Es ist ein offenes Eurovisionsgeheimnis: nicht alle Delegationsleiter:innen freuen sich unbedingt, wenn ihre Künstler:innen den Grand Prix gewinnen! Schließlich verbindet sich beim Song Contest mit dem Sieg zwar nicht die feste Verpflichtung, aber doch zumindest die moralische Erwartung, im nächsten Jahr die Show im eigenen Land zu organisieren. Wodurch allerdings – neben der nationalen Ehre – auch massive Kosten auf die betroffene TV-Station zukommen. Heutzutage wird ein kleinerer Anteil davon durch die zu entrichtenden Startgebühren der Teilnehmernationen aufgefangen, welche die EBU direkt an den austragenden Sender weiterreicht, doch damals in den Anfangsjahren musste die ausrichtende Rundfunkanstalt die Sendung finanziell noch komplett alleine stemmen. Den Niederländern, die 1959 zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren gewonnen hatten, ging ihre sprichwörtliche Sparsamkeit über den Nationalstolz: sie sagten schlicht “nee”. Selbstlos sprang (übrigens nicht zum letzten Mal) die BBC ein, was nicht nur am üppigeren pekuniären Polster des britischen Senders lag, sondern auch an dessen frisch gewähltem Unterhaltungschef, einem glühenden Grand-Prix-Fan.
Die britische Moderationslegende Katie Boyle kam 1960 zu ihrem ersten von insgesamt vier Eurovisionseinsätzen, strahlte allerdings vor allem snobistische Arroganz aus (komplette Show).
Dass der Wettbewerb somit in London stattfand, das allerdings erst gegen Mitte dieses Jahrzehnts zur vor Kreativität vibrierenden (“Swinging”) Welthauptstadt der Mode und des Pop werden sollte, verlieh der Show leider keinen Frischeschub. Im Gegenteil: Präsentation, Bühnenbild und Musikmenü wirkten deutlich dröger als beim vergleichsweise witzig-flotten Grand Prix von 1959 in Cannes. Was auch am äußerst bräsigen BBC-Orchester lag, das selbst die wenigen etwas schnelleren Stücke des getragenen Chanson-Abends als Versuch einer Ballade spielte und sie somit ziemlich ausbremste. Das bis dato meist mittelfeldaffine Deutschland trickste sich in diesem doch sehr konservativen Umfeld geschickt ein wenig nach oben, in dem es auf die frankophile Chansonkarte setzte: Wyn Hoops abgefeimte und sechs Jahre später von Udo Jürgens zur Perfektion getriebene Finte, die Titelzeile seines sterbenslangweiligen Wiegenliedchens ‘Bonne Nuit, ma Chérie’ auf französisch zu singen, sicherte ihm tatsächlich einige Punkte von der gallischen Jury. Im Endergebnis reichte es für den vierten Rang: zehn Plätze zu gut für diese drei Minuten inhaltsloser Ödnis.
Das Lied kommt einem nicht nur gefühlt unendlich lange vor: Winter (AT) sülzt tatsächlich über volle vier Minuten – ein ebenso klarer wie folgenloser Regelverstoß!
Die Österreicher reisten musikalisch gleich etliche Jahrzehnte zurück: sie versuchten es mit einer Komposition des berühmten, zu diesem Zeitpunkt bereits 79jährigen Wiener Operettenkönigs Robert Stolz (†1975, ‘Im Prater blühn wieder die Bäume’, ‘Adieu, mein kleiner Gardeoffizier’), der auch als Dirigent fungierte und dabei ausgesprochen zackig den Taktstock schwang. Der in Deutschland geborene, nach Ende des zweiten Weltkriegs nach Wien ausgewanderte und vom ORF nach alter Väter Sitte intern nominierte Sänger Harry Winter (†2001) schmalzte sich in ‘Du hast mich so fasziniert’ dazu die Seele aus der fülligen Kehle und erwähnte – auch heuer noch eine beim Contest äußerst beliebte Punkteabgreifstrategie – in seinem Songtext sicherheitshalber gleich noch ein paar europäische Hauptstädte, womit er sich auf einen soliden siebten Rang bauchpinselte. Einen Platz hinter Winter landete die helvetische Vertreterin Anita Traversi, die mit dem lieblichen ‘Cielo e Terra’ zwar ebenfalls getragene Langeweile verbreitete, das aber wenigstens auf italienisch, wo sich alles immer gleich deutlich charmanter und leidenschaftlicher anhört.
https://www.youtube.com/watch?v=-oZ7SV45100
Anita Traversi (CH) legt leider erst gegen Ende noch ein Schippchen drauf. Da ist man aber schon sanft hinweggedämmert.
André Popp schrieb den siegreichen Titel ‘Tom Pillibi’, ein nervtötend schlichtes und ohrwurmhaft eingängiges Liedchen über einen angeblichen Schlossbesitzer, der nach eigener Aussage sowohl in Schottland als auch in Montenegro jeweils ein royales Anwesen sein Eigen nenne, was sich im Nachhinein natürlich als Prahlerei herausstellte. Komponisten-Nomen est Omen: das Lied erwies sich als das poppigste Stück des Abends. Als erster Siegertitel in der Eurovisionsgeschichte konnte er auch außerhalb des Herkunftslandes nennenswerte Stückzahlen absetzen (u.a. Rang 33 in den britischen Singlecharts, und das in der französischsprachigen Originalversion!). Für den deutschen Markt (#21) nahm die junge Jacqueline Boyer, Tochter der französischen Chansonnière Lucienne Boyer und des letztjährigen, letztplatzierten monegassischen Vertreters Jacques Pills (†1970), eigens eine akkurat übersetzte deutsche Fassung auf. Für sie bildete der Grand Prix den Startpunkt einer grenzüberschreitenden Karriere mit Hits wie ‘Mitsou’ oder ‘Der Mond vom Fudschijama’, mit dem sie am Deutschen Schlager-Festival von 1968 teilnahm.
https://www.youtube.com/watch?v=yGzsOv2rggI
“Mein Name ist Beverly Boyer und ich bin ein Schwein”. Nein, es ist natürlich Schackeline (FR).
Weitere in Deutschland sehr bekannte Namen zierten die Teilnehmerliste dieses Contests. So die Schwedin Siw Malmkvist, die etliche Topseller landen konnte, beispielsweise mit dem großartigen Siegertitel der Deutschen Schlagerfestspiele 1964, ‘Liebeskummer lohnt sich nicht’. Und die nach einem Beinahesieg beim deutschen Vorentscheid 1962 fast ein Dezennium später sogar für uns beim Song Contest antrat, dann mit dem nicht ganz so großartigen ‘Primaballerina’ (1969). ‘Alla andra får varann’, ihr textlich bestürzend melancholischer, musikalisch jedoch sehr fröhlicher Beitrag fürs Heimatland, bot dezente Swing-Harmonien und bestach durch Kürze. Siw hatte nicht all zu viel zu tun: von den lediglich zweieinhalb Minuten des Titels ging mindestens eine für die eigens für London um mindestens das Doppelte verlängerte Brücke drauf, während welcher die BBC-Bildregie stoisch das von üppigen Blumenarrangements umkränzte Orchester zeigte. Vermutlich, damit sich die Zuschauer:innen von dem schlimmen Anblick des unmöglichen Ballonkleides erholen konnten, das die hagere Siw fast genau so grausam entstellte wie ihre struppige Frisur.
Alle anderen fahren voran: Siw Malmkvist mit wenig Text und viel Musik (SE).
Camillo Felgen (†2005) erzielte immense Erfolge mit seiner Hörfunksendung bei Radio Luxemburg (heute RTL Radio), der europaweit ältesten kommerziellen Rundfunkstation, bei der sich auch Dieter Thomas Heck die ersten Sporen verdiente. Lebensälteren Freunden sinnlos-heiterer Gameshows ist er zudem noch als Moderator der 1965 gestarteten Spiele ohne Grenzen in Erinnerung, einer Art für das Fernsehen aufgemotzter Bundesjugendspiele mit Einschaltquoten von seinerzeit (bei nur drei nationalen Programmen) über 50%. Lustig kostümierte Städteteams traten dabei auf zunächst nationaler und später auf europäischer Ebene gegeneinander an und mussten sich in albern-anstrengenden Geschicklichkeitsübungen miteinander messen. Die länderübergreifenden Endrunden wurden von der EBU übertragen und bildeten neben dem ESC eine Zeit lang ein zweites erfolgreiches Eurovisionsstandbein. Jedenfalls bis die Privatsender kamen, welche mit den albernen Spielchen mittlerweile Sendezeit in ihren Trash-TV-Formaten füllen. Felgen landete in London mit einem Liedchen in Lëtzebuergesch (eine der drei offiziellen Landessprachen Luxemburgs und ein wahrlich grauenhaft klingender Dialekt, so eine Art noch stärker vernuscheltes Saarländisch) verdientermaßen auf dem letzten Platz.
https://www.youtube.com/watch?v=pncL8xpsBak
Das hochdramatische Violin-Inferno des für Monaco intern ausgewählten Franzosen François Deguelt fuhr vor allem bei der rettungslos frankophilen deutschen Jury eine unverdient reiche Punkteernte ein.
Nicht wegzudenken aus der deutschen Nachkriegs-Fernsehunterhaltung war auch der unvergessene, nur ein Jahr nach Felgen an Lungenkrebs verstorbene Niederländer Rudi Carrell (Am laufenden Band, Rudis Tagesshow, Herzblatt). Der als cholerischer Perfektionist geltende Entertainer, der mit einer Khomeini-Persiflage 1987 für eine diplomatische Krise mit dem Iran sorgte, erfüllte zuletzt im RTL-Format 7 Tage, 7 Köpfe die Funktion der Zielscheibe für Demenzzoten, bevor er sich mit einem bewegenden TV-Abgang unsterblich machte. Beim 1960er Grand Prix ersang der bis dahin hauptsächlich als Radio-Kabarettist tätigte Carrell für sein erfolgsverwöhntes Heimatland mit dem vom BBC-Orchester ziemlich sumpfig zelebrierten ‘Wat een Geluk’ den vorletzten Rang. Nach seiner Rückkehr machte er in einer Radiosendung dazu lockere Witze auf seine eigenen Kosten. Diese coole Reaktion öffneten ihm in den holländischen Fernsehstationen viele Türen, und der Rest ist Geschichte. Wie man sieht, muss also ein hinterer Platz beim Song Contest einer erfolgreichen TV- oder Gesangskarriere nicht im Wege stehen: Carrell erzielte bei uns mit Spaßnummern wie ‘Liebling, die Deutschen sterben aus’, ‘Wann wird’s mal wieder richtig Sommer’ oder ‘Goethe war gut’ beachtliche Verkaufserfolge.
https://www.youtube.com/watch?v=bbL9gHv7zlc
Was ein Gelück, dass er ins Showbusiness ging: Rudi Carrell (NL).
Keinen Appell für den Konsum bewusstseinsverändernder Substanzen stellte übrigens, auch wenn man das vom Titel her glauben könnte, Bryan Johnsons Wettbewerbsbeitrag ‘Looking high, high, high’ dar. Die marschähnliche Uptemponummer, in welcher der 1995 verstorbene jüngere Bruder des britischen Vorjahresvertreters Teddy Johnson, darin dem Beispiel seines älteren Geschwisterchens (und der aktuellen Popmode) folgend, selbstverständlich auch ein wenig pfiff, reihte redundant stotternd die erwartbaren Reime auf (“Looking high, high, high / Looking low, low, low / Wondering why, why, why / Did she go, go, go”), erwies sich aber neben ‘Tom Pillibi’ als das einzige Stück des balladenlastigen Abends, das nach heutigem Verständnis und mit viel gutem Willen als so etwas Ähnliches wie ein Popsong durchginge. Damit erreichte das Vereinigte Königreich, wie bereits 1959 und wie noch so oft in der folgenden Grand-Prix-Geschichte, den zweiten Rang.
https://www.youtube.com/watch?v=8BjmJvmvgKU
Bryan Johnson (UK) – die Geschichte des “O”.
Eine für lange Zeit mindererfolgreich bleibende Eurovisionsnation debütierte schließlich in London: zwar erschmetterte sich die 2015 verstorbene Nora Brockstedt mit der enthusiastisch lautmalerischen Contest-Perle ‘Voi-voi’, die von einem verliebten samischen Mädel erzählte, das sich in der Abgeschiedenheit der Berge mangels anderer Kommunikationstechniken joikend mit ihrem Herzblatt vom Nachbarstamm zum Samstagabend-Stelldichein verabredet, zum Auftakt einen durchaus akzeptablen, wenn auch deutlich unterbewerteten fünften Rang. Sowie einen Platz in der Schatzkammer meiner liebsten Eurovisionsbeiträge. Doch sollte in den folgenden Jahrzehnten kein Land so oft die Rote Laterne einsammeln (und nur wenige so oft die Null-Punkte-Wertungen) wie das geografisch und popkulturell etwas randständige Norwegen. Die Wikinger-Nation bediente sich im Verlauf ihrer Grand-Prix-Geschichte auffallend oft international verständlicher Titel wie ‘Oj, oj, oj’ (1969), ‘Karussel’ (1965), ‘Stress’ (1968), ‘Do-Re-Mi’ (1983), ‘Romeo’ (1986), ‘Brandenburger Tor’ (1990) oder ‘La det swinge’ (1985) – bis auf letztgenanntes Beispiel allerdings meist ohne nennenswerten Erfolg bei den ignoranten Jurys.
Heiterer Gesang und putzige Puschelärmel: Nora Brockstedt (NO).
Seit dem damaligen, überraschenden Triumph des norwegischen Damenduos Bobbysocks, dem im Lande mit ungläubiger kollektiver Begeisterung aufgenommenen “Bobbyschock”, scheint der Knoten jedoch geplatzt: drei Siege und oft herausragend gute Beiträge belegen, dass die Skandinavier:innen den kulturellen Anschluss an Europa gefunden haben. Wo wir gerade beim Thema “gewinnen” sind: eine weitere, heute liebgewonnene Eurovisionstradition führte die BBC 1960 als Innovation in die Sendung ein, in dem die Anstalt die Siegerin des Vorjahres, Teddy Scholten, eigens aus den Niederlanden einfliegen ließ, um am Ende der Show ihrer Nachfolgerin auf dem Grand-Prix-Königsthron vor laufenden Kameras das Zepter (in diesem Fall ein riesiger Silberpokal) zu überreichen. Eine Art von öffentlicher Krönung auf Zeit also, die dem paneuropäischen Liederabend einen noch etwas festlicheren Anstrich gab und die seither gewissermaßen zum guten Ton gehört.
Der kleingewachsene Cantautore Renato Rascel (IT) versuchte, fehlende Größe durch Länge wettzumachen und sülzte uns viereinhalb Minuten lang die Ohren voll. Auch hier: keine Konsequenzen.
Eurovision Song Contest 1960
Eurovision Song Contest. Dienstag, 29. März 1960, aus der Royal Albert Festival Hall in London, Großbritannien. 13 Teilnehmerländer. Moderation: Katie Boyle# | Land | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | UK | Bryan Johnson | Looking high, high, high | 25 | 02 |
02 | SE | Siw Malmkvist | Alla andra får varann | 04 | 10 |
03 | LU | Camillo Felgen | So laang we’s du do bast | 01 | 13 |
04 | DK | Katy Bødtger | Det var en yndig Tid | 04 | 10 |
05 | BE | Fud Leclerc | Mon Amour pour toi | 09 | 06 |
06 | NO | Nora Brockstedt | Voi-voi | 11 | 05 |
07 | AT | Harry Winter | Du hast mich so fasziniert | 06 | 07 |
08 | MC | François Deguelt | Ce Soir-là | 15 | 03 |
09 | CH | Anita Traversi | Ciela e Terra | 05 | 08 |
10 | NL | Rudi Carrell | Wat een Geluk | 02 | 12 |
11 | DE | Wyn Hoop | Bonne Nuit, ma Chérie | 11 | 04 |
12 | IT | Renato Rascel | Romantica | 05 | 08 |
13 | FR | Jacqueline Boyer | Tom Pilibi | 32 | 01 |
Letzte Aktualisierung: 19.03.2023
Beim Luxemburgischen habelt es sich um eine Sprache, nicht um einen Dialekt. Und die Sprache heißt entweder Luxemburgisch (auf Deutsch) oder Lëtzebuergesch (auf Luxemburgisch), aber niemals Letzeburgisch.
Danke für den Hinweis auf die Schreibweise, ich hab’s im Text korrigiert. Ansonsten beziehe ich mich aber nicht auf den offiziellen, politisch geprägten Status (Moldawisch ist offiziell auch eine eigene Sprache, tatsächlich aber nichts anderes als ein rumänischer Dialekt), sondern auf die linguistische Herkunft. Und da gibt mir Wikipedia Recht:
http://de.wikipedia.org/wiki/Luxemburgische_Sprache
Das schönste an diesen alten Jahrgängen war ja eigentlich der Moderatorinnen-Fern-Wettbewerb zwischen Frankreich und England, also zwischen Jacqueline Joubert und Katie Boyle, also zwischen Frivolität und Zynismus, zwischen in in jeden Beitrag Reinquatschen und gelangweilter Ignoranz, zwischen Kokotte und Aristokratin und letztendlich zwischen zu viel Champagner und zu viel Gin .