Das wohlmeinende Experiment war gescheitert: hatte man 1956 beim San-Remo-Festival, dem auch als italienischen Vorentscheid genutzten ligurischen Musikfestival, die etablierten Sänger:innen mit den großen Namen außen vor gehalten, um dem musikalischen Nachwuchs eine Chance zu geben, so holte der verantwortliche Sender Rai aufgrund des ausgesprochen geringen öffentlichen Zuspruchs bereits ein Jahr später die Stars wieder zurück. Es gab zwei Vorrunden mit jeweils zehn Titeln, von denen sich jeweils die Hälfte per Jury-Entscheid für das samstägliche Finale qualifizierte. So jedenfalls die Planung. Tatsächlich flog in den Semis in letzter Sekunde noch das Lied ‘La cosa più bella’ heraus, da es sich herausstellte, dass davon verbotenerweise bereits vor dem Wettbewerb eine Plattenaufnahme existierte. Dennoch musste das Semifinalpublikum nicht nur 19 Auftritte über sich ergehen lassen, sondern deren 38: jeder San-Remo-Beitrag wurde gleich zwei Mal von verschiedenen Künstler:innen unterschiedlich interpretiert; eine gerade in den Anfangsjahren des Contests weit verbreitete und insbesondere von den skandinavischen Ländern bei ihren Vorentscheiden oft kopierte Herangehensweise. Trotzdem bewerteten die Jurys in der Endabstimmung nur die Songs und nicht die Sänger:innen.
Da läuft der Schmalz literweise aus dem Lautsprecher: Claudio Villa mit dem San-Remo-Siegerlied 1957.
Jedenfalls nach offizieller Lesart: tatsächlich okkupierten zwei von Claudio Villa, dem San-Remo-Sieger von 1955 und mit Abstand populärsten Teilnehmer des Wettbewerbs dargebotene Beiträge punktgleich (!) die beiden ersten Ränge. Und belegten auf diese Weise, dass Juror:innen genau so wenig gefeit sind vor Starpower wie das breite Publikum. Der 1926 als Claudio Pica in Rom geborene Schnulzenkönig, der gleich vier (!) Songs ins Finale durchbrachte, hatte in seiner Jugend eine Tuberkulose überstanden, die ihm auf die Stimmbänder schlug und seine charakteristisch hohe Falsettstimme verursachte. Mit eben dieser sülzte er sich kraftvoll durch das mit über fünf Minuten (!) Spieldauer kaum zu Ende kommende ‘Corde della mia Chitarra’ (‘Akkorde meiner Gitarre’), welches die Rai – nach welchen Kriterien auch immer – unter den beiden Ex-Æquo-Ersten zum offiziellen Siegertitel erklärte und als italienischen Beitrag zum Grand Prix 1957 nach Frankfurt am Main entsandt. Allerdings, zum Frust des düpierten Villa, in der zweiten, nur unwesentlich kürzeren Fassung des ausgebildeten Operntenores Nunzio Gallo. Vermutlich, weil dieser die Nummer nicht nur musikalisch etwas zurückgenommener, sondern auch mit deutlich weniger Schmacht in der Stimme präsentierte. Was sie allerdings sehr viel langweiliger machte. Denn merke: wenn schon Schmalz, dann aus vollen Rohren!
Kassierte genau so viele Jurypunkte wie die Akkorde seiner Gitarre, musste sich jedoch mit Rang zwei in der offiziellen San-Remo-Wertung begnügen: ‘Usignolo’, der zweite Villa-Schmachtfetzen (hier bei einem Galakonzert von 1980).
Tonina Torrielli, eine der beiden italienischen Vorjahresvertreterinnen, fand sich ebenfalls mit zwei Liedern im Line-up wieder, von denen die entnervend dröge Ballade ‘Scusami’ den dritten Rang erreichte. Zu Popularität beim Publikum und zu einer Art heimischem Evergreen brachte es der viertplatzierte Titel des Wettbewerbs, der possierlich-lebhafte Samba ‘Casetta in Canadà’, interpretiert von Carla Boni und Gino Latilla mit vokaler Unterstützung des Duos Fasani. Die 1925 als Carla Gaiano geborene Boni, bereits mit zehn Jahren ein Kinderstar in der Heimat, ehelichte kurze Zeit nach dem San-Remo-Auftritt ihren Duettpartner Latilla, der zeitweilig für die Rai arbeitete. Das Paar trennte sich Mitte der Siebziger, trat aber Ende der Achtziger wieder gemeinsam auf. Die beiden starben 2009 respektive 2011. Ihr Beitrag erzählt zu flotten Rhythmen und infantil fröhlicher Musik (tatsächlich machte der Song Jahrzehnte später eine zweite Karriere als Kinderlied) die hochgradig irritierende Geschichte eines offensichtlich von der Mafia verfolgten und nach Kanada entflohenen Italieners, dem auch in der vermeintlich sicheren Fremde ein gedungener Schurke namens “Pinco Panco” immer und immer wieder das Häuschen anzündet. Woraufhin der unermüdliche Held der Story stets ein weiteres errichtet, das unvermeidlich erneut den Flammen zum Opfer fällt. Tragisch!
Carla Boni und Gino Latilla bei einem TV-Auftritt im Jahre 1989, bei dem sie ihren San-Remo-Song in einer ungefähr 10% langsameren Fassung präsentieren, damit sie stimmlich noch hinterherkommen.
Zu den musikalisch etwas peppigeren Beiträgen des Abends zählte zudem das ebenfalls von Claudio Villa (schon wieder!) im Duett mit Gino Latilla intonierte, sechstplatzierte ‘Il Pericolo Número uno’. Ein Propagandalied gegen den seinerzeit besonders stark verteufelten Kommunismus also? Aber wo! Mit der teuflischen“Gefahr Nummer eins” konnte natürlich nur eine gemeint sein: “La Donna” nämlich, also die Frau, nach Meinung der Kirche und des eisern regierenden Patriarchats schon immer die Wurzel allen Übels. In den von manchen Menschen heute so gerne als golden verklärten Fünfzigern durfte man solcherlei augenzwinkernd vorgetragenes, hochgradig sexistisches Gedankengut halt noch ungestraft verbreiten, ohne dass es zu einem Shitstorm kam! Der Tausendsassa Villa (†1987) führte im Anschluss bei dem am Sonntag nach dem San-Remo-Finale gesondert abgehaltenen Komponistenwettbewerb für Autoren ohne Plattenvertrag auch noch das Lied ‘Ondamarina’ zum Sieg: vor dem Pinco Panco des San-Remo-Festivals von 1957 gab es schlichtweg kein Entkommen!
Ein klassischer Fall von Täter-Opfer-Umkehr: die Frau als Wurzel allen Übels (leider nur als Tonspur erhältlich).
Vorentscheid IT 1957
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 9. Januar 1957, aus dem Casinò Municipale in San Remo. Elf Teilnehmer:innen. Moderation: Nunzio Filogamo.Interpret:in | Interpret:in | Titel | Jury | Platz |
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Claudio Villa | Nunzio Gallo | Corde delle mia Chitarra | 63 | 01 |
Claudio Villa | Giorgio Consolini | Usignolo | 63 | 02 |
Gino Latilla | Tonina Torrielli | Scusami | 43 | 03 |
Carla Boni + Gino Latilla | Gloria Christian | Casetta in Canadà | 32 | 04 |
Claudio Villa | Giorgio Consolini | Cancello tra le Rose | 30 | 05 |
Claudio Villa + Gino Latilla | Natalino Otto | Il Pericolo Número uno | 24 | 06 |
Tina Allori | Tonina Torrielli | Intorno a te (È sempre Primavera) | 16 | 07 |
Carla Boni | Nunzio Gallo | Per una Volta ancora | 12 | 08 |
Gino Baldi | Natalino Otto | Un Filo di Speranza | 07 | 09 |
Carla Boni | Gloria Christian + Natalino Otto | Le Trote blu | 04 | 10 |
Letzte Überarbeitung: 10.06.2020