Con­cours Euro­vi­si­on 1956: Auf­tritt einer Legende

Die Schweiz beher­bergt in ihrer zweit­größ­ten Gemein­de Genf den Haupt­sitz der euro­päi­schen Rund­funk­uni­on EBU, wel­che bekannt­lich 1955 den Euro­vi­si­on Song Con­test aus der Tau­fe hob. Des­sen Pre­miè­re ging 1956 eben­falls in der Eid­ge­nos­sen­schaft über die Büh­ne, und zwar in Luga­no im male­ri­schen Tes­sin. Kein Wun­der also, dass das Land sich selbst ger­ne als ideel­le Hei­mat des Grand Prix beschreibt. Und um so erstaun­li­cher, dass die Geschichts­schrei­bung hin­sicht­lich der Details der hel­ve­ti­schen Vor­ent­schei­dun­gen der Fünf­zi­ger­jah­re ziem­lich im Trü­ben fischt. Für die Erst­ver­an­stal­tung ist immer­hin soviel bekannt, dass die Vor­auswahl weni­ge Wochen vor dem inter­na­tio­na­len Wett­be­werb als Radio-Live­show in Lau­sanne statt­fand. Drei Künstler:innen nah­men dar­an teil, aus jeder der drei maß­geb­li­chen eid­ge­nös­si­schen Sprach­re­gio­nen eine:r. Wie das in einem kul­tu­rell dis­pa­ra­ten Land nun mal so ist, wo man auf den Pro­porz noch pein­lich genau­er ach­tet als inner­halb poli­ti­scher Par­tei­en oder bei deut­schen Rundfunkräten.

1963 konn­te sich die Schwei­ze­rin Ani­ta Tra­ver­si, Teil­neh­me­rin des hel­ve­ti­schen Vor­ent­scheids 1956, den zwei­ten Platz bei den Deut­schen Schla­ger­fest­spie­len sichern (Reper­toire­bei­spiel).

Selbst die Anzahl der ihnen jeweils zuste­hen­den Lie­der vari­ier­te bei den Drei­en, ver­mut­lich in Abhän­gig­keit zur Ein­woh­ner­schaft ihres jewei­li­gen Lan­des­tei­les. Oder gar, wir sind ja in der Schweiz, im Ver­hält­nis zu deren Finanz­kraft? Jeden­falls durf­te die im ita­lie­nisch­spra­chi­gen Tes­sin gebo­re­ne, 1991 ver­stor­be­ne Schla­ger­sän­ge­rin Ani­ta Tra­ver­si, eine Zeit­lang Dau­er­gast beim hel­ve­ti­schen Vor­ent­scheid und in den Jah­ren 1960 und 1964 dann auch tat­säch­lich die Ver­tre­te­rin der Eid­ge­nos­sen­schaft beim Euro­vi­si­on Song Con­test, nur ein ein­zi­ges Can­zo­ne zum Vor­tra­ge brin­gen, näm­lich die bei You­tube lei­der unauf­find­ba­re ‘Ban­del­la Tici­ne­se’. Einen ungleich grö­ße­ren Spiel­raum gestand man Jo Roland zu, dem Ver­tre­ter der fran­zö­sisch­spra­chi­gen Roman­die, der gleich fünf Chan­sons träl­ler­te, dar­un­ter bedau­er­li­cher­wei­se eben­falls unauf­find­ba­re Titel mit so schö­nen Namen wie ‘J’ai tri­ché’ (‘Ich betrog’) oder ‘Les deux Coquins (l’Ar­gent et l’A­mour)’ (‘Die zwei Schur­ken: Geld und Lie­be’). Was für ein unste­ter Gesell, der Herr Roland!

1959 woll­te sei­ne Plat­ten­fir­ma Roland mit der Cover­ver­si­on eines put­zi­gen US-Hits als “neu­en Star” auf­bau­en (Reper­toire­bei­spiel).

Über Roland, der es trotz eben­falls zahl­lo­ser Ver­su­che aller­dings nie bis zum euro­päi­schen Haupt­wett­be­werb schaf­fen soll­te, gibt das Inter­net her, dass der Sohn eines ita­lie­ni­schen Opern­sän­gers und einer fran­zö­si­schen Schau­spie­le­rin 1932 als Rolan­do Bonar­del­li zur Welt kam, 1957 sei­ne ers­te Vinyl­sin­gle unter dem Künst­ler­na­men Yves Boy­er auf­nahm, 1958 gemein­sam mit der Schwei­zer ESC-Ver­tre­te­rin von 1959Chris­ta Wil­liams, die ‘Him­mel­blaue Sere­na­de’ zu einem klei­nen Hit mach­te, 1962 in Niz­za einen World Aca­de­my Award (was immer das auch sein soll) als welt­bes­ter Schla­ger­sän­ger erhal­ten habe und 1986 schließ­lich nach Spa­ni­en aus­wan­der­te, wo er ein Restau­rant mit Cock­tail­bar eröff­ne­te. Übri­gens kei­ne unge­wöhn­li­che Berufs­wahl für einen abge­half­ter­ten Schla­ger­star: neben der Schau­spie­le­rei und der Poli­tik zählt das Gast­ge­wer­be zu den drei belieb­tes­ten Ein­kom­mens­quel­len für nicht mehr ange­sag­te Liedinterpret:innen. Weder ihm noch Ani­ta Tra­ver­si gelang indes ein Stich gegen die Reprä­sen­tan­tin der deutsch­spra­chi­gen Schweiz; der Frau, deren Namen man in ein­ge­schwo­re­nen Euro­vi­si­ons­krei­sen mit Ehr­furcht in der Stim­me nur lei­se wis­pert und nie­mals drei­mal hin­ter­ein­an­der laut aus­spricht: die gro­ße, die ein­zig­ar­ti­ge, die unver­wech­sel­ba­re, die legen­dä­re Lys Assia!

Nea­pel sehn und erben: die Assia weiß, wie’s geht!

Die unter dem bür­ger­li­chen Namen Rosa Mina Schä­rer als zwölf­tes Kind eines Instal­la­teurs gebo­re­ne und im Ver­lau­fe ihres beweg­ten Lebens gleich zwei­fach mit gut situ­ier­ten Män­nern ver­hei­ra­te­te Künst­le­rin begann ihre Kar­rie­re als aus­ge­bil­de­te Bal­lett­tän­ze­rin mit Auf­trit­ten weit über die Schweiz hin­aus, erhielt 1942 ihren ers­ten Plat­ten­ver­trag und lan­de­te 1950 mit dem ziem­lich zir­kus­haf­ten Ope­ret­ten­schla­ger ‘Oh mein Papa’ einen Erfolgs­ti­tel im gesam­ten deutsch­spra­chi­gen Raum, wo sie bis in die frü­hen Sech­zi­ger­jah­re hin­ein die Hit­lis­ten (und diver­se Schla­ger­fil­me) bevöl­ker­te. Man kann, nein, man muss sie gewis­ser­ma­ßen als den Super­star unter den drei hel­ve­ti­schen Konkurrent:innen bezeich­nen. Wie Jo Roland gestand man auch Lys gleich fünf Lie­der zu, von denen die Mul­ti­sprach­le­rin drei auf deutsch und zwei auf fran­zö­sisch inter­pre­tier­te. Übri­gens hat­te der eid­ge­nös­si­sche Tau­send­sas­sa zeit­gleich auch im Vor­ent­scheid des nörd­li­chen Nach­bar­lan­des ein wei­te­res Eisen im Feu­er – vor der Frau gab es wirk­lich kein Entkommen!

Da war der Lack noch nicht ab: Lys Assia mit ihrem Wettbewerbsbeitrag.

Über das jury­ba­sier­te Wer­tungs­ver­fah­ren die­ses Vor­ent­scheids ist lei­der nichts Genaue­res bekannt, aber wie wir wis­sen, gelang Lys (mit Unter­stüt­zung des sie als Chor beglei­ten­den Radio­sa-Quin­tetts) ein Dop­pel­sieg mit den bei­den anschlie­ßend nach Luga­no zum Haupt­wett­be­werb ent­sand­ten Titeln ‘Das alte Karus­sell’ und – einen schö­ne­ren Grand-Prix-Grund­stein hät­te man sich nicht aus­den­ken kön­nen! – ‘Refrain’. Ohne den geht bekannt­lich in der Pop­mu­sik über­haupt nichts, und gera­de beim Song Con­test ist ein guter Kehr­reim uner­läss­lich, um im Gedächt­nis der Jurys und der Zuschauer:innen zu blei­ben. Was Frau Assia, die 1957 und 1958 zum ESC zurück­keh­ren soll­te und die es 2012 und 2013 erneut beim hei­mi­schen Vor­ent­scheid ver­such­te, dann auch gelang und womit sie sich als ers­te Sie­ge­rin des bis heu­te fort­be­stehen­den Wett­be­wer­bes für immer unsterb­lich mach­te. Wenn auch lei­der nur meta­pho­risch: ent­ge­gen mei­ner fes­ten Erwar­tung, die noch bis ins hohe Alter bei aller­lei ESC-Events auf­tre­ten­de Lys wür­de auch im Jah­re 2056 noch Grand-Prix-Galas mit ihrer Anwe­sen­heit schmü­cken, ging sie bereits 2018 im zar­ten Alter von 94 Len­zen völ­lig über­ra­schend den Weg alles Irdi­schen. Und mar­kier­te damit das unwie­der­bring­li­che Ende einer Ära.

Galt jahr­zehn­te­lang als die Cher des ESC: die schein­bar unver­wüst­li­che Lys Assia, hier bei ihrer Sie­ger­re­pri­se in Lugano.

Vor­ent­scheid CH 1956

Con­cours Euro­vi­si­on. Sams­tag, 28. April 1956, aus dem Radio-Stu­dio in Lau­sanne. Drei Teilnehmer:innen.

#Interpret:inSong­ti­telErgeb­nis
01Jo RolandVendre­di
02Lys AssiaSei doch nicht so eifersüchtig
03Lys AssiaDas alte Karussellqua­lif.
04Jo RolandL’Al­lée aux Ormeaux
05Ani­ta TraversiBan­del­la Ticinese
06Jo RolandLa Bal­la­de des bon­nes Années
07Lys AssiaLe Bohé­mi­en
08Jo RolandLes deux Coquins (l’Ar­gent et l’Amour)
09Jo RolandJ’ai tri­ché
10Lys AssiaAddio bel­la Napoli
11Lys AssiaRefrainqua­lif.

Letz­te Über­ar­bei­tung: 27.02.2021.

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