Eesti Laul 2019: selbst­ver­lieb­te Schmachtlappen

Was für ein Kata­stro­phen-Sams­tag! In drei vier Län­dern gin­gen ges­tern Abend Vor­ent­schei­dungs­fi­na­le über die Büh­ne, und in allen drei­en vie­ren fie­len der­ar­tig haar­sträu­ben­de Fehl­ent­schei­dun­gen, dass es mal wie­der an der Zeit ist, den abge­grif­fe­nen Spruch vom “schlimms­ten Jahr­gang aller Zei­ten” aus der Mot­ten­kis­te zu holen, zu dem ein­ge­fleisch­te Grand-Prix-Fans in die­ser Pha­se der Sai­son meist reflex­ar­tig grei­fen, den zurück­zu­wei­sen jedoch am heu­ti­gen Tage beson­ders schwie­rig erscheint. In Est­land jeden­falls gewann im Super­fi­na­le der Eesti Laul ein schmier­lap­pi­ger Sän­ger schwe­di­scher Her­kunft namens Vic­tor Cro­ne, ein­ge­fleisch­ten Melo­di­fes­ti­valen-Guckern noch ver­traut aus dem Jahr­gang 2015, wo er die Lead Vocals für den Rap­per Behrang Miri bei­steu­er­te. Cro­nes aktu­el­les Lied ‘Storm’ stammt unter ande­rem aus der Feder von Stig Räs­ta, was man kaum glau­ben möch­te, weil es so töd­lich durch­schnitt­lich und wie bereits fünf Mil­lio­nen Mal gehört klingt; nach einem per­fek­ten Fül­ler für die Play­list des Rewe-Ein­kaufs­ra­di­os oder für das Line-up des däni­schen Melo­di Grand Prix. Doch augen­schein­lich bevor­zu­gen auch die Est/innen Seich­tes: obwohl die Jury ihr Men­schen­mög­lichs­tes tat, den Schwe­den­im­port mit einem kon­zer­tier­ten Down­vo­ting zu ver­hin­dern und statt­des­sen den nicht min­der schlei­mi­gen Ste­fan Aira­pet­jan mit einer ster­bens­lang­wei­li­gen Kla­vier­bal­la­de noch oben zu mani­pu­lie­ren, wähl­ten die Zuschauer/innen den faden Schwe­den­hap­pen rigo­ros an die Spitze.

A Song like this / can break my Ears like this: Vic­tor hol­te in Est­land die Krone.

Zu ihrer Ver­tei­di­gung sei ange­merkt, dass die übrig­ge­blie­be­ne Aus­wahl ohne­hin zum Him­mel stank. Alle auch nur annä­hernd inter­es­san­ten Bei­trä­ge wie bei­spiels­wei­se das legen­dä­re ‘Wo sind die Kat­zen’ von Kaia Tamm flo­gen bereits in den bei­den Semis raus, als ein­zi­ge in irgend­ei­ner Form inter­es­san­te Inter­pre­tin hat­te es ledig­lich die bezau­bern­de Inger Fri­do­lin mit ihrem auf der Uku­le­le dahin­ge­plinkt­er­ten, nied­li­chen Folk-Lied­chen ‘Coming home’ ins Fina­le geschafft. Die haupt­be­ruf­li­che Fuß­ball­trai­ne­rin und sehr offen­sicht­li­che Les­be sorg­te mit einem erschre­ckend tief gegrunz­ten “Hrrrrrrrr­r­hooooo­me” im Refrain für euro­pa­wei­te Lach­an­fäl­le vor den Live­streams und erober­te so die Her­zen. Zumin­dest mei­nes. Ihre Lands­leu­te wähl­ten sie wenigs­tens noch auf den drit­ten Rang, die dia­bo­li­schen Juro­ren ver­hin­der­ten mit einer skan­da­lö­sen Ein-Punkt-Wer­tung jedoch ihren Ein­zug ins Super­fi­na­le der Eesti Laul. In dem stan­den sich somit drei männ­li­che Schmachthei­nis gegen­über, von denen sich der zweit­plat­zier­te, mit sei­ner Fal­ten­stirn ent­fernt an den US-Schau­spie­ler Luke Per­ry aus der Neun­zi­ger-Soap Bever­ly Hills, 90210 erin­nern­de Uku Suvis­te (tol­ler Name!) als beson­ders selbst­ver­lieb­ter Nar­ziss her­vor tat.

I’m so vain / I bet you know that this song is about me / don’t you / don’t you?”

[Nach­trag 18.02.19] Und, wie sich her­aus­stell­te, als ech­tes xeno­pho­bes Arsch­loch: im Super­fi­na­le ver­such­te er nach Berich­ten von des Est­ni­schen mäch­ti­gen Fans, die Zuschauer/innen mit dem Auf­ruf “Wenn ihr möch­tet, dass ein Este uns ver­tritt, ruft für mich an” für sich zu gewin­nen, dar­auf anspie­lend, dass sei­ne bei­de Kon­kur­ren­ten schwe­di­sche bzw. teil­ar­me­ni­sche Wur­zeln haben und er der ein­zi­ge rein­ras­si­ge Este sei. Selbst, wenn man ihm zugu­te hal­ten will, dass die­se Aus­sa­ge unüber­legt und im Anblick sei­ner davon­schwim­men­den Fel­le fiel, so offen­bart sie doch ein pro­ble­ma­ti­sches völ­ki­sches Den­ken. Inso­fern tra­fen die Zuschauer/innen mit der Wahl von Vic­tor Cro­ne letzt­lich die rich­ti­ge Ent­schei­dung, auch wenn des­sen Lied noch main­strea­mi­ger und damit lang­wei­li­ger her­über­kommt als das des völ­lig unwähl­ba­ren Uku. Den­noch: wie ein ver­blass­te Erin­ne­rung erschei­nen ange­sichts des immer öde­ren Esti-Laul-Fina­les die seli­gen Zei­ten, als die­ser Vor­ent­scheid, heu­te nur noch eine fade Pflicht­ver­an­stal­tung im Vor­ent­schei­dungs­rei­gen, noch für “that Esto­ni­an cool” stand.

Weh­muts­voll win­ke ich mei­nem per­sön­li­chen Lieb­lings­bei­trag 2019 hin­ter­her, den die Esten dum­mer­wei­se ver­schmäh­ten. Lie­ber NDR, kön­nen wir Kaia nicht noch schnell als Teil­neh­me­rin zu Unser Lied für Isra­el einladen?

Vor­ent­scheid EE 2019 (Fina­le)

Eesti Laul. Sams­tag, 16. Febru­ar 2019, aus der Saku Suur­hall in Tal­lin. 12 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Piret Krumm und Karl-Erik Taukar.
#Inter­pre­tenSong­ti­telAnru­feJurySuper­fi­na­lePlatz
01Sis­si BentonStrong2.9904604
02Lumevärv + IngaMil­li­ne päev2.1884605
03Vic­tor CroneStorm15.5132523.37001
04Ker­li KivilaanCold Love1.4814309
05xtra basic + Emi­ly JHold me close1.4402112
06KadiahBelie­ve2.2872510
07Syn­ne ValtriI’ll do it my Way2.3230411
08Ste­fan AirapetjanWit­hout you6.1327012.38003
09The Swin­gersHigh Heels in the Neighborhood2.7372607
10Uku Suvis­tePret­ty litt­le Liar8.9873615.49802
11Inger Fri­do­linComing home6.9042406
12San­dra NurmsaluSoo­vi­de puu1.9144008

9 Comments

  • Avicii weilt zwar nicht mehr unter uns, aber diver­se ESC-Kom­po­nis­ten fled­dern immer noch an sei­nen weg­ge­wor­fe­nen Song-Ideen her­um. Anders kann ich mir das nicht erklären.

  • Na, wir wer­den ja sehen. Grau­si­ge Schmacht­fet­zen hin oder her, der Tag, an dem 2002 oder 2017 als erbärm­lichs­ter Euro­vi­si­ons­jahr­gang aller Zei­ten abge­löst wird, liegt hof­fent­lich in einer sehr fer­nen Zukunft.

  • Da wird einem noch­mal deut­lich vor augen geführt, wie rigo­ros die ita­lie­ni­schen jurys ulti­mo run­ter­ge­vo­tet haben. Unglaublich!

  • Storm ist für mich einer der Songs, von dem man weiß, dass er – für das “nor­ma­le” Publi­kum – eigent­lich ganz stark ist, den man aber trotz­dem abgöt­tisch hasst. Main­strea­mi­ge Mit­tel­mä­ßig­keit hat einen neu­en Namen.

  • So lang­sam habe ich den Ein­druck, dass kaum einer das jewei­li­ge Semi in Tel Aviv über­ste­hen will. Könn­te ein ziem­lich klei­nes Fina­le geben, wür­de man dem Fle­hen nachgeben.…

  • Also, ich bin ganz gewiß nicht “nor­ma­les” Publi­kum, kann aber mit dem Schwe­den­im­port für Est­land recht gut leben. Natür­lich weit ent­fernt von inno­va­tiv und ori­gi­nell, aber im Ver­gleich zu dem üblen Geschlei­me aus Kroa­ti­en wenigs­tens halb­wegs zeit­ge­mäß und man immer­hin eine Melo­die erkennen. 

    Ich wer­te mal mit 7 von 10 Punk­ten und der­zeit hin­ter Ita­li­en und Alba­ni­en auf Platz 3 in mei­ner Lis­te (ansons­ten gefal­len mir noch noch Spa­ni­en und Slo­we­ni­en so halbwegs)

  • @ Ospe­ro

    Für mich bis­lang die schlech­tes­ten Jahr­gän­ge über­haupt: 2001, 2002, 2006, 2014 und 2016. 2017 war zwar auch mau, aber immer­hin hat mir Sal­va­dor den Abend gerettet.

  • @Mariposa: So ging es mir 2001 mit Rol­lo & King und Michel­le und 2006 mit Lor­di (ansons­ten Zustim­mung, das war ein abso­lut erbärm­li­ches Jahr). 2016 hat­te ich wohl ver­drängt – wobei “Loin d’i­ci” zumin­dest ein biss­chen Far­be gebracht hat. 

    2014 ande­rer­seits – haben wir da den glei­chen Wett­be­werb gese­hen? Wenn ich mir die Fina­lis­ten anse­he, sehe ich min­des­tens zehn Songs, die ich wirk­lich mag.

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