Die ungebrochen hohe Popularität des italienischen San-Remo-Festivals, zehn Jahre zuvor aus der Taufe gehoben, um dem ligurischen Küstenstädtchen auch in der kalten Jahreszeit touristische Impulse zu geben, sowohl beim Publikum als auch bei den auftretenden Künstler:innen, erlaubte es den Veranstaltern, ein wenig mit dem Format zu experimentieren. So stockte man 1961 die beiden Qualifikationsrunden auf jeweils zwölf Titel auf, präsentiert von je zwei verschiedenen Interpret:innen, aus denen eine Jury je die Hälfte für das Finale heraussiebte. Dort aber hatte erstmals das Publikum das alleinige Sagen. Da Postkarten, wie sie beispielsweise beim Eurovisionsvorentscheid in den Niederlanden zum Einsatz kamen, aufgrund der chronischen Unzuverlässigkeit der italienischen Post ausschieden; vor allem aber, um lukrative Zusatzeinnahmen zu generieren, entscheid sich die Rai für einen ungewöhnlichen Weg: in der Woche nach Sanremo durften interessierte Zuschauer:innen gegen eine Gebühr von 100 Lire per Pferderennen-Tippschein (!) bis zu sechs Stimmen an ihre Lieblingslieder verteilen. Erst am Samstag darauf gab die Rai in einer weiteren Show die Ergebnisse bekannt. Und die ließen zugleich Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Italiener:innen aufkommen: obschon dieser Jahrgang vor neuen Namen und frischen, progressiven Beiträgen nur so strotzte, führte am Ende mit etwas über 700.000 (!) abgegebenen Voten die absolut altertümliche, melodisch-weiche Liebesschnulze ‘Al di là’ die Wertung an.
Gibt alles: bei Luciano quillt der Schmalz einem Lavastrom gleich aus den Lautsprechern.
Doch der Sieg schmeckte bitter für den damals bereits 41jährigen Mailänder Schauspieler und Sänger Luciano Tajoli, dessen Gesangskarriere bis in die Kriegsjahre zurückreichte und der sich seit dem Bestehen des San-Remo-Festivals immer und immer wieder vergeblich um eine Teilnahme beworben hatte. Man kann seine Zurückweisung durch die Rai nur als Akt der Behindertenfeindlichkeit begreifen: in seiner Kindheit erkrankte der aus einer armen Familie stammende Tajoli an Polio, weswegen er nun keine drei Minuten am Stück frei stehen konnte, sondern sich stets irgendwo abstützen musste. Zudem ein bisschen rundlicher in der Statur, wollte der Sender diesen Anblick seinen Zuschauer:innen lange Zeit nicht zumuten. Und auch nun, in der Stunde seines lange ersehnte Triumphs, geriet sein Handicap (beziehungsweile der gesellschaftliche Unwille, sich damit zu befassen) ihm zum Verhängnis: zum europäischen Wettbewerb nach Cannes entsandte die Rai an seiner Stelle die deutlich jüngere und telegene Betty Curtis, mit der man sich auf internationalem Parkett die größeren Chancen versprach. Zumal die vielfache San-Remo-Teilnehmerin das Canzone in einer sehr viel zurückhaltenderen, fast schon sachlich zu nennenden Version interpretierte. Das Ergebnis gab dem Sender Recht: die europäischen Juroren setzten sie auf Rang 5. Anders zu Hause: in den italienischen Verkaufscharts reichte es für Bettys Fassung nur für Platz 11, während Luciano die Bronzemedaille klarmachen konnte. Ein allerdings schmaler Trost für die erlittene Schmach.
Nicht ganz so dick aufgetragen und daher deutlich langweiliger: Bettys Version beim ESC in Cannes.
Doch Tajoli sollte nicht der einzige diesjährige San-Remo-Teilnehmer mit Diskriminierungserfahrung bleiben. Der erstmalig antretende Umberto Bindi, einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Genueser Schule – einer neuen Stilrichtung des Songschreibens, die sowohl musikalisch wie lyrisch mit den althergebrachten Regeln brach und für mehr Tiefe und Vielfalt stand, – erfuhr zwar eine hohe mediale Aufmerksamkeit. Jedoch weniger für sein Lied ‘Non mi dire chi sei’, sondern für die Tatsache, dass er einen “auffälligen Ring am kleinen Finger” trug, wie die italienische Wikipedia kolportiert. Was die Gerüchte über seine Homosexualität anheizte und dafür sorgte, dass die Rai ihn für die nächsten 35 Jahre vom Wettbewerb fernhielt. Für Aufregung sorgte auch der erste Auftritt des sich noch ziemlich am Anfang seiner langanhaltenden Karriere befindlichen Adriano Celentano. Stand er doch zeitweilig mit dem Rücken zum Publikum, was damals als ungeheuerliche Missachtung galt, und gab sich zu seinem Versprechen (oder seiner Androhung, je nach Standpunkt) von ’24.000 Baci’ (’24.000 Küsse’), dem ersten Vorläufer der Beatmusik bei einer Eurovisions-Vorentscheidung, dem Veitstanz hin. Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie viele strenggläubige ältere Zuschauer:innen sich bei diesem Anblick bekreuzigten oder den Fernseher in höchster Not mit Weihwasser besprenkelten.
https://www.youtube.com/watch?v=KbWpGBV4KlA
Oh Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen / wie er gefährlich in den Knien federn kann: alles an Adrianos Auftritt, bis hin zu der nur locker gebundenen Fliege, war pure Provokation.
Das jüngere, plattenkaufende Publikum fand’s hingegen toll: zwar sammelte der als Favorit angetretene und für seine San-Remo-Teilnahme eigens durch den damaligen Verteidigungsminister vom Wehrdienst freigestellte Celentano, ein Begriff ebenfalls durch seine schauspielerische Leistung als raubeinig-charmante Knallcharge in zahllosen albernen Filmklamotten wie Gib dem Affen Zucker, allerdings auch als Mitwirkender in ernst zu nehmenden Werken wie Fellinis La Dolce Vita, bei der Tippschein-Abstimmung rund 40.000 Stimmen weniger ein als der siegreiche (und dann geschasste) Tajoli, dafür aber konnte er mit der Single-Veröffentlichung des Titels seinen zweiten in einer schier endlosen Serie von heimischen Nummer-Eins-Hits landen. Fun Fact am Rande: Adrianos ikonisches ‘Una Festa sui Prati’, das man in Deutschland musikalisch sehr viel stärker mit ihm in Verbindung bringt als seinen hierzulande nur wenig beachteten Welthit ‘Azzurro’ von 1968, erschien im Heimatland 1967 nur als B‑Seite – und chartete noch nicht mal! Die ’24.000 Küsse’ erreichten hingegen auch in der San-Remo-Zweitversion des sanmarinesischen Sängers Little Tony (†2013), der fünf Jahre vor seinem Tod noch der Auswahljury der Miniaturrepublik für den Eurovision Song Contest zu Belgrad vorsaß, einen 13. Rang in der Verkaufshitparade.
Die Playlist: alle SRF-Finaltitel 1961.
Hinsichtlich des kommerziellen Erfolges übertraf allerdings einer, den niemand auf der Rechnung hatte, völlig überraschend alle anderen: der ab den Siebzigern vor allem als Filmmusikkomponist (u.a. für Wenn die Gondeln Trauer tragen, Carrie – des Satans jüngste Tochter, Keiner haut wie Don Camillo) international gefragte Venezianer Pino Donaggio, der hier mit dem zu gleichen Teilen zähen wie dramatischen, violindurchfluteten Sehnsuchtsschmachtfetzen ‘Come Sinfonia’ zwar nur Platz 6 im Zuschauer:innenvoting erreichte, aber hinterher die meisten Singles absetzte. Werde noch mal jemand aus den Menschen schlau! Wobei es sich lediglich um das müde Vorspiel für seine San-Remo-Teilnahme von 1965 handeln sollte, bei der er dann sämtliche Rekorde sprengte. Zum Fiasko geriet ihre Teilnahme der italienischen Pop-Legende Mina. Die zum zweiten Mal in San Remo auftretende Künstlerin galt wie Celentano vorab als Top-Favoritin und brachte beide ihrer Songs ins Finale durch. Dort musste sie sich im Tippschein-Pferderennen allerdings zu ihrer Enttäuschung mit den Rängen 4 und 5 bescheiden, und das mit lediglich einem Viertel der Stimmen, die ihre Konkurrentin Milva erhalten hatte.
Pino Donaggio beschwört flehentlich die Götter, die ihn augenscheinlich erhören!
Zudem hielt das empfindsame Nervenkostüm der Perfektionistin Mina dem selbst auferlegten, immensen Erwartungsdruck nicht stand: im Semifinale vergeigte sie bei der Ballade ‘Io amo, tu ami’ den langen hohen Schlusston. Wütend über den eigenen Fehler verließ sie unter Tränen die Bühne, noch ehe das Orchester den Song zu Ende bringen konnte, und schwor sich daraufhin, nie wieder zu einem Wettbewerb anzutreten. Ein schlimmer Verlust für uns Zuschauer:innen, verständlich jedoch aus ihrer Perspektive. Immerhin ersparte sie mit dieser Entscheidung sich und uns einen potentiellen Andreas-Kümmert-Moment. Mehr Glück hatte Mina mit ihrem zweiten Titel, dem bizarr-verspielten und mit lustigen Schluckauf-Tönen aufwartenden Zungenbrecher ‘Le mille Bolle blu’ (‘Die tausend blauen Bälle’), den sie komplett unfallfrei über die Bühne brachte und mit dem sie in den heimischen Verkaufscharts auf Rang 5 notieren konnte. Für die zuschanden gesungene Ballade reichte es noch für Platz 14. Glücklicherweise tat das Malheur ihrer Karriere keinen Abbruch: nur ein Jahr später landete sie mit dem Schlager ‘Heißer Sand’ ihren größten Hit im deutschsprachigen Raum. Und zu Hause veröffentlicht sie bis heute alle paare Jahre neue Alben, die ausnahmslos charten.
https://youtu.be/MoJWVBhRmlA
Als gefahrloses Vollplayback präsentierte Mina ihren Song im gleichen Jahr in einer schweizerischen TV-Show.
Auch ihre bereits erwähnte Konkurrentin mit dem ganz ähnlichen Künstlerinnennamen kennt man im deutschsprachigen Raum sehr gut, weil Milva (bürgerlich: Maria Ilva Biolcati) seit den späten Siebzigern des Öfteren die ZDF-Hitparade und ähnliche Shows heimsuchte, um dort Lieder wie ‘Zusammenleben’, ‘Freiheit in meiner Sprache’ oder ‘Hurra, wir leben noch’ zu präsentieren. Was einerseits toll ist, weil das starke (wenngleich zwischenzeitlich leider teils totgenudelte) Songs sind; andererseits auch schade, weil Milvas Vielsprachigkeit – sie singt ebenfalls auf französisch und englisch – es den kulturchauvinistischen Deutschen so viel leichter machte, ihre italienischsprachigen Titel komplett zu ignorieren. Einschließlich der 1961 bei ihrer ersten von insgesamt fünfzehn (!) San-Remo-Teilnahmen vorgestellten, hochdramatisch intonierten Ballade ‘Il Mare nel Cassetto’, mit welcher die bekennende Sozialistin den dritten Platz in der Publikumsabstimmung und in den heimischen Single-Charts erreichte. Und das mit Recht: an dem überwältigenden Gesamtpaket aus feuerroten Haaren, beeindruckender Erscheinung, grandioser Stimmgewalt und so leidenschaftlich wie kontrolliertem Gesangsvortrag ist kein Vorbeikommen.
Wenn man nicht wüsste, es ist die echte, würde man sie für eine Drag-Queen halten: die grobgekörnte Milva beim San-Remo-Debüt.
Einen weiteren europaweit bekannten Namen finden wir noch im Line-up der glamourösen italienischen Liedfestspiele, die in Sachen Star-Power nun wirklich ihres Gleichen suchten: Rocco Granata! Die Eltern des 1938 in Kalabrien geborenen Bergarbeitersohnes waren in den Fünfzigern zunächst in den Ruhrpott und, da der Vater auch dort keine Arbeit fand, anschließend nach Belgien ausgewandert, wo sich der junge Rocco selbst das Akkordeonspielen beibrachte und mit einem Kumpel gemeinsam um die Häuser tingelte. 1957 fiel ihm eine kleine, eingängige Melodie ein, die beim Straßenpublikum gut ankam und zu der er einen simplen Text schrieb: ‘Marina’. Die zunächst von allen Plattenfirmen abgelehnte und von ihm im Eigenverlag herausgebrachte Single wurde 1959 zum europaweiten Nummer-Eins-Hit. In San Remo trat Rocco nun mit einem fremdkomponierten, ebenfalls akkordeonlastigen Lied namens ‘Carolina dai!’ an, einer ganz netten und fröhlichen Melodei, die allerdings niemanden vom Hocker riss. Damit missachtete er eine so eherne wie gnadenlose Wettbewerbsregel: Du wirst immer an Deinem stärksten Hit gemessen. Kannst Du den nicht übertrumpfen, sortiert Dich das Publikum aus. Alexander Rybak kann ein Lied davon singen! Granata und seine Marina (plus Freundin Tina) hatte übrigens auch der deutsche Schlagerkomponist Hans Blum im Sinn, als er die Gastarbeiterhymne ‘Zwei kleine Italiener’ schrieb, welche er nur ein Jahr später ins Rennen um die Grand-Prix-Krone schickte. Und zwar, weil der von Blum dafür angefragte Rocco sie nicht singen wollte, an seiner Stelle mit Conny Froboess als Interpretin, die daraus wiederum einen europaweiten Millionenseller machte. Italienische Inspirationen funktionieren also ziemlich gut!
Welche Substanzen da wohl nur drin waren, in den tausend blauen Bällen?
Vorentscheid IT 1961
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 6. Februar 1961, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 16 Teilnehmer:innen. Moderation: Lilli Lembo, Guiliana Calandro und Alberto Lionello.# | Interpret:in | Interpret:in | Titel | Stimmen | Platz | Charts |
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01 | Gino Paoli | Tony Dallara | Un Uomo vivo | 065.499 | 10 | 04 | – |
02 | Arturo Testa | Tonina Torrielli | Febbre di Musica | 100.217 | 07 | 28 | – |
03 | Sergio Bruni | Rocco Granata | Carolina dai | 068.907 | 09 | 05 | 09 |
04 | Adriano Celentano | Little Tony | 24.000 Baci | 679.175 | 02 | 01 | 13 |
05 | Teddy Reno | Sergio Bruni | Mandolino, Mandolino | 075.218 | 08 | – | 13 |
06 | Betty Curtis | Luciano Tajoli | Al di là | 708.104 | 01 | 11 | 03 |
07 | Mina | Jenny Luna | Le mille Bolle blu | 175.863 | 05 | 05 | – |
08 | Joe Sentieri | Fausto Cigliano | Lei | 015.230 | 12 | 29 | – |
09 | Umberto Bindi | Miranda Martino | Non mi dire chi sei | 037.487 | 11 | 09 | – |
10 | Pino Donaggio | Teddy Reno | Come Sinfonia | 127.679 | 06 | 01 | – |
11 | Milva | Gino Latilla | Il Mare nel Cassetto | 648.776 | 03 | 03 | – |
12 | Mina | Nelly Fioramonti | Io amo tu ami | 178.593 | 04 | 14 | – |
Letzte Überarbeitung: 06.06.2021