einen Nabel­bruch, der dem­nächst ope­riert wer­den soll.
    Hof­fent­lich ist er bis zum 05.03. (Final­tag) wie­der fit genug, sein hüb­sches, ver­spiel­tes klei­nes can­cao genau­so fra­gil und “kuri­os” vor­zu­tra­gen. Ich hal­te ihm die Daumen.

  • @Oliver
    Groß­ar­ti­ger Kom­men­tar zu Sal­va­dor Sobral. Ich hat­te tat­säch­lich die gan­ze Zeit Audrey Hepb­urn vor Augen. Und ein echt schö­nes Lied in den Ohren. Man ist zawngs­läu­fig aus der Zeit hin­aus kata­pul­tiert und das soll­te man auch. Zau­ber­haft. Dem drü­cke ich die Daumen.

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