Vier­ter Super­sams­tag 2017: die Han­de­ta­sche muss leben­dig sein

Neben den drei Ent­schei­dun­gen in der Ukrai­ne, Mol­da­wi­en und Däne­mark fan­den am gest­ri­gen Super­sams­tag zeit­gleich auch noch Euro­vi­si­ons-Vor­run­den in Schwe­den, Litau­en und Island statt. Dabei zog das vier­te Vier­tel­fi­na­le des Melo­di­fes­ti­valen mal wie­der die höchs­te Auf­merk­sam­keit auf sich, vor allem, weil die Grand-Prix-Gewin­ne­rin von 2012, Loreen, es hier mit ihrem bereits im Vor­feld extrem gehyp­ten, neu­en Bei­trag ‘State­ments’ ver­such­te, einer extrem düs­te­ren, dräu­en­den Elek­tro­bal­la­de im Sti­le von Sia, die vor allem auf eine ein­drück­li­che opti­sche Prä­sen­ta­ti­on setz­te. Und die­se erwies sich auch tat­säch­lich als beein­dru­ckend, ließ sich die sicht­lich geal­ter­te Euro­vi­si­ons­ve­te­ra­nin, die man­che spit­ze Zun­ge rein optisch an das unlängst viel zu früh ver­stor­be­ne Musik­ge­nie der Acht­zi­ger­jah­re, Pete Burns von Dead or Ali­ve, erin­ner­te, doch von meh­re­ren Dou­bles im unter­schied­li­chen Alter beglei­ten, wel­che die Sän­ge­rin in ver­schie­de­nen Lebens­ab­schnit­ten dar­stel­len soll­ten. Beson­ders stark präg­te sich dabei die jun­ge Loreen ein, die zunächst mit einem Hei­li­gen­schein auf der Büh­ne hock­te, im Refrain aller­dings eher einen vom Teu­fel beses­se­nen Ein­druck hin­ter­ließ. Für Ver­wir­rung außer­halb Schwe­dens dürf­te auch der Ein­satz einer Tän­ze­rin gesorgt haben, die unab­läs­sig eine Hand­ta­sche schwang – eine Anspie­lung auf das berühm­te Foto der Frau mit der Hand­ta­sche, die damit 1985 im süd­schwe­di­schen Städt­chen Väx­jö bei einem Neo­na­zi-Auf­marsch auf eine Hass­glat­ze ein­prü­gel­te. Letz­tes Jahr soll­te sie dort ein Denk­mal erhal­ten, über das man sich im Stadt­rat aber nicht eini­gen konn­te – absur­der­wei­se, weil die Dar­stel­lung der Tat der jüdi­schen Dame, deren Mut­ter im KZ saß, gewalt­ver­herr­li­chend sei. Die Nati­on debat­tier­te erregt, und die Sän­ge­rin mit marok­ka­ni­schen Wur­zeln ergriff mit die­ser Show bewusst Partei.

Als Gesamt­kunst­werk gran­di­os, als Grand-Prix-Lied min­der­ge­eig­net: Loreens ‘State­ments’ (SE)

Lei­der muss man sagen, dass die spek­ta­ku­lä­re Büh­nen­show ein wenig den Text des Songs über­schat­te­te, in dem Loreen, wie schon ihr ita­lie­ni­scher Euro­vi­si­ons­kol­le­ge Fran­ces­co Gab­ba­ni, das “Kar­ma” anruft und düs­te­re Wor­te über den aktu­el­len Zustand unse­res Glo­bus fin­det. Wobei man hier­von aller­dings dank der aus­ge­präg­ten Nei­gung der Sän­ge­rin zum Nuscheln so gut wie nichts ver­stand. Und letzt­lich ver­moch­te dies alles nicht zu ver­hül­len, dass eine wich­ti­ge Zutat voll­stän­dig fehl­te: ein Lied näm­lich. ‘State­ments’ erwies sich als eine Art von Sound­track zu Loreens Art­house-wür­di­ger Dar­bie­tung und wur­de voll und ganz sei­ner Auf­ga­be gerecht, die pas­sen­de Stim­mung zum drei­mi­nü­ti­gen Mini-Film zu erzeu­gen. Als eigen­stän­di­ger Song funk­tio­niert die Num­mer aller­dings weni­ger gut. Das sahen wohl auch die schwe­di­schen Zuschauer/innen so, wel­che die Euro­vi­si­ons­hel­din ledig­lich in die Andra Chan­sen (AC) wei­ter­wähl­ten, ver­mut­lich zum Schock vie­ler euro­päi­scher Fans, wel­che Loreen inner­lich schon längst als erneu­te Ver­tre­te­rin des Wasa-Lan­des abge­hakt hat­ten. Die ob der Majes­täts­be­lei­di­gung offen­sicht­lich ange­piss­te Sän­ge­rin fehl­te, wie Fans berich­te­ten, bei der anschlie­ßen­den Pres­se­kon­fe­renz nach der Mel­lo-Run­de. Neben Loreen zog auch Axel Schyl­ström in die AC ein. Der über­leb­te als Jugend­li­cher einen Unfall mit Stark­strom, wovon die von ihm völ­lig offen zur Schau gestell­ten mas­si­ven Nar­ben auf Ober­kör­per und Gesicht zeug­ten, die ihn aller­dings nicht abhiel­ten, einen vor­schrifts­mä­ßig getanz­ten Upt­em­po­knül­ler in Lan­des­spra­che zu prä­sen­tie­ren. Direkt till Glo­ben (DTG) ging es für die blon­dier­te Wik­to­ria mit einer Art Coun­try­schla­ger im Dis­co­fox-Stampf­sound sowie für den schon aus frü­he­ren Jah­ren bekann­ten Joi­ker Jon Hen­rik Fjäll­gren, der in einer extrem schwul glit­zern­den Tracht vor sich hin brab­bel­te und jodel­te, wäh­rend sei­ne Beglei­te­rin Ani­nia für eine schla­ger­haft gesun­ge­ne Hook­li­ne sorgte.

Nie­mand tri­via­li­siert die alt­her­ge­brach­te Kul­tur der Lap­pen so anspre­chend wie der nied­li­che Jon Hen­rik (SE)

Ins­ge­samt eine ganz unter­halt­sa­me Mel­lo-Run­de, wenn­gleich nicht unbe­dingt die stärks­te aller Zei­ten. Oder bin ich mitt­ler­wei­le ein­fach zu ver­wöhnt? In Litau­en muss­ten unter­des­sen die fabel­haf­ten Queens of Roses und ihr fan­tas­ti­scher Dis­co­schla­ger ‘Fisher­man’ dran glau­ben. Man will uns die­ses Jahr aber auch so über­haupt kei­nen Spaß gön­nen! Das gilt auch für Island, wo mit ‘Bamm­ba­ramm’ der ein­zi­ge (!) anhör­ba­re Vor­ent­schei­dungs­bei­trag bereits in der gest­ri­gen ers­ten Vor­run­de des Söng­va­kepp­nin aus­schied. Aller­dings hat­te der auch von allem ein biss­chen zu wenig zu bie­ten: zu wenig druck­vol­le Beats, die für den nöti­gen Schub hät­ten sor­gen kön­nen, zu wenig Tem­po (mit der 1,25fachen Geschwin­dig­keit abge­spielt, hört es sich rich­ti­ger an), zu wenig Gla­mour – die Sän­ge­rin Hil­dur Kris­tín Ste­fáns­dót­tir und ihre Begleittän­ze­rin­nen tra­ten in rosa­far­be­nen Hoo­dies auf! – und vor allem deut­lich zu wenig Stimm­kraft. Nicht nur, dass Hil­durs Glit­zer­mi­kro zum Songauf­takt noch nicht offen war und wir von der ers­ten Text­zei­le kaum etwas hör­ten (nicht wei­ter schlimm, da auf Islän­disch): auch wäh­rend der rest­li­chen drei Minu­ten sang die etwas ver­schüch­tert aus­se­hen­de Frau Sté­fans­dót­tir viel zu zurück­hal­tend und blass für solch einen Upt­em­po­ti­tel. Ihr Abstüt­zen am Büh­nen­gim­mick, einem gigan­ti­schen, beleuch­te­ten Sperr­holz­herz, wirk­te dann auch weni­ger kokett als besorg­nis­er­re­gend: “kippt die jetzt gleich um?”, dach­te ich in die­sem Augen­blick. Scha­de um die ver­schenk­te Gelegenheit!

Augen­schein­lich heizt der islän­di­sche Sen­der RÚV sein Stu­dio nicht ordent­lich (IS)

Wie man es rich­tig macht, bewies statt­des­sen der Kon­kur­rent Aron Han­nes Emils­son, der im wei­ßen Reiß­ver­schluss-T-Shirt und mit Base­ball­cap zwar auch kei­nen Gla­mour ver­brei­te­te, dafür aber mit den pos­sier­lich getanz­ten ‘Nótt’ einen kna­cki­gen Elek­tro­schla­ger ablie­fer­te. Aron qua­li­fi­zier­te sich fol­ge­rich­tig für das Fina­le, eben­so wie das wirk­lich hem­mungs­los vor sich hin sül­zen­de Hete­ro­pär­chen Arnar Jóns­son und Rakel Páls­dót­tir sowie der Sin­ger-Song­wri­ter Rúnar Eff Rún­ars­son, der mit ‘Mér við hlið’ zwar lei­der auch nur eine nur mäßig anspre­chen­de Mid­tem­po­bal­la­de bei­steu­er­te, die­se aber mit sehr viel Hin­ga­be und äußerst inter­es­sant anzu­schau­en­den Kie­fer­stel­lun­gen zele­brier­te. Lang­jäh­ri­ge Leser/innen mei­nes Blogs über­rascht es sicher nicht, dass der bul­li­ge Wikin­ger zudem rein optisch genau mei­nem Män­ner­ge­schmack ent­spricht und ich ihm allei­ne des­we­gen schon die Dau­men drü­cke. Außer­dem kann ich einen Besuch sei­nes You­tube-Kanals jedem nur ans Herz legen, denn zum einen ent­zückt das dort vor­han­de­ne pro­fes­sio­nel­le Musik­vi­deo für sei­nen Vor­ent­schei­dungs­bei­trag mit einer amü­san­ten Geschich­te, und zum ande­ren fin­det sich dort eine hin­rei­ßen­de Cover­ver­si­on des Bon­nie-Tyler-Klas­si­kers ‘Hol­ding out for a Hero’, einem mei­ner aller­liebs­ten, ja gera­de­zu gehei­lig­ten Trash-Pop-Stü­cke aller Zei­ten, bei dem ich es nor­ma­ler­wei­se für strengs­tens zu ahnen­de Blas­phe­mie hal­te, sich dar­an zu ver­grei­fen. Rúnar ent­schwult die­se fan­tas­ti­sche High-Camp-High-Ener­gy-Num­mer sogar noch und macht dar­aus eine fra­gi­le, inti­me Blues­bal­la­de – und die ist herz­er­grei­fend und sensationell!

Grrrrrr! Rúnar Eff (IS)

5 Comments

  • Stim­me voll und ganz dei­nen Aus­füh­run­gen zu Loreen zu! 🙂

    *Klug­scheiß­mo­dus on* Zwei klei­ne Berich­ti­gun­gen zum kor­rek­ten Schwe­disch: Die süd­schwe­di­sche Stadt heißt Väx­jö (also mit ä). Und Direkt till Glo­ben ver­trägt das Doppel‑L. *Klug­scheiß­mo­dus off*

    Und ganz all­ge­mein an die­ser Stel­le herz­li­chen Dank für die wun­der­ba­ren Stel­lung­nah­men über all die Jah­re, vor allem auch über die Per­len der mir sonst unbe­kann­ten Vorvorentscheide!

  • Die aus­drucks­star­ke Per­for­mance von Loreen in aller Ehren – aber ich brau­che die 3 minü­ti­ge Pina Bausch Num­mer mit Gesang nicht beim ESC. Klar muss Sie (Loreen) eine gewis­se Insze­nie­rung ” bediehnen,aber dann doch lie­ber bei einem Tanz Fes­ti­val in Dormhagen.(oder gibt es da nur das Schla­ger Fes­ti­val mit Uschi Blum ???? )
    Mir gehen sol­che ” Insze­nie­run­gen” mitt­ler­wei­le auf den Keks weil sie unter ande­rem vom lang­wei­li­gem Lied ablen­ken und ver­su­chen in 3 Minu­ten Geschich­te auf­zu­ar­bei­ten oder ein­fach nur rein­pa­cken. Aber wenn in ver­gan­ge­nen Jah­ren der Gewin­ner ne Gei­ge hat­te oder sei­nen Umhang in die Ecke warf – gab es im dar­auf fol­gen­den Jahr eini­ge Künst­ler die das ja unbe­dingt auch (nach) machen muss­ten! Supi! Wäre ja auch nur zu schön gewe­sen Madame Loreen hät­te sowas in der Art wie das genia­le ” my heart is refu­sing me” gesun­gen .… ist Ihr bestimmt mitt­ler­wei­le zu seicht .….

  • Bezüg­lich Loreen: Wir haben über 40 Bei­trä­ge in Kiew, da darf neben “kon­ven­tio­nel­len” Lie­dern ruhig auch mal ein arti­fi­zi­el­le­res Musik­stück dabei sein, fin­de ich.

  • Ich muss jetzt auch noch­mal Klug­schei­ßen, denn “Direkt till Glo­ben” heißt es seit 2013 lei­der nicht mehr, son­dern “Direkt till Friends Arena”.

    Und ich mei­ne, die “Hei­li­gen­schein”- und die “Vom Teu­fel beses­se­ne” Loreen waren zwei unter­schied­li­che Dar­stel­le­rin­nen. Mir gibt Loreens Lied UND Auf­tritt übri­gens nichts. Ich glau­be, das wird nix in der Andra Chansen.

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