“Dreimal dabei: bitte nicht wiederwählen!” hieß es, die Älteren erinnern sich, während der Siebzigerjahre in der ZDF-Hitparade immer dann, wenn sich ein Schlager dort zum dritten Mal in Folge “placiert” hatte, wie Dieter Thomas Heck es so schön pseudopolyglott aussprach. Dann durfte man als Zuschauer:in für selbigen keine Postkarte mehr schicken bzw. nicht mehr anrufen. Eine solche Regel existiert beim Eurovision Song Contest zwar logischerweise nicht, dennoch endete im dritten Jahr seines Bestehens die Dauerteilnahme von gleich zwei Künstlerinnen, die ihn beide bereits seit dem Start in Lugano begleiteten. Nämlich zum einen die Niederländerin und Vorjahressiegerin Corry Brokken, die auch diesmal die Tabelle anführte – allerdings vom anderen Ende aus gesehen. Das nenne ich mal einen harten Absturz! Wenn auch einen ganz und gar verdienten: zwar zeichnete sich keiner von Corrys Eurovisionsbeiträgen durch besonderen Pepp aus, allerdings erwies sich ihre diesjährige Ballade ‘Heel de Wereld’ (‘Die ganze Welt’) als von geradezu exzeptioneller Langeweile. Und von unnötiger Länge: im Grunde war das Lied nach spätestens 90 Sekunden auserzählt und hätte enden können. Tat es aber nicht.
https://www.youtube.com/watch?v=Wq2EdXPzPLo
Die sinnenfreudige Lys Assia ratterte in rasender Geschwindigkeit die Speisen- und Getränkekarte ihres Lieblingsitalieners herunter. Darauf einen Ramazzotti! (CH)
Ganz anders als bei der helvetischen Premierensiegerin und Vorjahresvorletzten Lys Assia, die ebenfalls ihre dritte und letzte Runde auf der internationalen Bühne drehte. Ihre so flotte wie skurrile Ode an ihren italoschweizerischen Stecher ‘Giorgio’ nämlich nahm, was das Tempo des Songs und des darin dargebotenen Sprechgesangs angeht, den deutschen Hip-Hop und Flummitechno der Neunziger bereits vorweg. Und belegte damit so erstaunlicher- wie berechtigerweise den zweiten Rang. Textprobe: “Ein Weekend mit Dir und Risotto, Risotto, Risotto, Risotto, Risotto” – die Assia schien mit ihrem Gigolo am (in Schlagerkreisen äußerst beliebten) Lago Maggiore entweder eine frühe Version von ‘9 ½ Wochen’ auszuprobieren, oder sie surfte einfach sehr geschickt auf der gerade durch das wirtschaftlich wiedererstarkende Nachkriegsdeutschland wogenden Fresswelle. Zumal noch “Polenta”, “Vino”, “Espresso” und natürlich “Chianti” eine Rolle spielten. Ihr funkelndes Eurovisions-Kleinod, bei dem sie gegen Ende ihrer Live-Darbietung ein wenig ins freie Variieren abdriftete, was das niederländische Orchester aber tadellos parierte, illustrierte jedenfalls aufs Schönste, welch immense Bedeutung der Linguistik auch bei Popmusik zukommt: als “Georg” oder “Schorschi” hätte die Nummer nicht funktioniert.
Sollte doch mehr als 20 Cent wert sein: Margot “Miss Muziekapparat” Hielschers Beitrag (DE).
Die deutsche Wiederkehrerin Margot Hielscher hingegen stürzte bei ihrer zweiten Teilnahme ab. Wie schon im Vorjahr versuchte sie, die Sprachgrenze mit optischen Illustrationen zu überwinden. Ihr hinreißend vertontes ‘Für zwei Groschen Musik’ handelte von der seinerzeit in keiner Gaststätte fehlenden Jukebox. Also hantierte sie mit ein paar Single-Schallplatten (unverkaufte Restexemplare ihrer eigenen Aufnahmen?) und kostümierte sich sicherheitshalber mit rotem Schleifchen und glitzerndem Krönchen als “Miss Jukebox”. Vermutlich führte genau das zur fatalen Fehlinterpretation durch die Juroren, die glauben konnten, Hielscher wolle sich bereits vor ihrem Urteil selbst zur Königin des Abends krönen. So reagierten sie verschnupft und verbannten die Deutsche auf einen (damals noch) unglücklichen und ungerechten siebten Platz. Ein bisschen irritierte zudem, dass aus ihrem exquisiten Ballonkleid, welches sie zur Illustration des Textsprengsels “Miss Bein” keck für circa zwei Zentimeter anlüpfte, hinten noch das Preisschild herauszuhingen schien. Wollte sie es nach dem Auftritt zurückgeben? Für Belgien nahm erneut Fud Leclerc (†2010) teil, der noch die nächsten fünf Jahre im stetigen Wechsel mit Bob Benny magere Resultate ersingen durfte: er für Wallonien, den französischsprachigen Part des Bierpanscherlandes; Benny für Flandern, den holländisch sprechenden Teil.
Schwedens erfolgreiche Eurovisionsreise startet 1958 mit der Zeile “La la la la la la lala la” (SE).
In ihrer typischen, liebenswert grotesken Selbstüberschätzung blieben die Briten aus Protest gegen die schlechte Vorjahresplatzierung ihres außergewöhnlich zähen Premierenbeitrags ‘All’ der Hilversumer Veranstaltung fern. Dafür nahm erstmalig das Land teil, das ihnen bald den Ruf als europäisches Powerhouse des Pop streitig machen sollte. Die vom schwedischen Komponistenverband direkt bestimmte Alice Babs (†2014), zum Zeitpunkt ihres Grand-Prix-Debüts eine auch in Deutschland bereits erfolgreiche Schlagersängerin (‘Ein Mann muss nicht immer schön sein’) und Filmschauspielerin (‘Schwedenmädel’), trat in einer im Vergleich zu den sonst üblichen, aufwändigen Abendkleidern recht rural wirkenden Landestracht an und begann ihr lieblich-langweiliges ‘Lilla Stjärna’ (‘Kleine Sterne’) mit vollen vier Zeilen “La la la”. Vermutlich im Bestreben, die Juroren einzulullen, bevor sie aufgrund der damals noch ungeschriebenen, dennoch freiwillig strikt befolgten Sprachenregel für den Rest des Liedes auf das für die meisten europäischen Ohren ziemlich zickig klingende Schwedisch umsteigen musste. Der beim Grand Prix gern genutzte Trick der universell verständlichen Lautmalerei funktionierte: mit dem vierten Rang erfuhren die Skandinavier:innen eine deutlich gnädigere Aufnahme in die Eurovisionsfamilie als die vergrätzten Insulaner:innen.
Herz und Schmerz und Salz und Schmalz: ach, Du liebe Augustin (AT).
Skurril: trotz der hohen Lalala-Dichte sorgten die Lyrics von ‘Lilla Stjärna’ für Verstimmung zwischen dem Autoren und der Interpretin, die für Hilversum eine Überarbeitung des von ihr als zu brav empfundenen, ursprünglichen Textes erwirkte. Für die Plattenaufnahme jedoch bestand der Textdichter auf den Originalzeilen, also weigerte sich Alice, den Song einzuspielen. Das wiederum verband sie mit der vom ORF ebenfalls intern nominierten Wiener Diseuse Liane Augustin, die mit dem schmalzig dahingesülzten, sämtliche nur denkbaren Reimeklischees versammelnden und natürlich gleich mit globalem Anspruch daher kommenden ‘Die ganze Welt braucht Liebe’ erstaunlicherweise einen fünften Rang erträllern konnte. Und das, obwohl sie sich in ihrer sexuellen Zügellosigkeit ein “zweites kleines Schweinchen” herbeiwünschte. Tsk! Wie Wikipedia weiß, sprang die noch bis in die Siebziger erfolgreiche Künstlerin an nur wenige Monate nach dem Contest, an Weihnachten 1958, Gevatter Tod nur knapp von der Schippe, als ihre Air-France-Maschine bei der Landung auf dem Wiener Flughafen mit dem Empfangsgebäude kollidierte und in Flammen aufging. Sie überlebte das Unglück um zwei Dekaden: 1978 starb sie 51jährig bei einer Unterleibsoperation. Weitere drei Jahrzehnte später, 2008, ehrte ihre Heimatstadt Wien sie mit dem Augustinplatz im 7. Bezirk.
https://www.youtube.com/watch?v=bosuMPG594A
Und alle so: Vooooooolare, oh-ho! (IT)
Das ist allerdings nichts im Vergleich mit dem italienischen Komponisten, Sänger und San-Remo-Gewinner Domenico Modugno, der hier das erste von drei Malen (erkennt jemand ein Muster?) an den Start ging: ihm widmete sein apulisches Heimatörtchen Polignano al Mare nach seinem Tod im Jahre 1994 ein eigenes Denkmal, das ihn in seiner typischen Pose, mit beim Singen vor Ergriffenheit weit auseinandergestreckten Armen zeigt. Sein Beitrag ‘Nel blu dipinto di blu’ avancierte zum unzählige Male gecoverten, weltweiten Evergreen und, zählt man sämtliche Fassungen zusammen, zum kommerziell erfolgreichsten Eurovisionssong. Als ‘Volare’ erreichte es gar Platz 1 der US-amerikanischen Billboard-Charts und kann eine Grammy-Nominierung vorweisen. 2005 wählten es die europäischen TV-Zuschauer:innen anlässlich der offiziellen 50-Jahre-ESC-Feierlichkeiten zum zweitbeliebtesten Grand-Prix-Lied aller Zeiten, nach ‘Waterloo’ (SE 1974). In germanischen Gefilden konnte Modugno damit allerdings keinen Hit landen – dafür schaffte es die zahnlose, von Peter Alexander dargebotene Eindeutschung ‘Bambina’ bis auf Platz 2 der Charts. Manchmal möchte man sich vor Fremdscham über den schlechten Geschmack seiner Landsleute echt erschießen.
https://www.youtube.com/watch?v=oyJhVelzIBQ
Schlaf, Kindchen, schlaf, Dein Vater hüt’ die Schaf’ (FR).
Doch auch bei den Grand-Prix-Juroren blitzte Domenicos Beitrag zum Weltkulturerbe ab: sie zogen Lys’ Ode an die Völlerei vor, sowie ein gestenreich vorgetragenes französisches Wiegenliedchen (‘Dors, mon Amour’) des 2003 sanft entschlafenen André Claveau: Nicht nur der erste Mann, sondern wohl auch der erste Schwule, der den europäischen Wettbewerb der leichten Muse gewann. Was sich spätestens bei der Siegerreprise zeigte, als der erfreut-entspannte André in Sachen Mimik und Gestik den Haldor-Lægreid-Faktor von vier auf sieben aufdrehte. Eigentlich erfreulich, wenn es nur nicht mit einem derartig schnarchigen Liedchen gewesen wäre! Diesem ersten wirklich groben Jury-Missgriff sollten bis zur leider nur zeitweiligen Suspendierung dieser absurden Instanz vierzig Jahre später noch etliche, teils deutlich schlimmere, folgen. Immerhin durfte auch Modugno seinen, zugegebenermaßen in späteren Bearbeitungen (wie beispielsweise in der englischsprachigen Version von Dean Martin oder in der flamencogitarrenlastigen Party-Variante der Gipsy Kings, die damit 1989 einen Eurohit landen konnten) deutlich druckvolleren Beitrag ein zweites Mal vortragen. Denn der Italiener hatte die Startnummer 1, jedoch waren zu Beginn der TV-Übertragung die Leitungen noch nicht überall hin geschaltet. So durfte er im Anschluss an Lys Assia noch mal ran.
Das Tempo anziehen hilft immer: die Gypsy Kings machten Domenicos ESC-Klassiker 1989 Feuer unter dem Arsch.
Erstmalig trug das im Vorjahr siegreiche Land das Spektakel aus, eine heute unumstößlich erscheinende Regel, die es freilich nie über den Status einer Soll-Bestimmung hinaus brachte: etliche Nationen wollten oder konnten im Verlaufe der Eurovisionsgeschichte aus den verschiedensten Gründen heraus ihrer Gastgeberrolle nicht nachkommen: von Terminstress über fehlende Hallen oder schliche Unlust bis hin zum Krieg reichen die Hindernisse. Die für ihre calvinistische Ethik bekannten Niederlande gestalteten die Show ausgesprochen zeit- und kosteneffektiv: neben dem von Tulpen eingerahmten Orchester blieb für die Interpret:innen im schmalen AVRO-Sendestudio zu Hilversum nur noch ein handtuchgroßes Stück Bühne übrig, welches sie über eine steile Treppe erreichten. Was insbesondere die Damen in ihren bodenlangen, engen Kleidern vor trippelnde Herausforderungen stellte, die zum Glück alle unfallfrei meisterten. Bereits anderthalb Minuten (!) nach Sendungsbeginn ertönte der erste Wettbewerbsbeitrag. Die Wertungspause überbrückte das Orchester unter anderem mit einer Melodie, die in Deutschland Jahre später ein gewisser Heino als ‘Carnaval in Rio’ zum Hit machen sollte.
Gut, dass 1958 noch keine Gruppen zugelassen waren: sie hätten auf der Bühne gar keinen Platz gefunden (komplette Sendung).
Die wortkarg wirkende Moderatorin Hannie Lips tauchte erstmalig zur Auszählung auf und verfiel auch dort nicht ins Plaudern, sondern gab nur die allernotwendigsten Informationen. Fleißige Helfer addierten die von ihr telefonisch entgegengenommenen Wertungen mittels manuell drehbarer Zahlen auf einer Holztafel, wobei die Koordination von aufgeregt losplappernden oder schlecht zu verstehenden Jurysprecher:innen und dem gelegentlich widerspenstigen Drehmechanismus der Anzeigetafel nicht immer ganz reibungslos funktionierte. “There was no Mistake”, beschied Frau Lips beispielsweise brüsk, nachdem eine Unklarheit darüber bestand, ob ein gerade durchgegebener Punkt nun mitgezählt worden war oder nicht. Dennoch summierten sich am Ende vier Zähler zu viel auf dem Tableau, von der Jury in Rom eigentlich für die Schweiz (“La Suisse”) bestimmt, die ein hektischer Additionsgeselle jedoch versehentlich zunächst den Schweden (“La Suede”) zukommen ließ. Und die er auch nach der Korrektur des helvetischen Ergebnisses den Skandinaviern nicht wieder abzog. Erst im Nachhinein bereinigte die EBU den offiziellen Score. Mitsamt festlicher Plakettenüberreichung und Siegerreprise dauerte die Show weniger als 90 Minuten – die gehen heutzutage meist alleine schon für das Rahmenprogramm drauf. Da wäre manchmal ein wenig mehr Orientierung am holländischen Vorbild schön.
Eurovision Song Contest 1958
3sieme Grand Prix Eurovision de la Chanson Européene. Mittwoch, 12. März 1958, aus den AVRO-Studios in Hilversum, Niederlande. Zehn Teilnehmerländer. Moderation: Hannie Lips.# | Land | Interpret:in | Titel | Jury | Platz |
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01 | IT | Domenico Modugno | Nel blu, dipinto di blu (Volare) | 13 | 03 |
02 | NL | Corry Brokken | Heel de Wereld | 01 | 09 |
03 | FR | André Claveau | Dors, mon Amour | 27 | 01 |
04 | LU | Solange Berry | Un grand Amour | 01 | 09 |
05 | SE | Alice Babs | Lille Stjärna | 10 | 04 |
06 | DK | Raquel Rastenni | Jeg rev et Blad ud af min Dagbog | 03 | 08 |
07 | BE | Fud Leclerc | Ma petite Chatte | 08 | 05 |
08 | DE | Margot Hielscher | Für zwei Groschen Musik | 05 | 07 |
09 | AT | Liane Augustin | Die ganze Welt braucht Liebe | 08 | 06 |
10 | CH | Lys Assia | Giorgio | 24 | 02 |
Letzte Überarbeitung: 19.03.2023
Hihi. Den Contest habe ich erst gestern nochmal in voller Länge gesehen. Wenn ich ehrlich bin, der Reiz von ‘Nel blu dipinto di blu’ erschließt sich mir in dieser Version nicht. Zzzzzz. Ein alles in allem typischer Abend der 50er. Bis auf Lys Assia. Was für Drogen werden eigentlich in der Schweiz gereicht? Rap beim ESC, und das zwanzig Jahre, bevor die Musikrichtung überhaupt erfunden wurde! 😉
Schweizer Drogen Wer weiß, welche Gewürze da im Risotto, Risotto, Risotto, Risotto waren! 😉
Anmerkung: Liane Augustin singt nicht von einem “Schweinchen” sondern einem “Steinchen”…