Er sollte einen unsterblichen Welthit hervorbringen, dieser Jahrgang des San-Remo-Festivals, das erneut als italienische Eurovisionsvorentscheidung fungierte. Der bislang auch für die Inhalte zuständige Staatssender Rai legte die Organisation des Wettbewerbs nunmehr vollständig in die Hände des Tourismusbüros der ligurischen Kurstadt – schließlich verfolgte der festliche Event in erster Linie den Zweck der Fremdenverkehrswerbung – und beschränkte sich auf die Übertragung der Show. Inhaltlich blieb jedoch alles beim Alten: erneut gab es zwei Vorrunden mit je zehn Liedern, die jeweils von zwei meist arrivierten Künstler:innen unterschiedlich interpretiert wurden. Zehn davon schafften es ins Finale am Samstag. Darunter auch eine eingängige, ohrwurmhafte Melodie namens ‘Nel blu dipinto di blu’ (‘In blau gemaltes blau’: nach Angaben des Textdichters sollen im Rahmen des Kreativprozesses mehrere Liter Wein geflossen sein, was die Wortwahl vielleicht erklärt). Vorgetragen wurde sie unter anderem von Johnny Dorelli, einem in Neapel geborenen, aber in New York aufgewachsenen Newcomer, der aufgrund seiner jugendlichen Ausstrahlung als einer der Favoriten galt und mit seiner leicht sphärisch-jazzigen Interpretation des Titels den Wettbewerb auch gewann.
Schaffte es sogar ins US-Fernsehen: Modugno in der Ed-Sullivan-Show.
Aber natürlich nicht alleine, sondern gemeinsam mit dem zweiten Sänger. Bei diesem handelte es sich – ein Novum beim Festival – zugleich um den Schöpfer des heutzutage als ‘Volare’ bekannten Liedes, Domenico Modugno, der erstmalig darauf bestand, seine Komposition selbst singen zu dürfen und der damit die Kategorie des Cantautore (die deutlich schönere Terminologie für den Singer-Songwriter oder Liedermacher, wie er im deutschsprachigen Raum heißt) begründete. Bekanntlich schickte die Rai den heutzutage als nationales Kulturgut verehrten Modugno, dem seine apulische Heimatgemeinde Polignano al Mare nach dessen Tod im Jahre 1994 sogar ein Denkmal aufstellte, mit seiner etwas bräsigeren Fassung des Beitrags zum Eurovision Song Contest nach Hilversum. Der Rest ist Popgeschichte: die Nummer 1 in den US-amerikanischen Billboard-Charts, ein Tophit in vielen europäischen Ländern, zwei Grammys sowie über die Jahrzehnte hinweg immer wieder neue Coverversionen von prominenten Künstler:innen in zahllosen Sprachen. Auch wenn Modugno den Welterfolg von ‘Volare’ natürlich nie mehr toppen konnte, schloss sich eine langanhaltende, erfolgreiche Karriere als Musiker, Schauspieler und sogar Politiker an: nachdem ein Schlaganfall ihm im Jahre 1984 das weitere Auftreten als Sänger verunmöglichte, trat er der linksgrünen Partitio Radicale bei, für die er vier Jahre lang im italienischen Parlament saß. Gefolgt übrigens von der ehemaligen Pornodarstellerin Ilona Staller alias Cicciolina.
Due Pizzi, per favore: Nilla mit ihrem musikalischen Rankengewächs.
Zurück nach San Remo: hinter Modugno und Dorelli auf dem zweiten Rang landete in der Jurywertung die Siegerin der beiden ersten, noch ausschließlich im Radio übertragenen Festivali von 1951 und 1952, die im Jahre 2011 verstorbene Nilla Pizzi, mit der verhältnismäßig klassischen Ballade ‘L’Edera’ (‘Das Efeu’), mit welcher sie zumindest in der Heimat einen kleineren Hit landete. Der in dieser Dekade beim San-Remo-Festival nachgerade unvermeidliche Schnulzenkönig Claudio Villa schaffte es erneut mit gleich vier (!) Titeln ins Finale. Hierunter fand sich beispielsweise der viertplatzierte Hardcore-Schmalzriemen ‘Campana di Santa Lucía’, aber auch das in seiner Art irgendwie ganz putzig-verspielte ‘Fragole e Cappellini’ (‘Erdbeeren und Strohhütchen’). Hm, Erdbeeren mag ich eigentlich lieber mit Schlagsahne, aber bitte, ein jeder nach seinem Geschmack! Die Zweitversion des Titels interpretierte der neapolitanische Sänger und Schauspieler Aurelio Fierro, der insgesamt sechsmal am San-Remo-Festival teilnehmen sollte und drei mal die Konkurrenzveranstaltung im heimischen Neapel gewann.
Die Audioplaylist mit allen San-Remo-Titeln 1958.
Vorentscheid IT 1958
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 1. Februar 1958, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 14 Teilnehmer:innen. Moderation: Gianni Agus und Fulvia Colombo.Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
Domenico Modugno | Johnny Dorelli | Nel blu dipinto di blu | 63 | 01 |
Nilla Pizzi | Tonina Torrielli | L’Edera | 41 | 02 |
Gino Latilla | Nilla Pizzi | Amare un’altra | 22 | 03 |
Claudio Villa | Giorgio Consolini | Campana di Santa Lucia | 18 | 04 |
Claudio Villa | Nilla Pizzi | Giuro d’amarti così | 17 | 05 |
Carlo Boni + Gino Latilla | Aurelio Fierro + Gloria Christian | Timida Serenata | 15 | 06 |
Claudio Villa | Aurelio Fierro | Fragole e Cappellini | 13 | 07 |
Natalino Otto | Carlo Boni + Gino Latilla | Non potrai dimenticare | 08 | 08 |
Tonina Torrielli | Cristina Jorio | Mille Volte | 03 | 09 |
Johnny Dorelli | Natalino Otto | Fantastica | 01 | 10 |
Letzte Aktualisierung: 05.06.2021
Das “Weltall”-Video mit Dorelli ist mit Trick-Stop-Motion wirklich eine frühe ESC-Show-Perle! Könnte auch heute noch für Bühnenideen ausgeschlachtet werden.
Das von Tanja erwähnte, wirklich sehenswerte Weltall-Video mit Dorelli ist mittlerweile leider auf Youtube nicht mehr erhältlich. Das russische Portal mail.ru bietet es aber an: https://my.mail.ru/mail/tashka.tanya/video/4519/4540.html