Auch wenn sich sowohl Irland – die Nation mit den meisten Grand-Prix-Siegen – als auch die Schweiz gerne mal den selbst verliehenen Titel “Heimat des Eurovision Song Contest” an die Brust heften, so steht die kulturelle Wiege unseres Lieblingsevents tatsächlich in Italien. Genauer gesagt in der ligurischen Kurstadt San Remo: dort fand im Februar 1951 erstmalig das Festival della Canzone italiana statt, ein nationaler, von Anfang an live im Radio übertragener Liederwettstreit, der im Lande rasch eine hohe Gunst genoss. Bereits mit ihrer fünften Ausgabe brachte das italienische Staatsfernsehen Rai im Jahre 1955 die im deutschsprachigen Raum als San-Remo-Festival bekannte Veranstaltung auch auf die Bildschirme. Just also zu jener Zeit, da die 1950 im schweizerischen Genf gegründete European Broadcasting Union (EBU), der Zusammenschluss der europäischen Rundfunkanstalten, einen Köder suchte, um dem seinerzeit verhältnismäßig neuen Medium Fernsehen zum Durchbruch beim breiten Publikum zu verhelfen. Live-Übertragungen außergewöhnlicher internationaler Events wie beispielsweise der Krönung der britischen Monarchin Elisabeth der Zweiten brachten gute Quoten, ebenso wie König Fußball oder andere hochrangige Sportveranstaltungen, das wusste man bei der EBU bereits. Nun versuchte man es mit der leichten Muse.
I got it bad / You don’t know how bad I got it: Claudio Villa mit dem San-Remo-Siegersong von 1955.
Zum Testen verwendete man die TV-Première des San-Remo-Festivals, welches als Eurovisionssendung nicht nur in Italien selbst, sondern auch in Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz zur Ausstrahlung gelangte. Und dort so gut ankam, dass die EBU den Weg freimachte für den Versuch eines von ihr selbst veranstalteten, länderübergreifenden Musikwettbewerbs: dem Eurovision Song Contest. Oder, wie er – dem seinerzeit überwiegend frankophilen Zeitgeist folgend – auch in den deutschsprachigen Ländern genannt wurde: dem Grand Prix Eurovision de la Chanson. Das somit gewissermaßen als Blaupause für den Contest dienende San-Remo-Festival 1955 richtete sich in seiner musikalischen Bestückung natürlich in erster Linie an das italienische Publikum. Der in den Fünfzigerjahren bei seinen Landsleuten sehr populäre und vorab hoch favorisierte Tenor Claudio Villa, mit summasummarum fünfzehn San-Remo-Auftritten der insgesamt fleißigste Teilnehmer der ligurischen Songfestspiele, gewann den Wettbewerb prompt mit der dramatisch-melancholischen Depressionsballade ‘Buongiorno Tristezza’. Und das, obwohl Villa am Finalabend mit einer Grippe das Bett hütete und sein Lied von Schallplatte vorgespielt werden musste!
Die vollkommen unerwartete, experimentelle Free-Jazz-Einlage in der Songmitte ruiniert es leider vollständig: Gianni Marzocchi mit ‘Musetto’, dem populärsten Lied des San-Remo-Festivals 1956.
Aufgrund dieses etwas bizarren Geschehens entschied sich die Rai, beim San-Remo-Festvial von 1956, das zugleich als nationaler Vorentscheid für den nagelneuen Grand Prix Eurovision de la Chanson fungierte, ausschließlich Nachwuchskünstler:innen zuzulassen. Damit wollte man den Popularitätsbonus bekämpfen und Chancengleichheit herstellen. Ein nobles Unterfangen zwar, das jedoch zugleich ein Dilemma offenbarte: im Hinblick auf die kommerzielle Verwertbarkeit der zehn Finaltitel (eine Qualifikationsrunde mit doppelt so vielen Songs war zwei Tage zuvor über die Bühne gegangen) bedeutete dies den Todeskuss. Noch nicht einmal als Neueinspielungen durch namhafte Stars wurden die Songs zu Hits. Lediglich das vom späteren dreifachen Grand-Prix-Vertreter Domenico Modugno für den Sänger Gianni Marzocchi komponierte, mundharmonikasatte ‘Musetto’ erlangte in einer Sketch-Version des Vokalquartettes Cetra eine gewisse Popularität im Lande. Marzocchis Konkurrent Ugo Molinari konnte ebenfalls keinen Stich machen. Und das, obwohl er gleich vier der insgesamt zehn Finallieder stellte, darunter das von seinem vierstimmigen Damenchor lebende ‘La colpa fu’. Masse statt Klasse: das sollte später mal einem deutschen Komponisten als Vorbild in Sachen Eurovisionsvorentscheidung dienen…
https://youtu.be/Ds9nNnlFAu8
Schief singen mussten Clara Vincenzi, Luciana Gonzales, Franca Raimondi und Tonina Torrielli als Chordamen von Ugo Molinari.
Die Herren haben es bei solchen Wettbewerben nun mal seit jeher deutlich schwerer, insbesondere wenn, wie hier, eine (in dieser Ära deutlich männerlastige) Jury entscheidet. Und so teilten sich ausschließlich Damen die Medaillenränge untereinander auf. ‘La Vita é un Paradiso di Bugie’ behauptete auf Platz 3 eine Luciana Gonzales: nein, kein flotter Lobgesang auf den (im gleichen Jahr beim deutschen Vorentscheid eine Rolle spielen sollenden) amerikanischen Boogie, wie man vielleicht denken könnte. Sondern die zu einer einschläfernd lieblichen Geigenmelodei vorgetragene Moritat, das Leben sei ein “Paradies der Lügen”. Luciana, die sich Mitte der Sechziger ins Familienleben zurückzog, musste im Anschluss an das San-Remo-Festival zu Hause bleiben, während die beiden mit ihr auf dem Siegertreppchen stehenden Mitbewerberinnen ins schweizerische Lugano reisten: da jedes der lediglich sieben Teilnehmerländer bei der Eurovisionspremiere von 1956 gleich zwei Beiträge zu stellen hatte, um eine respektable Anzahl an Liedern präsentieren zu können, delegierte die Rai folgerichtig die beiden Topplatzierten dieses Festivals zum europäischen Wettsingen.
Ein “Paradies der Lügen” war das Leben in den Fünfzigern doch wohl vor allem für die Männer: Luciana Gonzales, Trägerin der Bronzemedaille.
Die Silbermedaillistin Tonina Torrielli nahm bis 1963 noch mehrfach am San-Remo-Festival teil. Wie ihre Kollegin Gonzales beendete sie Mitte der Sechziger die Karriere zugunsten der Kindererziehung. Ihr extrem zäher Song ‘Amami se vuoi’ erklärt als die in historischer Hinsicht allererste beim einem Grand-Prix-Vorentscheid jemals von einer Jury zum Eurovisionsbeitrag bestimmten Ballade (und als kompletter Griff ins Klo) vielleicht besser als alles andere, warum ich grundsätzlich weder ein Freund des sogenannten “Experten”-Gremiums noch des langsamen Liedguts bin. Was natürlich nicht heißen soll, dass es nicht auch fantastische Grand-Prix-Balladen gibt: ‘What’s another Year’ sei hier als Gegenbeispiel angeführt oder ‘Molitva’ als zwei der bekanntesten Exemplare dieser Gattung. Eindringlich und ergreifend müssen sie halt sein, um mich zu erreichen. Oder, wie Bonnie Tyler es einst in ‘Holding out for a Hero’, einem meiner Top-Drei-Lieblingslieder aller Zeiten, formulierte und wie es für Popmusik im Allgemeinen gilt: “(He’s) gotta be larger than Life”. Sonst langweilt es.
Etwas erträglicher als ‘Amami se vuoi’: Torriellis weiterer Wettbewerbsbeitrag ‘Il bosco innamorato’.
Was gegen Langeweile stets verlässlich hilft, ist Tempo: als mit reichlich Beats unterlegter Hands-in-the-Air-Disco-Remix lässt sich jede noch so öde Grand-Prix-Ballade zur Genussreife aufpeppen. Noch lieber aber sind mir die von Natur aus fröhlichen Lieder, zu denen auch der Siegersong dieses San-Remo-Festivals zählt. Mit dem possierlichen Durchlüfteschlager ‘Aprite le Finestre’ (‘Öffne das Fenster’) ließ die im Jahre 1988 verstorbene Franca Raimondi eine frische Frühlingsbrise durch das Haus wehen, um den abgestanden-stickigen Dunst eines besonders langen, harten Winters zu vertreiben. Das gelang ihr: obschon ihr musikalisches laues Lüftchen sicher nicht zu den herausragenden Meisterwerken seines Genres zählt, setzte es sich als das optimistischste Angebot dieses Abend spielend durch. Und zählte auch in Lugano zu den lediglich drei anhörbaren Titeln des ersten Eurovision Song Contests, neben Freddy Quinns ‘So geht das jede Nacht’ und Lys Assias ‘Refrain’. Für das junge Talent Franca sollte der Grand-Prix-Auftritt unterdessen zeitgleich den Beginn wie auch den Höhepunkt ihrer Musikkarriere bedeuten: danach verlieren sich ihre Spuren.
Im Direktvergleich zu Tonina eine echte Wohltat: das Fenster auf, das Tor macht weit, im Frühling hat die Franca Freud. Und wir mit ihr!
Vorentscheid IT 1956
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 10. März 1956, aus dem Casinò Municipale in San Remo. Fünf Teilnehmer:innen. Moderation: Fausto Tommei und Maria Teresa Ruta.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Ugo Molinari | Albero caduto | 076 | 07 |
02 | Tonina Torielli | Amami se voui | 163 | 02 |
03 | Franca Raimondi | Aprite le Finestre | 171 | 01 |
04 | Ugo Molinari | Due Teste sul Cuscino | 020 | 10 |
05 | Tonina Torielli | Il Bosco innamorato | 077 | 06 |
06 | Tonina Torielli | Il Cantico del Cielo | 092 | 04 |
07 | Ugo Molinari | La Colpa fu | 088 | 05 |
08 | Luciana Gonzales | La Vita è un Paradiso di Bugie | 153 | 03 |
09 | Gianni Mazzocchi | Musetto | 041 | 08 |
10 | Ugo Molinari | Nota per Nota | 024 | 09 |
Zuletzt überarbeitet am: 25.08.2020
Man muss ja sagen, dass die Rekrutierung völlig uncharismatischer Backfische im Rahmen einer puristischen Auffassung von “Komponistenwettbewerb” , die unserem ESC noch lange schaden sollte, letztlich dazu geführt hat, das uns die Bilder der Finalbeiträge von San Remo 1956 fast vollständig überliefert wurden, was dann erst in den 70ern wieder der Fall sein wird.
Und das hat einen äußerst schrillen Grund: Eben weil die Interpreten und damit auch die Lieder bis auf die Torrielli völlig unbekannt blieben, konnte das Material 1964 recyclet werden: in dem unglaublich doofen Schlagerfilm “I Ragazzi del Hully Gully” mit ein paar katholisch gedämpften Jugendkultur-Rock‘n Roll-Schatten.
Der Plot ist irre: Graf Maurice Chanel Salimbeni (!), Songwriter, Besitzer eines millionenschweren Plattenstudios, hinterlässt nur dem seiner Verwandten (alle interessieren sich nicht die Bohne für das Gewerbe, sondern nur für die Lira ), der imstande ist, richtig vorauszusagen, welcher Schlager am Ende eines Jahres de meisten Umsätze gemacht haben wird. Und als Material konnten dann tatsächlich die erfolglos gebliebenen San-Remo Finalisten dienen, was natürlich viel Geld im Vergleich zu Neukompositionen sparte.
Dass der Schinken nicht gerade nach Cannes oder Venedig eingeladen wurde, versteht sich wohl von selbst.
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