Belgien, das ist das Bosnien-Herzegowina Westeuropas: ein kulturell wie politisch unheilbar geteiltes Land, bestehend aus zwei sich gegenseitig mit tief sitzendem Misstrauen beäugenden Völkern (hier: die niederländisch sprechenden Flamen und die französisch parlierenden Wallonen), mehr schlecht als recht zusammengehalten von einem gemeinsamen Königshaus sowie von einer von niemandem so wirklich respektierten Bundesregierung, die stets am Rande der politischen Handlungsunfähigkeit dahinmanövriert. Dass noch keine Blauhelmsoldaten der UN einmarschieren mussten, verdankt der Beneluxstaat vor allem seiner finanziellen (und der daraus folgenden gesellschaftlichen) Stabilität sowie dem fein austarierten Proporz der Institutionen. So existieren neben zwei Regionalparlamenten auch zwei getrennte Rundfunkanstalten, der flämische Sender VRT und sein wallonisches Pendant RTBF, die stets abwechselnd für die Entsendung des belgischen Beitrags zum Eurovision Song Contest verantwortlich zeichnen.
TV makes it, TV even breaks it: wie dieser Mitschnitt ab Minute 1:31 beweist, hatten die Belgier schon 40 Jahre vor den Iren den Riverdance drauf.
Die Wallonen (über deren Vorentscheide sich meist wenig bis gar nichts in Erfahrung bringen lässt) begannen 1956, und so waren 1957 beim zweiten Grand Prix die Flamen an der Reihe. Sie bestimmten intern den seit den Vierzigerjahren weit über die Landesgrenzen hinaus erfolgreichen Countrysänger und Schauspieler Bobbejaan Schoepen, der im Laufe seiner Karriere insgesamt fünf Millionen Platten verkaufen konnte, zu ihrem Repräsentanten. Der Sender produzierte für den heimischen Superstar eine Personalityshow mit dem schönen Titel De TV maakt Muziek, in welcher er in wechselnden Kulissen drei Wettbewerbsbeiträge vorstellen durfte. Als roter Faden der Sendung fungierte eine Telefonistin, welche die Beiträge per Handvermittlung miteinander verknüpfte. So schaltete das Fräulein vom Amt nach Abstechern ins niederländische Alkmaar und in die offensichtlich frei erfundene spanische Gemeinde “Baia” ganz polyglott in die französische Metropole, wo Bobbejaan den Anruf in einer Telefonzelle entgegennahm und dann anhob, von seinen Erlebnissen in einer ‘Sommernacht in gay Paris’ zu berichten.
Victor / Victoria auf belgisch: Bobbejaan in der französischen Homo-Hauptstadt.
Doch wer nun glaubt, der flämische Troubadour nähme uns mit in einen Darkroom im trendigen Pariser Schwulenviertel Marais, der irrt gewaltig: in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts las man die englische Vokabel “gay” zumindest offiziell noch im eigentlichen Wortsinne, nämlich als “fröhlich, ausgelassen, beschwingt”. Ihre subtile Zweitbedeutung blieb in dieser Zeit, da sich Homosexualität als “die Liebe, die ihren Namen nicht auszusprechen wagt”, verstecken musste, nur Betroffenen und Eingeweihten vorbehalten. Und so lief der als Modest Hyppoliet Schoepen geborene Sänger, dessen Künstlername Bobbejaan auf afrikaans soviel wie “Pavian” bedeutet, und der Wikipedia zufolge im Jahre 1943 während der deutschen Besatzungszeit in Belgien für einen Eklat gesorgt hatte, als er in einem Antwerpener Club vor anwesenden Nazis das südafrikanische Lied “Neen Mamma, ’n Duitseman, die wil ek nie / Want Schweinefleisch, dat lus ek nie” anstimmte, vor einem Metro-Eingang auf und ab, bis sich eine Tänzerin für ein Stelldichein unterm arg gerupften Mandelbaum zu ihm gesellte.
Das geht so leicht ins Ohr wie Peter Alexander: Bobbejaan pfeift sich eins.
Die dreisprachig auf flämisch, englisch und deutsch (!) dargebotene Revue-Nummer zog jedoch leider, ebenso wie die von Bord eines Schiffes eingespielte heintjeske Superschnulze ‘Das Bild meiner Mutter’, gegen den frankophil instrumentierten Ziehharmonika-Walzer ‘Straatdeuntje’ den Kürzeren, in welchem er, im Pullunder durch die Kulissenstraßen von Montmartre wandernd, einen aus sehr viel “Tra la la” und Gepfeife bestehenden Ohrwurm aufschnappte und – Metaebene, ich komme! – besang. Und da befand sich der im Jahre 2010 verstorbene, künstlerische Tausendsassa natürlich in seinem Element, denn neben der Gitarre und dem Gesang beherrschte er auch das Kunstpfeifen. Sowie die europaweit beliebte Kulturtechnik des Jodelns! Weswegen seine erste, 1948 veröffentlichte Platte wohl auch ‘De jodelende Fluiter’ hieß.
Jodeln, Pfeifen, Gackern, Grunzen, Mähen, Grimassieren: Bobbejaan zieht wirklich alle Register (Repertoirebeispiel)!
In Deutschland erzielte Schoepen, der auch in einigen Schlagerfilmen auftrat, in den Sechzigern mit karnevalistisch anmutenden Country-Schlagern wie ‘Ich steh’ an der Bar und habe kein Geld’ (1960) Hits. Sein ersungenes, erpfiffenes und erjodeltes Geld legte er geschickterweise in einem Freizeitpark an, dem noch heute existenten Bobbejaanland, das zunächst auf einem günstig erworbenen, ehemaligen Sumpfgebiet als Wasserpark mit angeschlossenem Varietétheater entstand, in welchem Schoepen gemeinsam mit internationalen Stargästen, darunter Rex Gildo und Michael Holm, auf der Bühne stand, und das er in den Siebzigern mit Achterbahnen und weiteren Fahrgeschäften zu einer überregionalen Touristenattraktion ausbaute. Beim Grand Prix in Frankfurt am Main fand sein niedlicher Gassenhauer indes nur wenig Anklang: Platz 8, bei zehn Teilnehmer:innen. Vielleicht hätten die Flamen besser die als Pausenunterhalterin angeheuerte Rina Pia mit ihrem unfassbaren Comedy-Kracher von der ‘Jodelnden Kuh’ geschickt…
Da hat das Milch gebende Weidetier wohl zu viel Enzian gefressen: Rina Pia.
Vorentscheid BE 1957
De TV maakt Muziek. Dienstag, 19. Februar 1957, aus dem INR-Studio in Brüssel. Ein Teilnehmer.# | Interpret | Titel | Platz |
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01 | Bobbejaan Schoepen | Straatdeuntje | 01 |
02 | Bobbejaan Schoepen | Zomernacht in Gay Paree | – |
03 | Bobbejaan Schoepen | Het Beeld van mijn Moeder | – |
Letzte Aktualisierung: 28.08.2020