Ins noble Kurhaus der im wohlhabenden Speckgürtel der deutschen Finanzmetropole Frankfurt am Main liegenden Bonzengemeinde Bad Homburg vor der Höhe (Stadtslogan: “Tradition und Champagnerluft”) lud der Hessische Rundfunk (hr) zur Vorentscheidung 1961. Dabei bediente man sich rein äußerlich desselben Formats wie bereits im Vorjahr, nämlich eines öffentlichen Wettbewerbs mit einer Vielzahl von Teilnehmer:innen unter dem Rubrum Schlagerparade. Doch dieser, einen glamourösen Aufmarsch echter oder zumindest potentieller Hits suggerierende Sendetitel entpuppte sich gegenüber dem arglosen Publikum als grobe Täuschung. Denn in diesem Jahr übernahm der hr-Unterhaltungschef Hans-Otto Grünefeldt das deutsche Grand-Prix-Zepter sowie den Vorsitz des sendereigenen Auswahlkomitees für die Beiträge. Und der Mann, der genau so lange die Geschicke der germanischen Eurovisionsbeteiligung bestimmen sollte wie später ein birnenförmiger Pfälzer die Bimbes-Republik regierte, wollte “anspruchsvolle Chansons”. Also bloß nichts Modernes und um Gottes Willen keine Hits! So klangen die dreizehn zugelassenen Lieder der diesjährigen Auswahl dann auch: durch die Bank weg dröge und einschläfernd bis zum Gehtnichtmehr.
Der Heinz will uns ein Gedicht aufsagen (Repertoirebeispiel)!
Das Spritzigste an dem ganzen Abend dürfte vermutlich (genau weiß man es nicht, denn die Aufzeichnung der Sendung verschlampte der Hessische Rundfunk, wofür den verantwortlichen Archivaren noch heute der Hosenboden strammgezogen gehört!) die Moderation durch die 2014 verstorbene Bembellegende Heinz Schenk gewesen sein, der in seiner TV-Äpplerkaschemme Zum Blauen Bock, dem sensationelle dreißig Jahre lang im Ersten laufenden Urformat des Musikantenstadls, das schunkelwillige Millionenpublikum zwischendrin gerne mal mit selbst verfassten Moritaten über die Endlichkeit des Seins behelligte. Und dem die offensichtlich stählernen Nerven während der Liveübertragung der Schlagerparade 1961 auch dann nicht durchgingen, als sich die Auszählung der Stimmzettel hinter den Kulissen aus unbekanntem Grunde deutlich länger hinzog als eingeplant (Schenk in einem TV-Special: “Wir hatten kein Programm mehr!”) und er minutenlang aus dem Stegreif live überbrücken musste. Kein Problem für die Babbeltasche Schenk! Das vollends hit-unverdächtige Musikmaterial sorgte indes für ein weitestgehendes Fernbleiben etablierter Schlagerstars; stattdessen trat eine ganze Reihe von, wenn man es so bezeichnen möchte, Handelsmarken-Sänger:innen an.
“Treulos sind alle Matrosen / wollen nur küssen und kosen”: mit diesem Kleinod deutscher Textdichterkunst schaffte Peggy Brown 1961 einen Top-Ten-Hit (Repertoirebeispiel).
Zu ihnen zählte beispielsweise die in Böhmen gebürtige Margit Lorenz, die in den Fünfzigern beim Billig-Plattenlabel Tempo unter Vertrag stand, wo sie unter wechselnden Pseudonymen für einen Festlohn eilig (daher der Firmenname) eingespielte Coverversionen aktueller Hits nachsang, die zu einem Bruchteil des üblichen – im Verhältnis zu den damaligen Durchschnittseinkommen exorbitanten – Ladenpreises verramscht wurden, um so auch die weniger zahlungskräftigen Teile der Kundschaft abzuschöpfen. Dieses Prinzip gab es übrigens noch zu meiner Zeit: in den Achtzigern warf die Firma Europa, bekannt vor allem für Kinderhörspielreihen auf Musikkassette, solchen lieblos imitierten Aldi-Pop auf den Markt. Frau Lorenz schaffte jedoch im Jahre 1960 unter dem neuen Künstlernamen Peggy Brown den Wechsel zu einer “richtigen” Plattenfirma und sollte 1961 drei Hits landen, wozu ihr schmalztriefender Vorentscheidungstitel ‘Du bist meine Welt’ allerdings nicht zählte. Im Jahr darauf war ihre Strähne bereits wieder zu Ende, die Verkaufserfolge bleiben aus und Peggy arbeitete fürderhin als Chordame.
Heinz Sagners bekanntester (sprich: am wenigsten unbekannter) Titel, hier in einer Aufnahme von Vico Torriani als B‑Seite der Hitsingle ‘Kalkutta liegt am Ganges’ (Repertoirebeispiel).
Starlet hieß ein weiteres Discount-Label, für das der im Sudetenland geborene Heinz Sagner etliche billige Nachahmungsversionen bekannter Hits aufgenommen hatte. 1960 schien auch sein Blatt sich zu wenden: er bekam einen Vertrag bei Polydor und reiste als Teil des deutschen Teams zum renommierten Songfestival ins belgische Knokke. Dabei handelte es sich um einen bis 1973 jährlich veranstalteten europäischen Liederwettbewerb, der sich jeweils über eine ganze Woche hinzog und bei dem Sagner 1960 im Verbund unter anderem mit Udo Jürgens tatsächlich die Krone geholt hatte. Dennoch konnte er mit dem bizarr-pädophilen Song-Hörspiel ‘Sie war nicht älter als 18 Jahr’ keinen Hit landen, ebenso wenig wie heuer mit seinem sehr dezent swingenden, mit possierlichen Xylophonmelodien aufwartenden Vorentscheidungsbeitrag ‘Jeder Tag voll Sonnenschein’, der laut Wikipedia den sechsten Platz gemacht haben soll. Heinz (†2006) kehrte daraufhin in seinen Brotberuf als Apotheker zurück, den er auch während seiner Schlagertätigkeit nie ganz aufgegeben hatte. Macht Sinn: Kopfschmerztabletten würde ich von jemanden mit einem derartig biederen Namen wie Heinz Sagner dann doch eher kaufen als eine Schlagerplatte.
Das Rätsel der grünen Spinne (so der Titel des Schlagerfilms) löste Detlef Engel nicht (Repertoirebeispiel).
Teil des deutschen Knokke-Teams 1960 war auch der gebürtige Augsburger Frank Forster. Der studierte Grafiker, der nach der Befreiung als Dolmetscher für die US-Army arbeitete und hierüber erste Auftritte in Soldatenclubs klarmachen konnte, landete 1957 einen Top-20-Hit mit dem Titel ‘Mi Casa, su Casa’ und bekam in der Folge einige kleinere Auftritte in den seinerzeit im Dutzend heruntergekurbelten Schlagerfilmen angeboten sowie eine Nebenrolle in der der Krimiserie Der Kommissar. Hierzu dürfte wohl auch seine erste Ehefrau Nora ihr Scherflein beigetragen haben, ihres Zeichens Tochter eines wohlhabenden Verlegers und bestens vernetzte Musikpromoterin. Als Schlagzeuger in diversen Tanzorchestern führten Tourneen Forster sowohl durch die damalige UdSSR als später auch durch die USA. Weitere Schlager-Erfolge bleiben jedoch aus, und so verlegte er sich anschließend auf seine eigentliche Berufung, die Malerei. Seine 1962 geborene Tochter Ariane, von deren Mutter sich Forster kurze Zeit später trennte und die sowohl Udo Jürgens als auch Yes-Frontmann Jon Anderson ihre Patenonkel nennen konnte, führte die musikalische Familientradition auf ihre Weise fort: im Alter von nur 14 Jahren wurde sie 1976 Leadsängerin der feministischen britischen Punkband The Slits. 1979 heiratete sie Johnny Rotten von den Sex Pistols. Ari Up, wie sie sich als Musikerin nannte, starb 2010 in Alter von nur 48 Jahren in Los Angeles an Brustkrebs, nur vier Jahre nach ihrem Vater.
Biederer geht es wohl kaum: die Playlist mit den wenigen leider nur als Audio verfügbaren Titeln, selbstredend allesamt kolossale kommerzielle Flops.
Etwas geschickter als der Sagnerheinz agierte der gebürtige Bielefelder Klaus Honsel, der sich wenigstens ein klingendes italophiles Pseudonym zulegte, nämlich Bobby Franco. Er stand bei namhaften Labels unter Vertrag, nahm dort aber ebenfalls fast nur Coverversionen auf. Seinen ‘Langsamen Walzer’ wollte allerdings keine Firma auf Vinyl pressen. Den Durchbruch als Schlagerstar schafft Franco (†2016), der sein Auskommen dann als Boulevardschauspieler und Musicaldarsteller fand, nie. Ähnlich erging es seinem Kollegen Rolf Simson (†2006): schier endlos die Zahl die Produktionen, an denen er mitwirkte – nicht eine davon, inklusive seines drittplatzierten Vorentscheidungsliedes ‘Wer das Spiel kennt’, wurde zum Hit. Offenbar kannte Rolf das Spiel nicht! Immerhin einige Verkaufserfolge konnte dagegen der Berliner Detlef Engel vorweisen, darunter den Top-Ten-Erfolg ‘Mister Blue’, wie alle seine Aufnahmen eine Eindeutschung eines internationalen Hits. Nach dem das jüngere Publikum Mitte der Sechziger dazu überging, gleich die Originale zu kaufen, fand Engels Musikkarriere ihr rasches Ende und er eine Anstellung bei den Berliner Wasserwerken. Blubb!
Handelte es sich bei der besungenen Lili Marleen um die Freundin eines stationierten Soldaten oder schlicht um ein Freudenmädchen, das sich vor Kaserne ihr Geld verdiente? Urteilen Sie selbst! (Repertoirebeispiel).
Zu den (etwas) geläufigeren Namen in Bad Homburg gehörten die mit einem zwischen frivoler Musik-Comedy (‘Aber der Novak’), Kinderliedern und Heimatklängen changierenden Programm in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit erfolgreiche Friedel Hensch, die frühere schweizerische Eurovisionsvertreterin Christa Williams und die frühere deutsche Vorentscheidungsteilnehmerin Renée Franke mit dem schwachbrüstigen Fernwehschlager ‘Napolitano’. Sowie der Hit-Gigant Fred Bertelmann: wollen Sie eine Vermutung abgeben, um was es in seinem Beitrag ‘Ticke, Ticke, Tack’ wohl ging? Ihr Glanz verblasste jedoch gegen die Nuttenpop-Legende Liese-Lotte Helene Berta Bunnenberg, bekannt unter ihrem skandinavisch anmutenden Künstlerinnennamen Lale Andersen (†1972) und berühmt durch den ziemlich morbiden Prostitutionsschlager ‘Lili Marleen’. Das 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte Lied über ein Soldatenliebchen, das täglich im Schein der Laterne vor der Kaserne auf ihren Beschäler wartet (beziehungsweise, hört man genau auf den Text, sich im Wachhäuschen mit ihm paart), floppte zunächst, fand aber ab 1941 Verbreitung durch seinen regelmäßigen Einsatz im Programm des von den Nazis nach dem Einmarsch in Jugoslawien okkupierten Soldatensenders Belgrad. Und es traf offensichtlich den Nerv seiner Empfänger: als die Sendeleitung die Nummer wegen Abnudelungsgefahr kurzzeitig absetzte, erreichten tausende Protestbriefe die Station.
Niemals geht man so ganz: die Lale mit ihrem Eurovisionsbeitrag.
Selbst hinter den feindlichen Linien hörte man ‘Lili Marleen’ angeblich gerne, der Legende nach schwiegen regelmäßig auf beiden Seiten die Waffen, wenn das Lied täglich kurz vor Sendeschluss lief. In zahllosen Sprachfassungen und Coverversionen, unter anderem von Marlene Dietrich, ging das Stück um die Welt, und alleine von Lales Originalversion verkauften sich, teils noch auf Schellack und teils in mehreren Nachkriegs-Neuauflagen, knapp zwei Millionen Exemplare: der erste deutsche Titel, dem dies gelang. Doch zurück nach 1961: mit der mehr gesprochenen gebrummten als gesungenen Drohung ‘Einmal sehen wir uns wieder’ setzte sich Lale in Bad Homburg gegen die Konkurrenz durch. Was vermutlich dem Umstand zu verdanken sein dürfte, dass sie bis vier Wochen vor der Schlagerparade noch die deutschen Verkaufscharts anführte. Und zwar mit ihrem zweiten Millionenseller, dem textlich ebenfalls fragwürdigen Hafenhurenschlager ‘Ein Schiff wird kommen’, aus heutiger Sicht lesbar ebenfalls als Klagelied aller Besitzer defekter japanischer Gebrauchtwagen, die händeringend auf ein fehlendes Ersatzteil aus Übersee warten. Was uns direkt zum nächsten bekannten Teilnehmer führt: erste Showluft schnupperte in Bad Homburg der damalige hauptberufliche Autoverkäufer und angehende Schlagersänger Dieter Thomas Heck.
Schickt auch ihre Kinder in die Prostitution: Lale Andersen (Repertoirebeispiel).
Der 2018 verstorbene Heck blieb mit ‘Was tut man nicht alles aus Liebe’ zwar ebenso glücklos wie mit seinen anderen Aufnahmen aus diesen Tagen, machte jedoch anschließend seinen Weg. Zunächst als Dampfplauderer im Radio, ab 1969 als als Moderator der ZDF-Hitparade, die in Spitzenzeiten eine dreimal so hohe Einschaltquote hatte wie der Eurovision Song Contest heute, und mit der er zu einer der einflussreichsten Personen des deutschen Schlagergeschäfts aufstieg. Auch späteren Versuchen Hecks, mit in Grabesstimme eingesprochenen Gruselschlagern wie dem rundweg großartigen Kriminalhörspiel ‘Es ist Mitternacht, John’ die Seiten zu wechseln, blieb der kommerzielle Erfolg leider versagt. Im Gegensatz zu Lale, die es mit ihrem (in der Studiofassung gegenüber der enervierend tranigen Grand-Prix-Version angenehm zügigen) Eurovisionslied immerhin bis auf Rang 30 der Verkaufscharts schaffte. Und so vereint dieser denkwürdige Abend von 1961 neben den vergessenen Teilnehmer:innen von der D‑Liste mit Heck, Andersen und Schenk drei der wirklich großen Prä-Hip-Hop-Sprechgesangskünstler:innen unseres Landes, die ihren jeweils ganz eigenen, unverwechselbaren und gleichsam unverzichtbaren Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte geschrieben haben.
“Ein Hitchcocktail in Musik” – der Dieter, der Thomas, der Heck (Repertoirebeispiel)!
Vorentscheid DE 1961
Schlagerparade. Samstag, 25. Februar 1961, aus dem Kurhaus in Bad Homburg vor der Höhe. 13 Teilnehmer:innen, Moderation: Heinz Schenk.# | Interpret:in | Titel | Platz | Charts |
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01 | Dieter Thomas Heck | Was tut man nicht alles aus Liebe | n.b. | - |
02 | Friedel Hensch | Colombino | n.b. | - |
03 | Frank Forster | Es war ein reizender Abend | 03 | - |
04 | Christa Williams | Pedro | n.b. | - |
05 | Fred Bertelmann | Ticke, Ticke, Tack | 02 | - |
06 | Heinz Sagner | Jeder Tag voll Sonnenschein | 06 | - |
07 | Renée Franke | Napolitano | n.b. | - |
08 | Rolf Simson | Wer das Spiel kennt | 03 | - |
09 | Ernst Lothar | Dich hat das Schicksal für mich bestimmt | n.b. | - |
10 | Lale Andersen | Einmal sehen wir uns wieder | 01 | 30 |
11 | Bobby Franco | Langsamer Walzer | n.b. | - |
12 | Peggy Brown | Du bist meine Welt | n.b. | - |
13 | Detlef Engel | Nach Mitternacht | n.b. | - |
Letzte Aktualisierung: 23.09.2022
Mittlerweile ist der drittplatzierte Song (Frank Forster) aufgetaucht, der wohl den Verdacht nahelegt, dass die VE alles andere als ein “reizender Abend” war
https://www.youtube.com/watch?v=IsOfynwgnD4
Nun, die Erfindung der Anti-Baby-Pille sollte ja sehr bald dafür sorgen, dass Abende und Musik wesentlich aufreizender werden konnten 😉
Herzlichen Dank, lieber Bernd, für dieses Fundstück, das ich natürlich umgehend in den Artikel eingebaut und als Aufhänger für eine kleine Internetrecherche über seinen bislang unerwähnten Interpreten genutzt habe. Und was für eine schillernde Geschichte da wieder zutage kam!