Ich weiß nicht, welche Drogen beim erneut als italienischer Eurovisionsvorentscheid fungierenden San-Remo-Festival von 1960 backstage so im Umlauf waren. Beziehungsweise beim Dreh des Schlagerfilms San Remo – die große Herausforderung, aus welchem die im Netz verfügbaren Youtubeclips mit den Auftritten der Teilnehmer:innen zum großen Teil stammen und von dem mir nicht hundertprozentig klar ist, ob er digital (dann allerdings sehr gut) aufgearbeitetes Originalmaterial verwendet oder mit den Interpret:innen eigens nachgestellte Szenen. So oder so: die Substanzen müssen von hervorragender Qualität gewesen sein! Zwar neigt bekanntlich, wenn wir mal kurz Stereotype bemühen wollen, der typische Italiener generell zur großen Geste. Aber das, was insbesondere die männlichen Kombattanten des zehnten Jahrgangs des ligurischen Liederwettstreits auf der Bühne vollführten, das schlägt selbst der abgebrühtesten Drag Queen die Tiara vom Kopf!
Wo ist der Abend nur hin? Tja, wie die Zeit verfliegt, wenn man Spaß hat! Rick Astley Joe Sentieri beim San-Remo-Festival.
Zum Beispiel in Form des San-Remo-Newcomers Joe Sentieri (†2007), der nur ein Jahr später der Welt das mit Abstand schönste Unerfüllte-Liebe-Schmachtlied aller Zeiten schenkte, nämlich das fantastische ‘Uno di Tanti’, im Verlauf der nächsten Jahrzehnte von gefühlt tausenden internationalen Künstler:innen gecovert als ‘I (who have nothing)’ und in der mit großer Stimme herausgeschmetterten Version der anbetungswürdigen Shirley Bassey mein absolutes, für immer unübertreffliches Lieblings-Pop-Drama. Beim San-Remo-Festival von 1960 hangelte sich Sentieri mit den beiden ganz okayen mediterranen Popschlagern ‘Quando vien la Sera’ und ‘Mezzanotte’ thematisch vom Abend bis zur Mitternacht durch und belegte damit die Ränge 3 und 5 im Wettbewerb sowie die Plätze 2 und 8 in den erstmals in diesem Jahr ermittelten italienischen Single-Charts. Joe stand mit fest zusammengekniffenen Äuglein und hochgradig verklärtem Gesichtsausdruck auf der Bühne, so als habe er soeben sehr gutes Ecstasy eingeworfen. Dementsprechend energiegeladen fielen auch seine beiden Performances aus, die er jeweils mit einem Luftsprung beendete, seinem Markenzeichen. Den hatte sich der frühere Hafenarbeiter bei seinen Auftritten auf Kreuzfahrtschiffen angewöhnt, wo er ihn ursprünglich anwendete, um beim Ablegen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Kreuzfahrtpublikum applaudierte jedoch für die unerwartete artistische Einlage, so dass Senteri sie dauerhaft in sein Repertoire übernahm.
Unter der Wucht von Shirleys Vibrato dürfte die im Lied besungene Schaufensterscheibe wohl zerborsten sein. Ohne Joe Sentieri, der das Original hierzu lieferte, wäre das nicht möglich gewesen. Danke, Joe.
Doch auch als euphorisierter Springinsfeld wirkte Joe immer noch extrem zurückgenommen im Vergleich zum mittlerweile altbekannten Domenico Modugno, der eine Ode an Manni, den ‘Libero’, sang und sich dabei dermaßen hart übertrieben ins Zeug legte, dass man jeden Moment fürchten musste, er würde gleich explodieren vor innerer Erschütterung. Der Cantautore sammelte für den erneut selbst verfassten Titel zwar in etwa so viele Jury-Stimmen ein wie die nächsten vier Canzoni in der Rangliste zusammen. Dennoch musste er sich beim ehrgeizigen Versuch, den San-Remo-Hattrick mit drei Siegen in Folge hinzulegen, geschlagen geben. Was er zumindest nach Außen hin mit sportlich fairer Gelassenheit parierte: er “freue” sich, dass der “Mythos” seiner “Unbesiegbarkeit” dahin sei, so der Sänger. Denn das schamlos schnulzige Stück ‘Romantica’ kassierte mehr als doppelt so viele Voten wie ‘Libero’. Kein Wunder: konservativ gepolte Menschen, wie sie die Jurys mehrheitlich bevölkern, schwelgen nun mal gerne in romantisch-kitschiger Verklärung, demokratisch essentielle Grundwerte wie die Freiheit genießen bei ihnen hingegen bekanntlich einen geringen Stellenwert. Doch selbst das plattenkaufende Publikum teilte die Vorliebe für sahnigen Schmalz: Modugno belegte mit seiner Freiheitsode Rang 2 in der italienischen Hitparade, der Mailänder Tony Dallara mit seiner Romantik-Version hingegen die Spitze.
Zählen Sie mit: wie oft geht Modugno in die Erlöserpose?
Im Gegensatz zum ‘Romantica’-Komponisten und ‑Erstsänger Renato Rascel (bürgerlich Renato Ranucci), der die Ballade mit schwelgerischem Orchester und sanft säuselndem Chor noch stärker aufschäumte als der deutlich jüngere Dallara mit seiner verhältnismäßig modernen Interpretation, und der mit seiner konventionelleren Fassung überhaupt nicht in den Charts auftauchte. Doch natürlich scherte sich die Rai nicht um kommerzielle Erwägungen und delegierte den 1991 verstorbenen Cantautoren Rascel zum Eurovision Song Contest nach London. Wo der kleingewachsene, komödiantische Schauspieler (Spitzname: Il Piccoletto nazionale), der innerhalb von dreißig Jahren in fünfzig (!) Filmklamotten mitwirkte und dabei meist den sympathischen Antihelden gab, mit seiner hemmungslosen Gefühligkeit bei den schwerpunktmäßig skandinavischen und mitteleuropäischen (sprich: etwas nüchterner justierten) Juroren ziemlich durchfiel und im Mittelfeld versackte. Der komplett überbelichtete Rai-Clip mit dem garantiert echten San-Remo-Auftritt von Rascel zeigt übrigens einen ebenso überperformativ aufspielenden Künstler wie die Schlagerfilm-Ausschnitte, wobei Renatos vierköpfiger Begleitchor ihm bei der Siegerreprise komplett die Schau stahl.
Kraftvoll und treibend: Tony Dallara wird seiner Roller als “Schreier” gerecht.
Nicht etwa, weil die beiden Damen und Herren sich ebenfalls exaltierter Gesten befleißigten – im Gegenteil: sie bewegten sich sehr gefasst, mit beinahe aristokratischer Noblesse, hatten dabei jedoch dermaßen unverschämten Augensex mit der Kamera, dass man heute noch beim Zuschauen vor Scham rot anläuft. Ganz großes Tennis! Anders der Neapolitaner und San-Remo-Newcomer Sergio Bruni (bürgerlich: William Chianese). Er demonstrierte während des Vortrags seiner Ballade ‘Il Mare’ mehrfach einen auch im Horrorfilm (oder im Porno) gerne eingesetzten Effekt, vom Künstler vermutlich als Ausdruck höchster innerer Anteilnahme und Versenkung, ja orgastischen Empfindens gedacht, der empfindlichen Zuschauer:innen jedoch fraglos eiskalte Schauer über den Rücken jagte: er verdrehte bei halbgeschlossenen Lidern die Guckerchen nach oben, so dass nur noch das Weiße seiner Augäpfel zu sehen war. Supergruslig! Eine abschließende Erwähnung verdient zudem die seit 1989 abgeschieden von der Medienöffentlichkeit in der Schweiz lebende italienische Musiklegende Mina Mazzini, die 1960 ebenfalls erstmalig am San-Remo-Festival teilnahm und mit ‘E’ Vero’, einem wunderschönen Stück Hintergrundmusik für laue Sonntagnachmittage, sowie einer sensationellen, fast schon perückenhaft anzuschauenden Seitenspoilerfrisur einen achten Platz in der Jurywertung sowie Rang 4 in den heimischen Verkaufscharts klar machte. Wie ihre Mitstreiter:innen demonstrierte auch Mina auf das Vortrefflichste, wie man ein mäßiges Musikstück durch Stil und Hingabe als etwas Besonderes verkauft. Eine Kunstform, die wohl kaum jemand so gut beherrscht wie die Italiener:innen!
Außen Tophits, innen Geschmack: alle San-Remo-Finalbeiträge rollten die heimischen Charts auf (Playlist).
Vorentscheid IT 1960
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 30. Januar 1960, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 16 Teilnehmer:innen. Moderation: Paolo Ferrari und Enza Sampò.Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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Tony Dallara | Renato Rascel | Romantica | 186 | 01 | 01 | – |
Domenico Modugno | Teddy Reno | Libero | 084 | 02 | 02 | – |
Wilma de Angelis | Joe Sentieri | Quando vien la Sera | 026 | 03 | – | 01 |
Nilla Pizzi | Tonina Torrielli | Colpevole | 022 | 04 | 20 | – |
Joe Sentieri | Sergio Bruni | È Mezzanotte | 016 | 05 | 09 | – |
Giorgio Consolini | Sergio Bruni | Il Mare | 015 | 06 | – | 04 |
Jula de Palma | Tony Dallara | Noi | 014 | 07 | 10 | 09 |
Teddy Reno | Mina | È Vero | 009 | 08 | – | 04 |
Fausto Cigliano | Irene D’Areni | Splende il Sole | 008 | 09 | 13 | – |
Johnny Dorelli | Jula de Palma | Notte mia | 001 | 10 | 15 | – |
Letzte Überarbeitung: 06.06.2021