Ein radi­ka­ler Neu­an­fang: deut­scher Vor­ent­scheid wird (mal wie­der) generalüberholt

Die ARD traut den Deut­schen nicht mehr”: so herr­lich poin­tiert wie sach­lich falsch beti­telt der (von mir sonst sehr geschätz­te) Medi­en­dienst DWDL sei­ne Mel­dung über die heu­te Nach­mit­tag frisch ver­kün­de­te Neu­aus­rich­tung des hei­mi­schen Vor­ent­schei­dungs­ver­fah­rens, mit wel­cher der NDR nach den durch­gän­gig hin­te­ren und hin­ters­ten Plät­zen der letz­ten Jah­re beim euro­päi­schen Wett­sin­gen das Ruder her­um­rei­ßen möch­te. Wahr ist: der für den deut­schen Euro­vi­si­ons­bei­trag ver­ant­wort­li­che Sen­der holt sich end­lich exter­nen Sach­ver­stand mit an Boot und folgt damit ein Stück weit den Rat­schlä­gen hei­mi­scher Euro­vi­si­ons­blogs. Bei der Aus­wahl der Kandidat/innen für den Vor­ent­scheid und bei unse­rem Lied für Lis­sa­bon ent­schei­det künf­tig ein ein­hun­dert­köp­fi­ges soge­nann­tes “Euro­pa-Panel” mit, das den Geschmack der­je­ni­gen Men­schen mög­lichst genau abbil­den soll, die im Mai 2018 schluss­end­lich für unse­ren Bei­trag anru­fen und ihm so zu Punk­ten ver­hel­fen sol­len: die euro­päi­schen Zuschauer/innen (also die­je­ni­gen außer­halb Deutsch­lands) näm­lich. “Min­des­tens 10.000 Men­schen” will der NDR dazu gemein­sam mit der Big-Data-Fir­ma Simon Kucher & Part­ners über die sozia­len Netz­wer­ke anspre­chen, in einem mehr­stu­fi­gen Ver­fah­ren sol­len mit Hil­fe von “vie­len Musik­fra­gen und Bewer­tun­gen”, so Tho­mas Schrei­ber in der Wolfs­bur­ger All­ge­mei­nen, aus ihnen die­je­ni­gen her­aus­ge­fil­tert wer­den, die uns ein ver­läss­li­ches Bild davon lie­fern mögen, was bei unse­ren Freun­den und Nach­barn in Euro­pa ankom­men könn­te. Damit führt der Ham­bur­ger Sen­der die beim dies­jäh­ri­gen For­mat Unser Song 2017 mit der (rein infor­mel­len) Ein­bin­dung der Euro­vi­si­ons-App erst­mals zur Anwen­dung gekom­me­ne Idee, stär­ker auf die ent­schei­den­de inter­na­tio­na­le Ziel­grup­pe für das deut­sche Lied zu hören, kon­se­quent fort, ver­mei­det aber gleich­zei­tig, dass die Abstim­mung durch die hier­für denk­bar schlech­tes­te Grup­pe geka­pert wird: die Hard­core-ESC-Fans mit ihrem bekann­ter­ma­ßen völ­lig nicht­re­prä­sen­ta­ti­ven, um nicht zu sagen hor­ri­blen Musik­ge­schmack näm­lich. “Eine Bewer­bung für das Panel ist nicht mög­lich,” heißt es daher auch in der NDR-Pres­se­mel­dung. Klu­ge Entscheidung!

Aus den eher zufäl­li­gen “Euro­vi­si­on Vibes” mit rei­nem Emp­feh­lungs­cha­rak­ter wird das sta­tis­tisch rele­van­te “Euro­pa-Panel” mit ech­tem Einfluss.

Dane­ben greift der NDR ein zwei­tes Instru­ment auf, das seit Jah­ren bereits sehr erfolg­reich (unter ande­rem) beim Traum-Vor­ent­scheid aller Grand-Prix-Fans, dem Melo­di­fes­ti­valen, zum Ein­satz kommt: die inter­na­tio­na­le Jury! Sie soll laut Sen­der “aus 20 bis 25 Per­so­nen bestehen, die in den ver­gan­ge­nen Jah­ren in ihren jewei­li­gen Hei­mat­län­dern Mit­glie­der der natio­na­len Jury waren und bei der Abstim­mung im ESC-Fina­le ihren musi­ka­li­schem Sach­ver­stand unter Beweis gestellt haben”. 2017 sorg­te die inter­na­tio­na­le Jury bei­spiels­wei­se dafür, dass Schwe­den anstel­le des bul­li­gen Hip-Hop­pers Nano den smar­ten Robin Beng­ts­son und sei­nen hübsch cho­reo­gra­fier­ten “Fast-Food-Pop” (S. Sobral) nach Kiew ent­sand­te. Und erspar­te unse­ren Ohren und Augen damit erheb­li­ches Leid sowie dem aktu­el­len Mut­ter­land des Grand Prix ein pein­li­ches Ergeb­nis beim euro­päi­schen Wett­be­werb. Bei­de Gre­mi­en, also sowohl das aus gewöhn­li­chen Men­schen bestehen­de Euro­pa-Panel als auch die inter­na­tio­na­le Jury, ver­fü­gen bei der Inter­pre­ten­aus­wahl über ein maß­geb­li­ches Mit­spra­che­recht und stim­men auch im Vor­ent­scheid gleich­be­rech­tigt mit den deut­schen Fernsehzuschauer/innen ab. Und ja, deren Ein­fluss redu­ziert sich damit deut­lich! Das ist aber auch gut so, wenn wir an sol­che kata­stro­pha­len Publi­kums­fehl­ent­schei­dun­gen der letz­ten Jah­re den­ken wie bei­spiels­wei­se die­je­ni­ge für den Cas­ting­troll Andre­as Küm­mert anstatt für Laing (2015) oder gar die für die NDR-Cas­ting-Staub­mäu­se von Elai­za anstel­le von Unhei­lig (2014). Da hat der NDR schon ver­dammt recht, den Deut­schen nicht mehr zu trau­en, um die DWDL-Schlag­zei­le noch­mals auf­zu­grei­fen! Voll­stän­dig ent­mach­tet ist das Publi­kum damit jedoch nicht: natür­lich kön­nen die TV-Zuschau­er/in­nen das Ergeb­nis durch ihre Abstim­mung noch immer ver­sau­en. Die Wahr­schein­lich­keit dafür sinkt nur etwas.

Hät­ten uns 2015 beim ESC garan­tiert Punk­te beschert: die fabu­lö­sen Laing. Doch die dum­men Deut­schen ver­ga­ben die Chance.

Sag mir quan­do, sag mir wann?

Einen Ter­min für den erneut von der fabel­haf­ten Bar­ba­ra Schö­ne­ber­ger mode­rier­ten Vor­ent­scheid gibt es noch nicht, laut NDR fin­det “die Show im Zeit­raum zwi­schen Ende Janu­ar und Anfang März statt”. Hier­für suchen die Ham­bur­ger über die offi­zi­el­le deut­sche Euro­vi­si­ons­sei­te noch bis zum 6. Novem­ber 2017 geeig­ne­te Kandidat/innen, und zwar “Ein­zel­künst­ler, Singer/Songwriter und auch Bands (maxi­mal sechs Per­so­nen)”. Ein eige­ner Song ist nicht erfor­der­lich, aber auch nicht aus­drück­lich aus­ge­schlos­sen, wie es 2017 ärger­li­cher­wei­se noch der Fall war. Dane­ben will der Sen­der auch selbst Wunschinterpret/innen anspre­chen oder sich sol­che von “Kom­po­nis­ten, Pro­du­zen­ten und Plat­ten­fir­men” vor­schla­gen las­sen. “Aus allen Kan­di­da­ten wäh­len die Mit­glie­der des Euro­pa-Panels 20 mög­li­che Teil­neh­mer des Vor­ent­scheids aus. So soll sicher­ge­stellt wer­den, dass im Cas­ting-Pro­zess weder per­sön­li­che Vor­lie­ben noch ein rein natio­na­ler Musik-Geschmack die Wahl des Teil­neh­mers für Lis­sa­bon domi­nie­ren”. Mit die­sen inter­na­tio­nal bestimm­ten Zwan­zig will der NDR anschlie­ßend “im Stu­dio arbei­ten, um ihren Gesang und ihre Büh­nen­prä­senz opti­mal beur­tei­len zu kön­nen. Auf Basis die­ser Ergeb­nis­se wäh­len das Euro­pa-Panel und die inter­na­tio­na­le Jury die fünf Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer am deut­schen Vor­ent­scheid aus,” so der Sen­der heu­te. Klingt nach einem wei­te­ren Nach­wuchs-Wett­be­werb, und auch das muss grund­sätz­lich kei­ne schlech­te Sache sein. Eta­blier­te Künstler/innen wird der NDR nach dem Naidoo-Deba­kel ohne­hin so schnell nicht mehr fin­den, und wie nicht zuletzt das Bei­spiel Lena Mey­er-Land­rut belegt, kann ein fri­sches, unver­brauch­tes Talent durch­aus etwas rei­ßen. Auf sie bezieht sich auch Imre Grimm von der Wolfs­bur­ger All­ge­mei­ne in sei­ner Ein­schät­zung des neu­en Ver­fah­rens: “Tat­säch­lich ist die Ent­mach­tung der Plat­ten­fir­men, die stets ihre eige­nen Inter­es­sen ver­tra­ten, ein rich­ti­ger Schritt. Alles ist bes­ser, als wenn fünf bis sie­ben Her­ren im Hin­ter­zim­mer aus­kun­geln, wel­cher ihrer Schütz­lin­ge ein paar PR-Tage ganz gut gebrau­chen könn­te. Dass im neu­en Ver­fah­ren die Song­aus­wahl nach ganz hin­ten rückt, ist für deut­sche Ver­hält­nis­se ein radi­ka­ler Ansatz. Der frei­lich hat schon ein­mal funk­tio­niert: Erst in der aller­letz­ten Aus­ga­be der Raab­schen Cas­ting­rei­he Unser Star für Oslo war Lena 2010 mit ihrem Sie­ger­ti­tel ‘Satel­li­te’ zu hören”.

…was letzt­lich zu die­ser Stern­stun­de der deut­schen TV-Geschich­te führte!

What about my Song?

Was uns zum wich­tigs­ten Aspekt der Neu­be­ord­nung bringt, und damit lei­der auch zum unklars­ten: dem Song! Denn all die auf­wän­dig orga­ni­sier­te Teil-Fremd­be­stim­mung und auch das big­ges­te Data nutzt natür­lich über­haupt nichts, wenn der NDR nicht das drän­gends­te Pro­blem beim deut­schen Vor­auswahl­ver­fah­ren löst: die man­geln­de Aus­wahl und die völ­li­ge Unge­eig­ne­t­heit der kom­mis­sio­nier­ten Lie­der! Gera­de mal zwei Varia­tio­nen von beige waren es in die­sem Jahr, das Publi­kum hat­te prak­tisch die Wahl zwi­schen Pest und Cho­le­ra. Auch hier gelobt Tho­mas Schrei­ber Bes­se­rung: man wol­le “inter­na­tio­nal wie­der­erkenn­ba­rer, kan­ti­ger und erfolg­rei­cher” wer­den. Wie er das kon­kret zu bewerk­stel­li­gen gedenkt? Aus­ge­rech­net in die­sem über Wohl und Wehe ent­schei­den­den Bereich bleibt die Ankün­di­gung aus Ham­burg ver­hält­nis­mä­ßig vage: “auf Grund­la­ge vor­her defi­nier­ter musi­ka­li­scher Gen­res” (die da hof­fent­lich nicht wie­der lau­ten: Sin­ger-Song­wri­ter-Pop, Sin­ger-Song­wri­ter-Pop, Sin­ger-Song­wri­ter-Pop und Sin­ger-Song­wri­ter-Pop) wol­le man “mit Kom­po­nis­ten, Pro­du­zen­ten und Labels für jeden der fünf Teil­neh­mer nach einem authen­ti­schen, beson­de­ren Lied suchen und den dazu pas­sen­den Auf­tritt ent­wi­ckeln”. Nun sind fünf Songs schon mal bes­ser als zwei, und zu der Ent­schei­dung, die­se Titel vor­her jeweils dem dafür geeig­nets­ten Inter­pre­ten zuzu­ord­nen, anstatt sie von allen Vorentscheidungsteilnehmer/innen sin­gen zu las­sen und damit zu ris­kie­ren, dass am Ende eine nicht wirk­lich har­mo­ni­sche Kom­bi­na­ti­on aus Lied und Interpret/in gewinnt, kann man dem NDR nur gra­tu­lie­ren. Ob die inter­na­tio­na­le Jury und das Euro­pa-Panel auch bei der Song­aus­wahl mit ein­be­zo­gen wer­den, lässt sich aus der Pres­se­mel­dung aller­dings nicht ent­neh­men, dabei wäre es gera­de hier von aller­höchs­ter Wich­tig­keit. Hat doch der NDR in den ver­gan­ge­nen Jah­ren hin­rei­chend unter Beweis gestellt, dass er selbst bzw. das von ihm bis dato zu Rate gezo­ge­ne Exper­ten­gre­mi­um unter kei­nen Umstän­den mehr mit der Lied­aus­wahl betraut wer­den darf, soll nicht wie­der ein garan­tier­ter letz­ter Platz dabei her­aus­kom­men. Unklar bleibt auch, wie Schrei­ber die ange­spro­che­nen “Kom­po­nis­ten, Pro­du­zen­ten und Labels” dazu moti­vie­ren will (bzw. kann), zur Abwechs­lung mal ech­te Knül­ler abzu­lie­fern und nicht nur wie­der die sel­ben halb­ga­ren Laden­hü­ter wie bis­her. Oder, wie Imre Grimm es so schön zusam­men­fasst: “Die Wahr­heit frei­lich ist so bit­ter wie banal: Mit einem mit­tel­gu­ten Song einer mit­tel­gu­ten Inter­pre­tin ist beim ESC kein Blu­men­topf zu gewin­nen. Ob mit Mam­mut­ju­ry oder ohne”. Amen!

Rat­schlag vom aktu­el­len Platz­hirsch: so geht der per­fek­te Eurovisionssong!

Nach­trag 29.10.2017: Tho­mas Schrei­ber hat dem Prinz-Blog ein umfang­rei­ches Inter­view gege­ben und dabei die Infor­ma­tio­nen zum neu­en Vor­ent­schei­dungs­for­mat prä­zi­siert.

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6 Comments

  • Gleich zwei neue Sau­en wer­den durch das Dorf getrie­ben, um spä­ter die eige­ne Unfä­hig­keit kaschie­ren zu kön­nen. Da sag noch einer, der NDR hät­te kei­ne Ideen.

  • Grund­la­ge vor­her defi­nier­ter musi­ka­li­scher Gen­res” erin­nert mich neben Oli­vers Klam­mer­bei­spiel frap­pant an 2007. Da hie­ßen die Gen­res Seicht­pop (Mon­ro­se), Seicht­rock (Kun­ze) und Seichts­wing (Cice­ro). Inter­na­tio­na­les Egeb­nis bekannt. 🙁

  • Seufz, die PM wur­de mal wie­der zu Tode abge­stimmt, so dass neben den erwar­te­ten Buz­zwords (wie­der­erkenn­bar, kan­tig) vor allem Ver­wir­rung vor­herrscht. Inter­na­tio­na­le Jury gut, aber was machen die nun genau – nur Inter­pre­ten­aus­wahl? Wozu braucht man dann noch ein zusätz­li­ches inter­na­tio­na­les “Panel” und wie wird das mit “big data” aus­ge­wählt? Irgend­wie hab ich die Befürch­tung, dass da vie­le Leu­te drin­set­zen wer­den nach dem Mot­to “mei­ne Toch­ter stu­diert gera­de Mode­de­sign in Paris und ihr Freund ist Stras­sen­mu­si­ker, die soll­ten umbe­dingt dabei sein.” Etwas besorg­nis­er­re­gend die kur­ze Ein­rei­chungs­frist (wur­den die Plat­ten­fir­men auch ert letz­te Woc­che infor­miert?) sowie die Tat­sa­che, dass nur 5 am Fina­le teil­neh­men wer­den. Na ja, theo­re­tisch soll­te dann die Sen­dung immer­hin nach 1 Stun­de fer­tig sein.

  • Bar­ba­ra Schö­ne­ber­ger ist wie im Prinz-Blog Inter­view zu lesen übri­gens noch nicht safe als Mode­ra­to­rin des Vor­ent­scheids. Viel­leicht gibt’s auch hier nen radi­ka­len Neu­an­fang? Silbereisen! 🙂

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