Experimentierunfreudigkeit kann man dem schwedischen Fernsehen in Sachen Eurovision nun wahrlich nicht vorwerfen. Wie bereits 1959 fanden auch 1960 vor dem eigentlichen Melodifestivalen wiederum acht Radio-Vorrunden statt, aus denen sich mit Hilfe des Publikums jeweils ein Titel fürs Finale qualifizieren sollte. Mitten im laufenden Verfahren schmiss der verantwortliche Sender SVT jedoch alles um und entschied, dem Beispiel Italiens folgend, alle Finalbeiträge in zwei unterschiedlich orchestrierten Versionen von jeweils zwei Interpret:innen singen zu lassen. Da man die vorab eingeplante Sendezeit von lediglich 45 Minuten nicht verdoppeln wollte, reduzierte eine flugs einberufene Jury daraufhin die Anzahl der Lieder auf vier, wodurch beispielsweise das in der Vorrunde gewählte ‘En kyss’ von Lill-Babs auf der Strecke blieb.
Erstaunlich elegant und recht kurzweilig: das swinglastige, vollständige Melodifestivalen 1960.
Das Finale des Melodifestivalen, das per Nordvision auch in den skandinavischen Nachbarländern Dänemark und Norwegen ausgestrahlt wurde, dominierten dann schwerpunktmäßig optimistisch swingende Uptemponummern. Also im Grunde genommen genau das, was internationale Grand-Prix-Fans bis zum heutigen Tage felsenfest mit Schweden verbinden und als landestypischen Sound erkennen. Und was musikalisch insbesondere beim siegreichen Titel ‘Alla andra får varann’ (‘Alle anderen haben einander’) einen besonders reizvollen Kontrast zum traurigen Thema des Liedes bildete, der Klage eines unfreiwilligerweise alleine sein Dasein fristenden Mauerblümchens nämlich, welches nun im erwachenden Lenz besonders stark unter dem Anblick der frisch verliebten Pärchen ringsumher leidet. Der mehrfache Melodifestivalen-Teilnehmer Östen Warnerbring löste diese Text-Musik-Schere mit einer hörbar zurückgenommenen, angemessen melancholischen Interpretation dabei deutlich eleganter als seine Konkurrentin Inger Berggren. Die wurde ihrer Rolle als schüchterne Jungfrau nun so gar nicht gerecht: als die Bildregie während eines längeren instrumentalen Intermezzos statt ihrer den Pianisten in den Mittelpunkt rückte, verließ die Rampensau Berggren flugs tanzend ihren Posten und drängte sich ins Bild, wobei der überraschte Kameramann vor allem ihr Hinterteil einfing.
Im Östen nichts Neues: Warnerbring mit der Gewinnerperformance.
Das empfanden wohl auch die Juroren so, die Östen zum Gesamtsieger des Abends kürten, nachdem der Song in der Addition der von vier regionalen Jurys aus Stockholm, Göteburg, Malmö und Luleå vergebenen und von der Moderatorin Jeannette von Heidenstam aparterweise wie in der Schule mit Kreide von Hand auf einer Tafel notierten Punkten mit 85 Zählern vorne lag. Wobei es im Hinblick auf meine These der Absurdität und mangelnden Relevanz von Jury-Wertungen interessant erscheint, dass ‘Alla andra får varann’, ganz im Sinne der lautmalerischen Titelübersetzung ‘Alle andern fahr’n voran’, in Malmö auf dem letzten Platz landete, in den drei anderen Städten dafür aber ganz oben abschloss. Und damit einen besonders augenfälligen Beweis dafür lieferte, dass ein Jury-Voting (also eine Abstimmung eines kleinen, nicht repräsentativen Kreises von “Experten”) eben stets nur völlig willkürliche – und damit wertlose – Zufallsergebnisse hervorbringt. Zumal die Punktestreuung zwischen dem jeweils erst- und letztplatzierten Song in den vier aufgerufenen Städten teils deutlich ausfiel, sich im Gesamtergebnis jedoch zu einem relativ dicht beieinanderliegenden Feld heruntermittelte.
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Klingt im Direktvergleich mit Östen ziemlich platt: Ingers etwas zu fröhliche Version.
Besonders tragisch: nachdem der verantwortliche Sender SVT im Vorjahr die eigentliche Melodifestivalen-Siegerin Siw Malmkvist geschasst und statt ihrer Brita Borg nach Cannes entsandt hatte, Siw mit dem Eurovisions-Titel ‘Augustin’ aber einen veritablen Hit im Heimatland landete, versuchte man sich in Stockholm an einer kosmischen Wiedergutmachung und legte ‘Alla andra’ auf internationaler Ebene diesmal in die Hände der skandinavischen Schlagerkönigin, deren Markenkern aber nun mal ihre herzerfrischende Sorglosigkeit ist. Siw, der aktuellen Mode entsprechend beim ESC in London in einem für ihre eher zierliche Figur völlig unpassenden Ballonkleid und mit struppig ondulierten Haaren wie eine Vogelscheuche zurechtgemacht, beförderte den Titel mit einer geradezu hilflos fröhlichen Interpretation in den medialen Orkus. Achtung, Spoiler: im Jahr darauf sollte sie dann das Melodifestivalen erneut auf ordentlichem Wege gewinnen, aber wieder zu Hause bleiben müssen. Aber das ist eine Geschichte für sich.
Siw schraubte mit ihrer Interpretation den Fröhlichkeitslevel nochmals massiv herauf und lieferte in London fast schon eine Parodie des mittels der gefühlt längsten Brücke der Contesthistorie auf Eurovisionsformat verlängerten Songs ab.
Vorentscheid SE 1960
Melodifestivalen. Donnerstag, 2. Februar 1960, aus dem Cirkus in Stockholm. Vier Teilnehmer:innen. Moderation: Jeannette von Heidenstam.Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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Mona Grain | Britt Damberg | Alexander | 67 | 03 |
Östen Warnerbring | Inger Berggren | Alla andra får varann | 85 | 01 |
Britt Damberg | Mona Grain | Nancy Nancy | 56 | 04 |
Inger Berggren | Östen Warnerbring | Underbar, så underbar | 76 | 02 |
Letzte Überarbeitung: 06.06.2021