1956, im ersten Jahr des von der BBC mit initiierten Eurovision Song Contests, konnten die Briten aus eigener organisatorischer Unfähigkeit nicht an den europäischen Festspielen teilnehmen. Zwar hielten auch sie einen am Vorbild des italienischen San-Remo-Festivals orientierten Liederwettbewerb ab. Doch das mit zahlreichen Vorrunden versehene Festival of British popular Songs ging bizarrerweise erst am 22. Oktober 1956 zu Ende, mithin fünf Monate zu spät für den ESC. Und obschon mit Petula Clark ein erfolgreicher Kinderstar daran teilnahm, brachte es nicht einen einzigen Hit hervor. Nur drei Monate später, am 22. Januar 1957, startete die BBC dennoch unverdrossen die zweite Ausgabe des Formates. Welches diesmal auch zur Ermittlung des britischen Grand-Prix-Beitrags diente, denn die nicht nur nach eigener Empfindung zumindest seinerzeit führende europäische Pop-Nation wollte das Feld den Brüdern und Schwestern vom Festland keinesfalls alleine überlassen.
Ein “weltfremdes, junges Geschöpf”, so die Eigenbeschreibung der Sängerin Patricia Bredin.
Getreu des Mottos “warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?” gab es drei Vorrunden mit jeweils sechs Liedern, diese wiederum in jeweils zwei unterschiedlichen Fassungen, eine davon in der Regel als Instrumentalversion. ‘All’, der operettenhafte Siegersong dieser Ausscheidung, tauchte erstmals im dritten Semifinale auf. Die Sängerin dafür fand die BBC erst in letzter Minute, wie der britische Buchautor und ESC-Experte Gordon Roxburgh in seiner Fibel Songs for Europe – Volume 1: the 1950s and 1960s offenbart. Er zitiert aus einem Interview der Interpretin mit dem Vision-Magazin: “Niemand wollte dieses Ballädchen singen, die Leute bei der BBC waren ziemlich in der Klemme,” beschreibt sie die Ausgangssituation. Dann aber besuchte die Sekretärin des für den Vorentscheid zuständigen TV-Produzenten das Londoner Musical Free as Air, in dem Patricia Bredin mitwirkte. Sie schlug ihrem Chef vor, “dieses süße kleine Ding, das so göttlich sang”, könne doch vielleicht das Lied übernehmen, das “keiner von den Stars” wollte?
Vorstellungsvideo über den südafrikanischen Schauspieler, Sänger, Pfeifensammler und britischen Vorrundenteilnehmer von 1957, Dennis Lotis.
Da der seinerzeit kaum bekannte Vorrundenteilnehmer Bryan Johnson wohl nicht gemeint sein konnte, bezog sie sich mit der Zuschreibung “Star” vermutlich auf ihre Mitfinalistin Lita Roza, die 1953 im Königreich einen Nummer-Eins-Hit mit einer Coverversion der aus heutiger Sicht inhaltlich fragwürdigen US-Novelty-Nummer ‘How much is that Doggie in the Window?’ hatte. Jedenfalls nahm die BBC zu Patricia Kontakt auf und fragte sie, ob sie im Fernsehen auftreten wolle. “ ‘Ja, bitte!’ war meine so umgehende wie eindringliche Antwort,” so Frau Bredin. Ihr deutlicher Sieg im Finale stieß, wie sie sich weiter erinnerte, auf wenig Gegenliebe im Saalpublikum, das hauptsächlich aus Marketingleuten der Plattenfirmen bestand: “Niemand von ihnen hatte Interesse an einer drögen kleinen Ballade,” zumal noch gesungen von einer relativ unbekannten Künstlerin. Und so spielte sie das mit knapp zwei Minuten Laufzeit zumindest segensreich kurze Lied niemals auf Tonträger ein. Auch die restlichen fünf Finaltitel hielten weiten Abstand von den Charts.
Vorstellungsvideo über die britische Schauspielerin und Flugzeugsammlerin Carole Carr, Vorrundenteilnehmerin von 1957 und laut IMDb die “erste Sängerin, die nach der Wiederaufnahme des BBC-Sendebetriebs nach dem zweiten Weltkrieg auf dem Bildschirm erschien”.
Wieso tut sich ausgerechnet eine unbestritten kulturell progressive Pop-Nation wie Großbritannien eigentlich so schwer damit, ihren Vorentscheid mit erfolgversprechender Ware zu bestücken? Eine von Roxburgh zitierte Kommentierung des allgemein als ziemlich schwach empfundenen musikalischen Niveaus des Festivals durch ein Mitglied des BBC-Auswahlkomitees in der Fachzeitschrift Melody Maker wies auf das Kernproblem solcher Musikwettbewerbe hin, unter dem auch die deutsche Eurovisionsvorentscheidung immer wieder leidet: “War das wirklich das Beste, was die Industrie hervorbringen konnte? Natürlich nicht! Die Verleger scheuten, wie letztes Jahr schon, erneut davor zurück, ihre besten Songs einzureichen. Und so blieb uns nichts anderes übrig, als aus einem Haufen Müll (mit vielleicht eins, zwei Ausnahmen) 16 sehr mittelmäßige Lieder auszuwählen”.
Zum Vergleich ein Blick in die Charts: die sehr frühe Liebeserklärung des späteren italienischen (!) Vorentscheidungsteilnehmers Paul Anka an die zeitweilige Ehefrau des designierten britischen Thronfolgers Prince Charles toppte 1957 die britische Verkaufshitparade (Repertoirebeispiel).
Der Grund für die Zurückhaltung von Seiten der Plattenfirmen? “Die Sicht der Verleger ist: wenn sie ihr bestes Lied schicken und dieses den Wettbewerb nicht gewinnt, dann ist es für sie unmöglich, den Song im Anschluss kommerziell zu verwerten und das Publikum zu überzeugen, dass er es wert sei, gekauft zu werden. Wie, so habe ich sie sagen hören, sollen wir einen Hit aus einem Beitrag machen, der vor den Augen von Millionen von Zuschauern als seinen Konkurrenten unterlegen abgewertet wurde”? Ein Dilemma, von dem auch die ARD ein Lied singen kann und das im besonderen Maße Nationen mit einem starken Musik-Binnenmarkt betrifft, in denen die Industrie nicht so sehr auf eine möglichst grenzüberschreitende Verwertung angewiesen ist, um von den Umsätzen leben zu können. Und mit ein Grund dafür, warum gerade diese Big Five heutzutage meist so schlecht abschneiden: ihre Sender kriegen, anders als zum Beispiel in Schweden oder in Bulgarien, von den heimischen Firmen einfach nicht die stärksten Titel angeboten, weil man diese lieber direkt vermarktet, statt sie beim nationalen Eurovisionsvorentscheid mit ungewissem Ausgang zu verheizen.
Wirklich keine starke Konkurrenz: ‘For your Love’, der altmodisch-pompöse Balladenriemen von Ronnie Hilton, unterlag dem Operettensong von Frau Bredin.
Vorentscheid UK 1957
Festival of British popular Songs. Dienstag, 12. Februar 1957, aus den BBC Studios in London. Zwölf Teilnehmer:innen. Moderation: David Jacobs. Jury.# | Interpret:in | Interpret:in | Titel | Jury | Platz |
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01 | The Keynotes | Bill Maynard | Don’t cry little Doll | 14 | 04 |
02 | Pauline Shepherd | Carole Carr | Once | 23 | 02 |
03 | Dennis Lotis | The Keynotes | Seven | 13 | 05 |
04 | Malcolm Lockyer Quartet | Patricia Bredin | All | 39 | 01 |
05 | Ronnie Hilton | Alan Bristow | For your Love | 13 | 05 |
06 | Lita Roza | Stan Roderick | The Way it goes | 18 | 03 |
Letzte Überarbeitung: 22.04.2023