Ers­ter Super­sams­tag 2018: Das Schiff sticht in See heu­te Nacht

Ich wur­de heu­te Mor­gen gebo­ren / Mein Name ist Gna­de / In der Mit­te des Mee­res / Zwi­schen zwei Län­dern, Gna­de”: was so poe­tisch anfängt, ent­puppt sich als ein glei­cher­ma­ßen lako­ni­scher wie viel­schich­ti­ger, in kei­ner Sekun­de ankla­gen­der oder agi­ta­to­ri­scher und damit umso fes­seln­der und tie­fer unter die Haut gehen­der Text über die huma­ni­tä­re Kata­stro­phe, die sich täg­lich vor unse­ren fest ver­schlos­se­nen Augen und Her­zen vor den hoch­ge­zo­ge­nen Gren­zen der Fes­tung Euro­pa abspielt. Das beim gest­ri­gen zwei­ten Semi­fi­na­le der fran­zö­si­schen Vor­ent­schei­dung Desti­na­ti­on Euro­vi­si­on in ein­heit­li­chen, exis­ten­zia­lis­tisch schwar­zen Kla­mot­ten auf­ge­tre­te­ne Elek­tro-Pop-Pär­chen Emi­lie Satt und Jean-Karl Lucas ali­as Madame Mon­sieur bedien­te sich bei sei­nem lyrisch wie musi­ka­lisch super­ben Bei­trag ‘Mer­cy’ zudem geschickt der lin­gu­is­ti­schen Dop­pel­deu­tig­keit des Titels, der sowohl als “dan­ke” wie als Ruf nach “Gna­de” gele­sen wer­den kann, was die Bei­den in der letz­ten Stro­phe (auch visu­ell) noch­mals auf­grif­fen. Die Jury zeig­te sich zu Recht beein­druckt und ver­sorg­te sie mit bei­na­he durch­ge­hen­den Höchst­wer­tun­gen, was ihnen einen beque­men Ein­zug ins Desti­na­ti­on-Fina­le am nächs­ten Sams­tag ermög­lich­te. Nicht min­der geschickt die Abmo­de­ra­ti­on des Vor­ent­scheid-Gast­ge­bers Garou, der dar­auf hin­wies, dass mit Gre­the und Jør­gen Ing­mann (→ DK 1963) schon ein­mal ein gemein­sam musi­zie­ren­des Pär­chen den Grand Prix gewann.

Tru­gen die Non­kon­for­mis­ten-Uni­form: die streng geschei­tel­te blon­de Madame und ihr gitar­re­spie­len­der Mon­sieur (FR).

Ob sich ein sol­ches in Lis­sa­bon wie­der­holt, steht unter­des­sen auf einem ganz ande­ren Blatt: so sehr der ein­gän­gig-melan­cho­li­sche Elek­tro-Pop von Madame Mon­sieur, die als Cover­ver­si­on zum Anhei­zen nicht aus Zufall den bekann­tes­ten Hit von Mylè­ne Far­mer wähl­ten, musi­ka­lisch über­zeug­te, so inten­siv lebt das Stück von den inten­si­ven Gefüh­len, die sein exqui­si­ter, rein fran­zö­sisch­spra­chi­ger Text aus­löst. Wenn man ihn ver­steht. Und das dürf­ten die wenigs­ten Europäer/innen. Zudem müss­te er auch erst mal den gal­li­schen Vor­ent­scheid gewin­nen, und da sind noch ein paar wei­te­re Hoch­ka­rä­ter aus dem ers­ten und die­sem Semi davor. Zu denen der eben­falls ins Fina­le wei­ter­ge­wan­der­te, erst sech­zehn­jäh­ri­ge Max Cin­na­mon mit sei­nem selbst­ver­fass­ten, super­fla­chen Dudel­funk-Hit ‘Ail­leurs’ zwar im künst­le­ri­scher Sin­ne kei­nes­falls zählt. Als Kon­kur­ren­ten muss man den wel­pen­haf­ten Lauch mit den äußerst nied­li­chen Segel­oh­ren aber den­noch ernst neh­men, schließ­lich schoss selbst mir bei sei­nem noch etwas tap­si­gen Pre­mie­ren­auf­tritt spon­tan die Mut­ter­milch ein. Und im Desti­na­ti­on-Fina­le ent­schei­den, anders als im gest­ri­gen Semi, auch die Zuschauer/innen mit! Aller­dings könn­te Max dort mei­nem bis­he­ri­gen fran­zö­si­schen Favo­ri­ten Lisan­dro Cuxi die Teen­ager-Fan-Stim­men strei­tig machen und so am Ende doch noch für einen Sieg von Madame Mon­sieur sorgen.

Zu alt für den Juni­or-ESC, zu jung für den ech­ten Wett­be­werb: Max Zimt (FR) bei sei­nem ers­ten TV-Auftritt.

Einen wei­te­ren extrem fran­zö­si­schen Bei­trag steu­er­te ein Inter­pret mit dem für deut­sche Ohren etwas unglück­li­chen Künst­ler­na­men Igit bei, der aus der­sel­ben The-Voice-Staf­fel stamm­te, aus wel­cher auch der von der Bild­re­gie zu Recht sehr oft ein­ge­fan­ge­ne Juror Amir Had­dad (→ FR 2016) her­vor­ging. In ‘Lis­boa Jeru­sa­lem’ erzähl­te (und zwar im Wort­sin­ne: Sin­gen konn­te man das nicht nen­nen!) er mit rau­er Stim­me zu einer lieb­li­chen Spiel­do­sen­me­lo­die eine sehn­süch­ti­ge Lie­bes­ge­schich­te, gespickt mit einer schein­bar wahl­lo­sen Auf­lis­tung euro­päi­scher Städ­te, seit jeher eine belieb­te Punk­te­ab­greifstra­te­gie beim Euro­vi­si­on Song Con­test. Doch ganz so zufäl­lig hat­te Igit die Städ­te gar nicht aus­ge­wählt: par­al­lel zu ihrer Nen­nung flamm­ten sie auf einer Welt­kar­te hin­ter ihm auf, und am Schluss sei­nes Vor­trags ver­band eine gezeich­ne­te Linie die Orte sei­ner Erzäh­lung, die nun – mit etwas Phan­ta­sie – ein Herz bil­de­te. Hach! Das nen­ne ich mal einen gelun­ge­nen visu­el­len Gim­mick, der es denn auch fast schaff­te, von der selbst für den offen­bar ange­streb­ten Jac­ques-Brel-Effekt mau­vai­sen stimm­li­chen Leis­tung Igits abzu­len­ken. Fast.

Immer­hin: Hut tra­gen kann er, der gar nicht igit­te Igit (FR).

Wo wir gera­de bei schreck­li­chen Stim­men sind: trotz groß­zü­gi­ger Punk­te­ga­ben durch die drei fran­zö­si­schen Juro­ren schei­ter­te der optisch sehr erfreu­li­che Sin­ger-Song­wri­ter Sweem mit sei­ner ent­täu­schend mit­tel­mä­ßi­gen Pop­num­mer ‘Là-Haut’ zu Recht an den drei inter­na­tio­na­len Wer­tungs­kol­le­gen, die sich offen­sicht­lich nicht ganz so stark von sei­ner immensen Büh­nen­prä­senz und sei­nen durch­drin­gen­den Augen beein­dru­cken lie­ßen. Und denen daher auf­fiel, dass er zwar den Refrain mit einer durch­aus ange­neh­men, fast schon jim­my­so­mer­vil­les­ken Kopf­stim­me sang, die Stro­phen jedoch mit sei­ner kräch­zend umher­ir­ren­den Brust­stim­me kom­plett in den Sand setz­te und dabei mehr fal­sche Töne traf als rich­ti­ge. Auch der ins Fina­le wei­ter­ge­kom­me­ne Vor­ab-Favo­rit Nas­si ver­sem­mel­te etli­che Noten. Ins­ge­samt lag das Niveau etwas nied­ri­ger als beim ers­ten Semi­fi­na­le von ver­gan­ge­ner Woche – wenn­gleich immer noch deut­lich höher als bei den deut­schen Grand-Prix-Vor­ent­schei­dun­gen der letz­ten fünf Jah­re zusam­men. Schön auch, dass man die Sen­dung im “rich­ti­gen” Fern­se­hen, auf TV5Monde, ver­fol­gen konn­te und nicht nur als wack­li­gen Inter­net­stream. Kön­nen wir das künf­tig bit­te jedes Jahr so hal­ten, lie­be Nach­barn? Mer­ci bien!

Looks ten, Voice four: Sweem hät­te ein­fach durch­gän­gig im Fal­set­to-Modus blei­ben sol­len (FR).

Vor­ent­scheid FR 2018 (2. Semifinale)

Desti­na­ti­on Euro­vi­si­on. Sams­tag, 20. Janu­ar 2018, aus den Stu­di­os de France – Bât 217, Paris. 9 Teilnehmer/innen. Mode­ra­ti­on: Garou.
#Inter­pretTitelJuryPlatz
01Max Cin­na­monAil­leurs5402
02IgitLis­boa Jérusalem4604
03June the GirlSame0808
04Lucie Vagen­heimMy World0009
05SweemLà-haut2605
06Madame Mon­sieurMer­cy5601
07Nas­siRêve de Gamin4603
08Sarah Cail­li­botTe me manques0807
09Jane Con­s­tanceUn Jour j’ai rêvé0806

Weni­ger ergie­big gestal­te­te sich die Aus­beu­te in der ers­ten Run­de des unga­ri­schen Vor­ent­schei­dungs­ver­fah­rens A Dal, die ges­tern Abend zeit­gleich über die Büh­ne ging. Dort stell­ten sich, unter­legt von auf­fäl­lig-ner­vi­gem Dosen­ap­plaus, zehn Acts (wei­te­re 20 fol­gen an den bei­den nächs­ten Sams­ta­gen) dem Urteil einer vier­köp­fi­gen, laber­freu­di­gen Jury und des Publi­kums, das sich aller­dings auf SMS-Voten beschrän­ken muss­te: die per Euro­vi­si­ons-App ein­ge­sam­mel­ten Stim­men zähl­te der Sen­der, wie Mode­ra­tor Fred­die (→ HU 2016) bekannt gab, wegen “tech­ni­scher Unre­gel­mä­ßig­kei­ten” nicht mit. Zu den geschei­ter­ten Teilnehmer/innen zähl­te das äußerst ori­gi­nell (nicht) benann­te Quar­tett Four­tis­si­mo… halt, was sehe ich da? Der Name lügt: das sind gar nicht vier, wie zunächst zu sehen und anzu­neh­men! Zu der fül­li­gen Sän­ge­rin und ihren drei mehr oder min­der fesch bebar­te­ten Blech­blä­sern, deren völ­lig hilf­lo­se Ver­su­che, wie mona­te­lang geübt zu den stamp­fen­den Beats ihres laschen Elek­tro-Swing-Jazz-Dance-Titels ‘Kis­ny­us­zi a kalap­ban’ im Gleich­schritt mit­zu­trip­peln, für gro­ße Erhei­te­rung sorg­ten, gesell­ten sich noch Drum­mer, Bas­sist und Gitar­rist, die man zunächst im abge­dun­kel­ten Büh­nen­hin­ter­grund ver­steck­te, ver­mut­lich, damit die EBU nicht nach­zählt (vgl. → Sechs-Per­so­nen-Regel).

Auf ‘Klas­sen­fahrt zum Bala­ton’ (oder so ähn­lich): das Sep­tett Four­tis­si­mo. Mit dem Zäh­len hat man es in Ungarn nicht so.

Mit Lean­der Kills gewann eine schnör­kel­los auf­spie­len­de Metal-Kapel­le die ers­te A‑Dal-Vor­run­de, deren Front­mann in einem boden­lan­gen Leder­rock modi­sche Akzen­te set­ze und die mit dem ordent­lich brat­zen­den ‘Nem szól harang’ das Gen­re zwar nicht neu erfand, aber zumin­dest ein soli­des Brett ablie­fer­te, das sich ohne Schmer­zen weg­hö­ren ließ. Ganz anders als bei der eben­falls ins Semi­fi­na­le wei­ter dele­gier­ten Kon­kur­ren­tin Gabi Knoll, die mit ‘Nobo­dy to die for’ einen der weni­gen eng­lisch­spra­chi­gen Bei­trä­ge des Abends im Gepäck hat­te und die­ses düs­te­re Elek­tro-Pop-Stück mit einer Stim­me into­nier­te, die sich sehr wohl­wol­lend mit “sehr hei­ser” umschrei­ben lie­ße. Die dop­pelt bezopf­te und auch im Gesicht latex­be­gos­se­ne Sän­ge­rin mit den toten Augen setz­te daher zur Ablen­kung auf opti­sche Gim­micks und tanz­te auf einer vir­tu­el­len Dis­co­ku­gel oder schlug lust­los die Steel­drums, wenn sie nicht gera­de in auf­rei­zend gemein­ten Posen über die Büh­ne wackel­te. Wobei ins­be­son­de­re ihre halb­her­zi­gen Tanz­schritt­chen den Charme einer ost­eu­ro­päi­schen Tab­le­dance-Bar ver­brei­te­ten, in der schon lan­ge die Hoff­nungs­lo­sig­keit regiert. Das war gruselig!

Als wär es eine Ana­lo­gie über die Zwangs­pro­sti­tu­ti­on: Gabi Knoll, das wohl freud­lo­ses­te Freu­den­mäd­chen dies­seits des Plat­ten­sees (HU).

2 Comments

  • Die Fran­zo­sen müs­sen sich die­ses Jahr schon sehr anstren­gen, wenn sie kein poten­ti­el­les ESC-Sie­ger­lied nach Lis­sa­bon schi­cken wollen.

  • Cha­peau und mer­ci für die­sen Vor­ent­scheid mit tol­len Songs und ange­nehm posi­ti­ven Juroren.
    Ich fand auch den klei­nen inti­men Rah­men mit der ein­fa­chen Büh­ne ohne über­gro­ßes LED-Gedöns gut.
    Scha­de eigent­lich dass Frank­reich nur einen Song nach Lis­sa­bon schi­cken darf.

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