Stimm­ge­wich­tung

Neben der letz­ten Endes lei­der durch­ge­setz­ten Rück­kehr der Jurys gab es noch eini­ge wei­te­re Ideen zur Refor­mie­rung des Grand-Prix-Wer­tungs­we­sens. Im drit­ten Teil mei­ner klei­nen Serie fumm­le ich pro­be­hal­ber an der Stim­men­aus­zäh­lung her­um: von schlich­ten Ver­bo­ten über die BuVi­So­Co-Metho­de, regio­na­len Vor­auswah­len oder einer Stimm­ge­wich­tung bis hin zur voll­stän­di­gen Abschaf­fung der Län­der­stim­men ist alles dabei.

Haut den Lukas

Die ein­gangs erwähn­ten, belei­dig­ten Reak­tio­nen im Wes­ten auf das Nach­bar­schafts­vo­ting (“Schum­mel-Grand-Prix”) erin­nern ja durch­aus an das Geflen­ne eines ein­ge­schnapp­ten Kin­des auf dem Spiel­platz, dem die bösen Jungs aus dem Schmud­del­kin­der­block das Schipp­chen weg­nah­men und das jetzt androht, heim­zu­ge­hen und nicht mehr mit­zu­spie­len. Man­che ver­in­ner­lich­ten die­se Opfer­hal­tung so sehr, dass sie ernst­haft ein Ver­bot for­der­ten: alle Stim­men eines Lan­des für die umlie­gen­den Nach­barn müss­ten unter den Tisch fal­len. Unge­recht und undurch­führ­bar auf gleich meh­re­ren Ebe­nen: zum einen hät­ten rei­ne Insel­staa­ten wie Aus­tra­li­en, Island, das für sei­ne schacher­freu­di­gen Jurys berüch­tig­te Mal­ta und das stets fürs grie­chi­sche Mut­ter­land votie­ren­de Zypern hier einen Vor­teil: sie gren­zen bloß ans Was­ser und dürf­ten wei­ter­ma­chen wie bis­her. Für Deutsch­land hin­ge­gen bedeu­te­te es, nie wie­der für einen tsche­chi­schen, öster­rei­chi­schen, schwei­ze­ri­schen, fran­zö­si­schen, bel­gi­schen, hol­län­di­schen, pol­ni­schen oder däni­schen Bei­trag anru­fen zu dür­fen. Gut, bei den Letzt­ge­nann­ten wäre das nicht schlimm, die schi­cken eh immer Schei­ße. Aber man stel­le sich vor, wir hät­ten 2014 Con­chi­ta Wurst nicht unter­stüt­zen kön­nen. Undenkbar!

Die Lieb­lings­nach­ba­rin: deut­sche Nach­bar­schafts­stim­men für Öster­reich müs­sen wei­ter mög­lich sein.

Die Guten ins Töpfchen

Ein wei­te­rer Vor­schlag: Euro­pa in zwei (Ost/West) bis fünf Regio­nen (Skan­di­na­vi­en, West­eu­ro­pa, Mit­tel­meer, Bal­kan, Ost­eu­ro­pa) auf­tei­len und die­se jeweils eige­ne Qua­li­fi­ka­tio­nen durch­füh­ren las­sen, aus denen die bes­ten Titel ins inter­na­tio­na­le Fina­le kom­men. So etwas in die­ser Art gab es sogar schon: 1993, als die EBU erst­mals in der Flut der Anmel­dun­gen aus dem Osten ertrank, muss­ten es die Debütant:innen in Ljublja­na gegen­ein­an­der aus­fech­ten. Mit dem Ergeb­nis, dass die dama­li­gen jugo­sla­wi­schen Bür­ger­kriegs­län­der die ehe­ma­li­gen sowje­ti­schen (Satelliten-)Staaten geschlos­sen raus­keil­ten. Das Pro­blem: wer soll die­se regio­na­len Vor­ent­schei­de ver­an­stal­ten, wo sol­len sie statt­fin­den und wer soll sie bezah­len? Je nach Anzahl und Austragungsort:en der Qualifikationsrunde:n stie­gen die bereits heu­te kaum finan­zier­ba­ren Kos­ten für eine Euro­vi­si­ons­teil­nah­me immens, und das Publi­kums­in­ter­es­se blie­be wohl noch über­schau­ba­rer als bei den jet­zi­gen zwei Semis. In homöo­pa­thi­scher Dosie­rung floss die­se Idee den­noch in das seit 2008 prak­ti­zier­te Sys­tem ein, in dem alle Län­der je nach geo­gra­fi­scher Lage und bis­he­ri­gem Abstim­mungs­ver­hal­ten in sechs Töpf­chen sor­tiert und dann erst auf die bei­den Vor­run­den aus­ge­lost wer­den. Das funk­tio­niert sehr gut: im Gegen­satz zu 2007, wo es nur eine Qua­li­fi­ka­ti­ons­run­de gab und der Osten gna­den­los durch­mar­schier­te, gehen die Vor­rund­en­er­geb­nis­se seit­her ziem­lich in Ord­nung. Jetzt stö­ren nur noch absur­de Jury-Fehl­ent­schei­dun­gen die fein aus­ta­rier­te Balance.

Aus der Mill­street-Qua­li­fi­ka­ti­ons­show: Dida Dră­gan menstru­iert. 

Jeder nur ein Kreuz!

Als Reak­ti­on auf die so emp­fun­de­ne Über­macht der Ost­staa­ten kam auch der Vor­schlag einer bevöl­ke­rungs­ab­hän­gi­gen Gewich­tung der Tele­vo­ting-Stim­men auf. Wäh­rend west­li­che Regie­run­gen auf poli­ti­scher Ebe­ne in teils völ­ker­recht­lich frag­wür­di­ger Wei­se die Zell­tei­lung im Osten unter­stütz­ten – wie zuletzt die Abspal­tung des Koso­vo – emp­fin­den vie­le Grand-Prix-Zuschauer:innen es als unge­recht, dass neue Winz­staa­ten wie Mon­te­ne­gro, die nicht mehr Einwohner:innen haben als Stutt­gart, über die glei­chen Stimm­rech­te ver­fü­gen wie eine Nati­on von 80 Mil­lio­nen. War­um also nicht die zu ver­tei­len­den Punk­te mit der Zahl der Bürger:innen (oder, wie im Euro­pa­par­la­ment, einem dar­an gekop­pel­ten Fak­tor) mul­ti­pli­zie­ren? Wäre doch nur gerecht, oder? Nun ja, sicher nicht aus Sicht der Klein­staa­ten, die oft jah­re­lang und unter hohem Blut­zoll für ihre Unab­hän­gig­keit kämp­fen muss­ten. Sich von den gro­ßen bösen Nach­barn, von denen sie sich gera­de lös­ten, erneut an die Wand drü­cken zu las­sen, könn­ten die­se ver­ständ­li­cher­wei­se nie­mals hin­neh­men. Zudem: mit dem Big-Five-Sta­tus exis­tiert bereits eine mehr als aus­glei­chen­de Bevor­zu­gung der ein­woh­ner- (und finanz)starken Natio­nen gegen­über den klei­ne­ren Ländern.

Schlech­te Wahl: Mon­te­ne­gro spal­te­te sich eigens von Ser­bi­en ab, um einen Sie­gel-Song schi­cken zu können.

Everyone’s a Win­ner, Baby

Bes­ser geeig­net erscheint die beim Bun­des­vi­si­on Song Con­test, dem in den Jah­ren 2005 bis 2015 von Ste­fan Raab aus ent­täusch­ter Lie­be ver­an­stal­te­ten ger­ma­ni­schen Abklatsch des rich­ti­gen ESC, bei dem jeweils 16 Acts aus den 16 admi­nis­tra­ti­ven Regio­nen unse­res föde­ral orga­ni­sier­ten Staa­tes gegen­ein­an­der antra­ten, prak­ti­zier­te Vari­an­te. Dort näm­lich waren Anru­fe für das eige­ne Bun­des­land schlicht­weg erlaubt! Könn­te man auch beim Euro­vi­si­on Song Con­test machen. Der Vor­teil: jede teil­neh­men­de Nati­on bekä­me auto­ma­tisch schon mal zwölf Punk­te und nie­mand müss­te mehr beschämt mit lee­ren Hän­den nach Hau­se fah­ren. Mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit sän­ke sogar das Bedürf­nis nach Nach­bar­schafts­vo­ting als natio­na­le Ersatz­be­frie­di­gung: wenn zum Bei­spiel die Serb:innen für sich selbst stim­men dür­fen, brau­chen sie nicht mehr statt­des­sen für Mon­te­ne­gro anru­fen. Der alles ent­schei­den­de Nach­teil: gäh­nen­de Lan­ge­wei­le bei der Stim­men­aus­zäh­lung, wie sie denn auch beim BuVi­So­Co herrsch­te. Zudem wir­ken 12 Punk­te aus Deutsch­land an Deutsch­land noch pein­li­cher als ein “Gefällt mir” bei Face­book für die eige­ne Sta­tus­mel­dung: Eigen­lob stinkt nun mal.

Eine Par­odie auf deut­sche Elek­tro­lo­re bei der deut­schen Par­odie des Euro­vi­si­on Song Con­test: für MC Fit­ti reich­te es 2013 für Rang 3.

Aller­dings: mit der aktu­ell zele­brier­ten zwei­tei­li­gen Ergeb­nis­prä­sen­ta­ti­on, bei wel­cher aus­schließ­lich die Juror:innen ihre Län­der­punk­te ver­le­sen, wäh­rend das anschlie­ßend annon­cier­te Tele­vo­ting bereits nach Songs zusam­men­ad­diert wur­de und aus Grün­den einer bis in die letz­te Sekun­de aus­ge­reiz­ten Span­nungs­kur­ve in der Rei­hen­fol­ge der nied­rigs­ten bis zur höchs­ten Punkt­zahl prä­sen­tiert wird, bekom­men die Zuschauer:innen das gar nicht mehr mit. Denn in der Sen­dung ver­kün­den die Gastgeber:innen nur noch, wel­ches Lied im Tele­vo­ting wie vie­le Punk­te ins­ge­samt erhielt, nicht aber, aus wel­chen Län­dern die­se stamm­ten. Das führt zur para­do­xen Situa­ti­on, dass man den Zuschauer:innen die punk­tu­el­le natio­na­le Selbst­be­frie­di­gung eigent­lich gefahr­los erlau­ben könn­te, solan­ge man die Jurys bei­be­hält und jenen genau die­ses Tun wei­ter­hin unter­sagt. Schließ­lich han­delt es sich bei der mitt­ler­wei­le ein gutes Drit­tel der Gesamt­sen­de­zeit ein­neh­men­den Punk­te­ver­ga­be inklu­si­ve der auf­wän­di­gen Live-Schal­ten in die 40+ Teil­neh­mer­län­der um das Herz­stück der Sen­dung, das – die Ein­schalt­quo­ten bele­gen dies – regel­mä­ßig deut­lich mehr Zuschauer:innen anzieht als die vor­her gezeig­ten Lie­der. Was wie­der­um den trau­ri­gen Schluss zulässt, dass sehr vie­le Men­schen den Song Con­test nur ver­fol­gen, um sich ihre Vor­ur­tei­le über die punk­te­scha­chern­den Nach­barn bestä­ti­gen zu las­sen: eine ganz schön per­ver­se Form der Empörungsgeilheit.

Ich bin so dank­bar für heu­te Abend und für Madon­nas Auto­tu­ne”: Hol­land lie­fer­te 2019 den Höhe­punkt der Juryauszählung.

Unite, unite, Europe

Das führt uns schließ­lich zum radi­kals­ten Vor­schlag, näm­lich der voll­stän­di­gen Abschaf­fung der getrenn­ten Län­der­vo­ten. Soll hei­ßen: Diga­me addiert ein­fach alle Anru­fe und SMS aus ganz Euro­pa sofort zusam­men und spart sich den Auf­wand der Auf­be­rei­tung nach Län­dern. Ähn­lich wie beim schwe­di­schen Melo­di­fes­ti­valen kann man dann die kumu­lier­ten Publi­kums­stim­men in Punk­te umrech­nen: theo­re­tisch denk­bar, aller­dings auch nur, wenn es bei einem zusätz­li­chen Jury­vo­ting bleibt, denn sonst ver­liert die Aus­zäh­lung jeg­li­che Span­nung. Und es ver­trü­ge sich nicht mit der eben skiz­zier­ten Erlaub­nis, für das eige­ne Land zu votie­ren. Denn dann gewön­ne immer nur Deutsch­land: wie der NDR-Ver­ant­wort­li­che Tho­mas Schrei­ber 2017 im Rah­men der Road­show zur Vor­stel­lung des neu­en deut­schen Vor­ent­schei­dungs­kon­zep­tes ver­riet, stammt ein gutes Vier­tel der ins­ge­samt rund 8 Mil­lio­nen gezähl­ter Stim­men pro Jahr­gang aus hei­mi­schen Gefil­den. Also müss­te man, wie jetzt schon, die Anru­fe fürs eige­ne Land wei­ter her­aus­rech­nen. Somit jedoch rück­te ein drit­ter deut­scher Sieg in völ­lig uner­reich­ba­re Fer­ne, weil wir rein mathe­ma­tisch nur drei Mal so vie­le Punk­te erhal­ten wie ver­ge­ben kön­nen, wäh­rend die Ratio bei­spiels­wei­se für Öster­reich um ein Viel­fa­ches grö­ßer wäre. Wir sehen also: das Her­um­fin­gern an der Stim­men­aus­zäh­lung schafft mehr Pro­ble­me als Lösungen.

Für die Tür­kei lohn­te es sich dann aller­dings, zum ESC zurück­zu­se­geln: mit mas­sen­haft Anru­fen aus Deutsch­land wäre ihnen eine Topp­lat­zie­rung siche­rer denn je.

Wie­so eigent­lich tun sich seit der Ein­füh­rung der Semi­fi­na­le gera­de die finanz­star­ken Natio­nen so schwer beim Euro­vi­si­on Song Con­test? Damit beschäf­ti­ge ich mich im vier­ten Teil mei­ner klei­nen Serie.

Stand: 26.10.2019

2 Comments

  • Zitat:
    “1993, als die EBU erst­mals in der Flut der Anmel­dun­gen aus dem Osten
    ertrank, muss­ten es die Debü­tan­ten in Ljublja­na gegeneinander
    aus­fech­ten. Mit dem Ergeb­nis, dass die jugo­sla­wi­schen Bür­ger­kriegs­län­der die Ex-GUS-Staa­ten geschlos­sen rauskeilten”

    Bei der “Qua­li­fi­ka­ti­on für Mill­street” in Ljublja­na waren doch gar kei­ne GUS-Staa­ten am Start. Est­land war (wie auch Lett­land und Litau­en) nie Mit­glied der GUS – Rumä­ni­en, die Slo­wa­kei und Ungarn erst recht nicht.

  • Vie­len Dank für den Hin­weis, Bernhard!
    Ich hab’s jetzt umfor­mu­liert, ich den­ke, so soll­te kla­rer wer­den, was ich meinte.

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