Super­no­va 2020: Mei­ne Schwes­ter, die Polyester

Zähig­keit zahlt sich aus. Seit 2012 ver­sucht es die let­ti­sche Sän­ge­rin Saman­ta Poļa­ko­va, bes­ser bekannt unter ihrem Künst­le­rin­nen­na­men Saman­ta Tīna, prak­tisch durch­gän­gig beim Vor­ent­scheid in ihrer Hei­mat (und gele­gent­lich auch im Nach­bar­land Litau­en). Nun hat sie es geschafft: die dies­mal allei­ne abstim­mungs­be­rech­tig­ten Zuschauer:innen der Super­no­va wähl­ten sie ges­tern Abend zu ihrer Reprä­sen­tan­tin für Rot­ter­dam. Viel­leicht nah­men sie den sub­ti­len Hin­weis ihres Titels ‘Still breathing’ zum Anlass, der 30jährigen ihren Her­zens­wunsch end­lich zu erfül­len. An ihrem selbst­ge­schrie­be­nen und mit einem Text aus der Feder von Ami­na­ta Sava­do­go ver­edel­ten Song kann es kaum gele­gen haben, denn der erwies sich vor allem als aggres­si­ve Atta­cke auf die Sin­ne: lau­tes Geschrei, auf­dring­li­cher Dub­step und epi­lep­sie­för­der­li­che Licht­blit­ze bil­de­ten ein Gesamt­pa­ket, des­sen Nerv­fak­tor es mit der Sei­ten­ba­cher-Radio­wer­bung auf­zu­neh­men ver­mag. Den Löwen­an­teil der Gesangs­parts, ins­be­son­de­re den Refrain, steu­er­ten drei mit faschis­to­iden Gesichts­vi­so­ren und Sprüh­fla­schen mit asep­ti­schem Haus­halts­rei­ni­ger bewaff­ne­te Chor­sän­ge­rin­nen bei, die ihre Vokal- und Rei­ni­gungs­ar­bei­ten aus uner­find­li­chen Grün­den nur mit einem Kor­sett beklei­det ver­rich­te­ten. Frau Tīna war unter­des­sen haupt­säch­lich damit beschäf­tigt, die Fran­sen ihres Salo­mé-Gedächt­nis­dres­ses durch wil­de Zuckun­gen in per­ma­nen­ter Wal­lung zu hal­ten und gele­gent­li­che, unver­mit­tel­te Kiek­ser und Schreie aus­zu­sto­ßen, so als sei sie besessen.

Voll auf die Zwölf: SamT­amta Tīna.

Zähig­keit zahlt sich manch­mal auch nicht aus: min­des­tens eben­so ver­bis­sen wie Saman­ta Tīna ver­sucht es bekannt­lich ihr Kol­le­ge Miķe­lis Ļak­sa ali­as Mar­kus Riva, der seit 2014 jedes Jahr einen Bei­trag zur Super­no­va ein­reicht. Dies­mal über­stand er mit dem eben­falls von Ami­na­ta mit­kom­po­nier­ten, aller­dings wirk­lich schlech­ten Pop­song ‘Impos­si­ble’ jedoch nicht ein­mal die die Vor­auswahl. Denn anstel­le des sonst übli­chen Semi­fi­na­les ver­an­stal­te­te der zustän­di­ge Sen­der LTV, der ob der chro­ni­schen Erfolg­lo­sig­keit der Super­no­va lan­ge Zeit mit sich rang, ob er den Song für Rot­ter­dam nicht ein­fach kos­ten­spa­rend intern aus­wäh­len soll­te, ledig­lich ein öffent­li­ches Vor­sin­gen mit 26 Teilnehmer:innen, von denen eine 18köpfige inter­na­tio­na­le Jury neun für das im Fern­se­hen über­tra­ge­ne gest­ri­ge Fina­le selek­tier­te. Vier Mit­glie­der näm­li­cher inter­na­tio­na­ler Jury beglei­te­ten die Auf­trit­te der (un-)glücklichen Finalist:innen in der Show mit teils bru­tal offe­nen Kom­men­ta­ren, wobei auch inter­es­san­te kul­tu­rel­le Unter­schie­de zuta­ge tra­ten: ein “Dein Song ist ganz okay” bedeu­tet aus dem Mun­de eines fin­ni­schen Juro­ren näm­lich ein gera­de­zu eksta­ti­sches Lob, auch wenn es eher ver­let­zend klingt. Doch am Ende spiel­te die Mei­nung der Jury kei­ne Rol­le, es ent­schie­den die let­ti­schen Zuschauer:innen, und die wähl­ten – jeden­falls nach einem mit­ten in der Anruf­pha­se ein­ge­blen­de­ten Zwi­schen­stand, das End­ergeb­nis des Tele­vo­tings teil­te LTV tra­di­tio­nell nicht mit – mit unge­fäh­rer Ein­drit­tel­mehr­heit Saman­ta Tīna.

Der für Sonn­tag­nacht in gro­ßen Tei­len West­eu­ro­pas ange­kün­dig­te Win­ter­sturm Sabi­ne scheint in Lett­land bereits ver­früht zuge­schla­gen zu haben: die etwas zer­zaus­te Super­no­va-Zwei­te Katrī­na Dimanta.

Mit deut­li­chem Abstand auf dem zwei­ten Rang lan­de­te Katrī­na Diman­ta, die bereits 2014 als Teil des legen­dä­ren Grand-Prix-Pro­jek­tes Aar­zem­nie­ki (‘Cake to Bake’) auf der ESC-Büh­ne stand. Ihrem ziem­lich zer­rupf­ten Out­fit zufol­ge muss sie wohl gemein­schaft­lich mit eini­gen Musi­kan­ten ihrer Hoch­zeits­ka­pel­le in letz­ter Sekun­de vor dem Altar geflüch­tet sein und zur Fei­er ihrer wie­der­ge­won­ne­nen Frei­heit bereits einen aus­führ­li­chen Zug durch die Gemein­de unter­nom­men haben. Musi­ka­lisch leg­te ihr skur­ri­les Ska-Folk-Pop-Jazz-Kon­glo­me­rat ‘Heart Beats’ ein­mal mehr beredt davon Zeug­nis ab, dass sich Lett­land in popu­lär­kul­tu­rel­ler Hin­sicht auf einem ande­ren Pla­ne­ten und in einer ande­ren Zeit befin­det als der Rest der Welt. Als tra­gisch ver­pass­te Chan­ce muss der drit­te Platz für die Sin­ger-Song­wri­te­rin Anna Madara Pēr­ko­ne gel­ten, die unter dem ärger­lich prä­ten­tiö­sen Künst­le­rin­nen­na­men Ann­na der bereits im Jah­re 1989 von der legen­dä­ren Eve­lyn Hamann besun­ge­nen ‘Poly­es­ter’ ein aktua­li­sier­tes pop­ge­schicht­li­ches Denk­mal setz­te. Annas Ode an die güns­ti­ge Kunst­stoff­fa­ser über­zeug­te als gelun­ge­ne Sati­re auf das im Hin­blick auf den Res­sour­cen­ver­brauch, den Umwelt­schutz und auf Sozi­al­stan­dards hoch­pro­ble­ma­ti­sche Phä­no­men der Ein-Euro-Mode, wie sie von Fast-Fashion-Ket­ten wie Pri­mark und deren Kund:innen unver­ant­wor­tet wird.

Eine läs­si­ge Ankla­ge gegen die aktu­el­len Aus­wüch­se des Kapi­ta­lis­mus im End­sta­di­um: Ann­na mit drei N.

Schon vor 31 Jah­re lutsch­te die gro­ße Eve­lyn Hamann das­sel­be gel­be Plastikpüree.

Mit dem so cle­ve­ren wie coo­len ‘Poly­es­ter’ hät­te Lett­land erst­mals seit vie­len Jah­ren wie­der einen rele­van­ten Song zum Euro­vi­si­on Song Con­test bei­gesteu­ert und sich so viel­leicht auch die Chan­ce auf einen Final­ein­zug gesi­chert, anders als mit dem nun aus­ge­wähl­ten, alt­mo­di­schen Krei­sch­alarm. Ein wei­te­rer Beleg für mei­ne The­se, dass man den Völ­kern das Stimm­recht über die Aus­wahl sei­ner eige­nen Bei­trä­ge ent­zie­hen und in die Hän­de inter­na­tio­na­ler Fan-Jurys legen soll­te. Als auf allen Ebe­nen im Wett­be­werb chan­cen­los, aber den­noch auf sanf­te Wei­se schön erwies sich schließ­lich noch der völ­lig zu Recht viert­plat­zier­te Super­no­va-Song ‘I’m fal­ling for you’ des Sin­ger-Song­wri­ters Miks Dukurs, eben­falls ein ewi­ger Vor­ent­scheid-Teil­neh­mer, der es nun schon zum ach­ten Mal pro­bier­te. Sein sehr inti­mes, auf der Akus­tik­gi­tar­re selbst beglei­te­tes Lie­bes­lied eig­net sich per­fekt als Kuschel­rock-Sound­track für einen am bes­ten zu Zweit im Bett ver­trö­del­ten, ver­reg­ne­ten Sonn­tag­nach­mit­tag. Vom Live­auf­tritt bleibt vor allem Miks’ präch­ti­ge Por­no­bal­ken im Gedächt­nis hän­gen. Sowie das Rät­sel­ra­ten über das Alter des Inter­pre­ten: von 25 bis 57 wäre irgend­wie jede Zahl glaubhaft.

Für ihn könn­te ich schon fal­len, wenn er mich so lie­be­voll ansingt: Miks Dukurs.

Vor­ent­scheid LV 2020

Super­no­va. Sams­tag, 8. Febru­ar 2020, aus dem Rīgas Kino­stu­di­ja, Riga, Lett­land. Neun Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Toms Grē­viņš, Keti­ja Šēn­berga und Beta Beidz.
#Inter­pre­tenSong­ti­telPlatz
01Sele­s­te Solovjova-VlasovaLike me06
02Jānis Driks­naStay09
03Katrī­na BindereI will break your Heart08
04Edgars Krei­lisTridy­mi­te07
05Katrī­na DimantaHeart Beats02
06Miks DukursI’m fal­ling for you04
07Ann­naPoly­es­ter03
08Bad HabitsSail with you05
09Saman­ta TīnaStill breathing01

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