Die Hit­ze der Jungs: France Gall ist tot

Im Alter von 70 Jah­ren starb heu­te in Paris die Sie­ge­rin des Euro­vi­si­on Song Con­tests von 1965, France Gall, infol­ge eines Krebs­lei­dens. Die als Isa­bel­le Gene­viè­ve Marie Anne Gall gebür­ti­ge Fran­zö­sin, die den patrio­ti­schen Künst­le­rin­nen­na­men France wähl­te, um nicht mit ihrer Grand-Prix-Kol­le­gin Isa­bel­le Aubret (→ FR 1962, 1968) ver­wech­selt zu wer­den, brach laut Wiki­pe­dia mit Unter­stüt­zung ihrer Eltern bereits mit 15 Jah­ren die Schu­le ab, um als Sän­ge­rin Kar­rie­re zu machen. Schon ihre ers­te Sin­gle von 1963, das von ihrem Vater geschrie­be­ne ‘Ne sois pas si bête’ (Sei nicht so dumm), war im Hei­mat­land ein kom­mer­zi­el­ler Erfolg. Ihre Teil­nah­me als luxem­bur­gi­sche Ver­tre­te­rin beim Euro­vi­si­on Song Con­test 1965 mit dem von Ser­ge Gains­bourg, ihrem sei­ner­zei­ti­gen Stamm­kom­po­nis­ten, ver­fass­ten ‘Pou­pée de Cire, Pou­pée de Son’ öff­ne­te ihr die Türen zu einer inter­na­tio­na­len Kar­rie­re und mar­kier­te beim euro­päi­schen Gesangs­wett­be­werb zugleich eine Art von Demar­ka­ti­ons­li­nie auf dem Über­gang vom ver­schnarcht-staats­tra­gen­den Chan­son-Abend sei­ner ers­ten Deka­de zur musi­ka­lisch rele­van­ten Pop-Veranstaltung.

Sei doch nicht blöd und brich die unnüt­ze Schu­le ab: die jun­ge France Gall mit ihrem ers­ten Hit.

Dabei leb­te der von der erst 17jährigen France mit einer gera­de­zu köst­li­chen jugend­lich-nai­ven Unbe­küm­mert­heit vor­ge­tra­ge­ne Song auch von sei­ner lyri­schen Dop­pel­deu­tig­keit, wie bei so vie­len Lie­dern aus der Feder des Song-Por­no­gra­fen Gains­bourg, der es sich erklär­ter­ma­ßen zum Ziel gemacht hat­te, “die Jugend zu ver­der­ben”. So also besang France die ‘Pou­pée de Cire’, die Wachs­pup­pe, die unter “le Chaleur des Gar­çons” (der Hit­ze der Jungs) dahin­schmilzt und dabei zur ‘Pou­pée de Son’ (Schrei­pup­pe) wird: char­man­ter sind weib­li­che Ent­jung­fe­rungs­phan­ta­sien sel­ten beschrie­ben wor­den. Die Inter­pre­tin, die sich wäh­rend der Sie­ger­re­pri­se auf die Lip­pen bei­ßen muss­te, um nicht los­zu­la­chen, beton­te spä­ter glaub­haft, von die­sem Sub­text nichts gewusst zu haben. Wie übri­gens auch bei der skan­dal­um­wit­ter­ten Nach­fol­ge­sin­gle ‘Les Sucet­tes’ (‘Die Lut­sche­rin­nen’), die Gains­bourg noch im sel­ben Jahr für sie ver­fass­te und bei dem sie sich zunächst eben­falls nichts Böses dachte.

Woll­te von ihrem Sie­ger­song spä­ter nichts mehr wis­sen: France Gall beim Euro­vi­si­on Song Con­test 1965.

Rein­hard Krau­se über­setz­te in einer Gains­bourg-Werk­schau in der taz den Text wie folgt: „Annie ist scharf auf Dau­er­lut­scher, Anis­dau­er­lut­scher. Annies Anis­dau­er­lut­scher geben ihren Küs­sen einen Anis­ge­schmack. Für ein paar Pen­nys holt sie sich ihre Anis­dau­er­lut­scher. Wenn ihr das Anis­aro­ma der Lutsch­stan­ge die Keh­le hin­un­ter­rinnt, ist Annie selig.“ Der bit­te­re Anis spielt inso­fern eine beson­de­re Rol­le da er, wie Krau­se wei­ter aus­führt, “in Frank­reich vor allem im Pas­tis ent­hal­ten ist, einer weiß­li­chen Flüs­sig­keit.” Pikant laut Krau­se auch, “dass die kind­li­che Annie aus­ge­rech­net mit Pen­nys bezahlt, die pho­ne­tisch sehr nah am Wort Penis lie­gen”. Was “den meis­ten Hörern in jener noch eher zuge­knöpf­ten Zeit aller­dings auch erst auf­fiel, als Gains­bourg sei­ne eige­ne Ver­si­on her­aus­brach­te und an der Stel­le mit der Keh­le ein ver­nehm­li­ches Schluck­ge­räusch mach­te”. Nach­dem man die jun­ge France auf einer Japan-Tour über die Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­keit ihres Lie­des als Ode an den Oral­ver­kehr auf­klär­te, habe sie sich der­ma­ßen geschämt, dass sie für zwei Wochen kom­plett von der Bild­flä­che ver­schwand und ‘Les Sucet­tes’ nie wie­der sang. Auch von ihrem Grand-Prix-Lied distan­zier­te sie sich spä­ter ausdrücklich.

Lässt an Ein­deu­tig­keit aller­dings nichts mehr zu wün­schen übrig: der Video­clip zu ‘Le Sucettes’.

Zudem ver­leg­te sie ihren Arbeits­schwer­punkt ab 1966 nach Deutsch­land, wo sie zahl­rei­che eher pos­sier­lich anmu­ten­de Schla­ger auf­nahm. Ihren ers­ten deutsch­spra­chi­gen Hit – neben der nach­ge­ra­de grau­en­haf­ten Ein­deut­schung ihres Grand-Prix-Sie­ger­ti­tels als ‘Das war eine schö­ne Par­ty’ – fei­er­te sie 1968 mit dem kar­ne­val­esken ‘Zwei Apfel­si­nen im Haar’, einer Cover­ver­si­on des por­tu­gie­si­schen Titels ‘A Ban­da’. Im glei­chen Jahr nahm sie erst­ma­lig am Deut­schen Schla­ger­wett­be­werb teil, wo sie mit ‘Der Com­pu­ter Nr. 3’ einen damals noch futu­ris­ti­schen Aus­blick auf die Mög­lich­kei­ten der heu­ti­gen Dating-Por­ta­le im Inter­net gab und damit den drit­ten Platz beleg­te. Auch 1969 (‘Ein biss­chen Goe­the, ein biss­chen Bona­par­te’) und 1970 (‘Dann schon eher der Pia­no-Play­er’) trat sie bei dem vom ZDF aus­ge­rich­te­ten Schla­ger­fes­ti­val an. Einen wei­te­ren Schun­kel­hit hat­te sie mit ‘Links vom Rhein und rechts vom Rhein’. Aber auch Lie­der wie der iro­ni­sche Stern­zei­chen-Schla­ger ‘Was­ser­mann und Fisch’ genie­ßen heu­te zu Recht Kultstatus.

Vor­sprung durch Tech­nik: France lässt sich ihren Galan vom Com­pu­ter aussuchen.

In den Sieb­zi­gern wech­sel­te sie, des aus­ge­reiz­ten Jung­mäd­chen­images und der alber­nen Schla­ger über­drüs­sig, wie­der zurück in ihre Hei­mat. Dort ver­lieb­te sie sich in den Kom­po­nis­ten und Sän­ger Micha­el Ber­ger, den sie 1976 hei­ra­te­te und der ihr zahl­rei­che Titel auf den Leib schrieb. Unter den Songs aus Ber­gers Feder fand sich auch ihr bekann­tes­tes Stück, die Ella-Fitz­ge­rald-Femmage ‘Ella, elle l’à’, mit der sie 1988 ihren zwei­ten euro­pa­wei­ten Hit hat­te. Dabei war der Titel in Deutsch­land, wo sie damit meh­re­re Wochen die Chart­spit­ze blo­ckier­te und Gold­sta­tus erreich­te sowie ein kur­zes Revi­val des fran­zö­sisch­spra­chi­gen Pop aus­lös­te, kom­mer­zi­ell sogar noch erfolg­rei­cher als in Frank­reich, wo sie bereits seit den frü­hen Acht­zi­gern etli­che Chart-Erfol­ge mit aus­ge­reif­ten Pop-Titeln erzie­len konn­te und wo es für ‘Ella, elle l’à’ zum zwei­ten Platz reich­te. Mit ‘Bab­a­car’ folg­te noch ein klei­ne­rer Anschluss­tref­fer, danach wur­de es wie­der etwas ruhi­ger um sie.

Lief 1988 gefühlt ganz­jäh­rig drei­mal die Stun­de in deut­schen Radi­os: Fran­ces Fitzgerald-Femmage.

Die Neun­zi­ger waren für France Gall lei­der von etli­chen her­ben Schick­sals­schlä­gen geprägt: ihr Ehe­mann starb 1992 im Alter von nur 44 Jah­ren beim Ten­nis­spie­len an einem Herz­in­farkt (Sport ist Mord – ich sage es immer wie­der!), sie selbst erkrank­te ein Jahr spä­ter erst­ma­lig an Brust­krebs. 1997 starb ihre Toch­ter Pau­li­ne an der tücki­schen Stoff­wech­sel­krank­heit Muko­vis­zi­do­se. France zog sich dar­auf­hin aus der Öffent­lich­keit zurück und wid­me­te sich der ehren­amt­li­chen Arbeit für die gesell­schaft­li­che Wie­der­ein­glie­de­rung obdach­lo­ser Frau­en, wofür sie mit dem Orden der fran­zö­si­schen Ehren­le­gi­on aus­ge­zeich­net wur­de. Im Jah­re 2013 ver­öf­fent­lich­te die durch eine Cas­ting­show bekannt­ge­wor­de­ne Sän­ge­rin Jeni­fer Bar­to­li das Album Ma Decla­ra­ti­on mit 12 Cover­ver­sio­nen von France-Gall-Titeln, das sie als Ehrung ver­stan­den wis­sen woll­te, das bei Gall aber auf wenig Gegen­lie­be stieß und in einer öffent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mündete.

Wür­de ich mich jetzt an Fran­ces Stel­le auch nicht geschmei­chelt füh­len: Jeni­fer mit der Bull­do­zer-Vari­an­te von ‘Pou­pée de Cire’.

Mit France Gall ver­liert die Grand-Prix-Gemein­de eine ihrer größ­ten Iko­nen, deren Sieg im Jah­re 1965 als Mei­len­stein des Wett­be­werbs gel­ten muss und die künst­le­risch wie kom­mer­zi­ell erfolg­reichs­te Deka­de des Wett­be­werbs ein­läu­te­te, in wel­cher – heu­te nur noch schwer vor­stell­bar – ein enges Band zwi­schen den aktu­el­len Pop-Charts und dem euro­päi­schen Gesangs­wett­be­werb bestand und bei dem teils lang­an­hal­ten­de inter­na­tio­na­le Kar­rie­ren ihren Anfang fan­den (vgl. Abba, SE 1974). Auch wenn die Sän­ge­rin selbst auf­grund der sub­ti­len Ver­ar­sche durch ihren Kom­po­nis­ten spä­ter nichts mehr von ihrem dop­pel­deu­ti­gen Euro­vi­si­ons­song wis­sen woll­te und auch für kei­ne Gala­ver­an­stal­tung oder gar ein Fan-Club-Tref­fen zur Ver­fü­gung stand, kön­nen ihre Ver­diens­te für den Wett­be­werb – und für das euro­päi­sche Chan­son – gar nicht hoch genug geschätzt werden.

Ein biss­chen Geist, ein biss­chen Mut: France mit ihrem deutsch-fran­zö­si­schen Aus­söh­nungs­schla­ger von 1969.

2 Comments

  • Ich habe übri­gens letz­tens fest­ge­stellt, dass der Text von Wum – ich wünsch mir ne klei­ne Mie­ze­kat­ze super auf die Meol­die von Pou­pée de Cire gesun­gen wer­den kann.

  • Dan­ke für den wun­der­ba­ren Nach­ruf, und manch­mal ist eine Pfei­fe ein­fach nur eine Pfei­fe, aber hier ganz sicher nicht :))

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