Independent Television (ITV), der im Jahre 1955 als Regionalsenderkette ins Leben gerufene kommerzielle Gegenspieler der BBC, kam 1961 auf der Suche nach attraktiven Unterhaltungsformaten auf eine naheliegende Idee: mit dem ITV Song Contest, der sich sehr deutlich am Format der britischen Eurovisionsvorentscheidung orientierte, versuchte man, den Erfolg der öffentlich-rechtlichen Sendung für sich zu kopieren. Im Gegensatz zur BBC konnte ITV, das sich des Öfteren (erfolglos) um die ESC-Lizenz bewarb, jedoch keinen Startplatz beim Grand Prix anbieten. Stattdessen winkten Geldpreise. Einige bekannte Künstler ließen sich abwerben, so beispielsweise der in Anspielung auf seinen früheren Beruf als “singender Busfahrer” bekannte Matt Monro, der im Vorjahr mit ‘Portrait of my Love’ seinen ersten Top-Drei-Hit in den britischen Charts hatte. Sein Beitrag zum ITV-Wettbewerb hieß ‘My Kind of Girl’, er landete mit der Lobpreisung der beiden wichtigsten weiblichen Qualitäten – gutes Aussehen und Kochkünste – einen Nummer-Fünf-Hit auf der Insel und erreichte Platz 18 in den US-amerikanischen Billboard-Charts. Noch größere Bekanntheit erlangte der sexistische Song in den Staaten allerdings in der Coverversion der Rat-Pack-Legende Dean Martin.
Der ist doch betrunken, oder? Dean Martin mit dem Matt-Monro-Song ‘My Kind of Girl’.
Monro wollte seiner Biografie zufolge auch an A Song for Europe (ASFE), wie die BBC ihren bis dato unter wechselnden Namen laufenden Vorentscheid 1961 erstmalig offiziell nannte, teilnehmen. Seine Plattenfirma (als Reaktion auf die ITV-Konkurrenz gab der öffentlich-rechtliche Sender die Zuständigkeit für die Auswahl der Songs und Künstler komplett in die Hände der drei großen Labels EMI, Decca und Phillips) schlug ihn dort auch ebenfalls vor. Unglückseligerweise aber überkreuzten sich beide Auftritte terminlich, und so übernahm Monros Kollege Craig Douglas, der “singende Milchmann” (was ist das nur mit den Briten und ihrer Faszination für “ehrliche” Berufe?) seinen für ASFE eingeplanten Titel ‘The Girl next Door’, ein weiteres heterosexuelles Liebeswerben des augenscheinlich unter massivem Samenstau leidenden Künstlers. Douglas sollte mit dem Lied jedoch kein Hit gelingen. Erneut sein Glück versuchte der britische Vorjahresvertreter Bryan Johnson. Nach seinen Drogenerfahrungen in ‘Looking high, high, high’ zog er sich heuer musikalisch zum Entzug ins Ländliche zurück: ein Kritiker beschrieb seinen Titel ‘A Place in the Country’ als “öde” und einen “Rohrkrepierer”. Und dem ist nichts hinzuzufügen.
Sieht ein wenig ausgezehrt aus: Johnson beim Drogenentzug auf dem Lande.
Die von der BBC mit der Künstlerbeschaffung beauftragten Plattenfirmen entsandten einige topaktuelle Stars, so beispielsweise den als Terence Sidney Lewis geborenen Mark Wynter, der seinen Namen änderte, um nicht mit dem US-Komiker Jerry Lewis (!) verwechselt zu werden, und der bereits zwei Hits vorweisen konnte. Sein ‘Dream Girl’, das dritte Lied des Abends, das aus heutiger Sicht chauvinistische Vorstellungen von der idealen Beschaffenheit von Frauen verbreitete, konnte sich in den britischen Top 30 etablieren. Zur aktuellen A‑Liste des Pop gehörte der Waliser David Spencer, der im Vorjahr unter dem Pseudonym Ricky Valance einen Nummer-Eins-Hit mit über einer Million verkaufter Singles gelandet hatte, und zwar mit seiner Coverversion des US-Schmachtfetzens ‘Tell Laura I love her’ von Ray Peterson, in Deutschland als ‘Das Ende der Liebe’ ein Erfolgstitel für Rex Gildo. Dass Valance den US-Hit neu einspielen durfte, lag daran, dass die britische Zweigstelle von Petersons Plattenlabel den hochgradig tragischen Text des dramatischen Tränenziehers als “geschmacklos” empfand und sich weigerte, die Nummer im Königreich zu veröffentlichen. Die BBC boykottierte das Lied; dennoch (oder gerade deswegen) wurde es zum Megaseller. Rickys Eurovisionsversuch ‘Why can’t we’ verfehlte indes die Charts.
“Aber es muss gehen, andere tun es doch auch”: Ricky Valance lieferte mit ‘Why can’t we’ (leider nur als Audio erhältlich) die Vorlage für einen der besten Loriot-Sketche.
Zu den schon nicht mehr ganz taufrischen Stars dieses britischen Vorentscheids zählte die singende Soldatenbraut Anne Shelton, die sich während des Zweiten Weltkriegs einen Namen in der musikalischen Truppenbetreuung gemacht und in den Fünfzigern etliche Erfolge hatte. Ihren brandaktuellen (und letzten) Top-Ten-Hit ‘Sailor’ durfte sie beim Song for Europe allerdings nicht einsetzen, denn auch hier handelte es sich um eine Coverversion, und zwar lustigerweise um die britische Fassung des deutschen (!) Schlagers ‘Seemann (Deine Heimat ist das Meer)’ der gebürtigen Österreicherin Edith Einzinger alias Lolita. Annes Aufnahme kehrte interessanterweise das Fernweh-Thema der Originalversion um: anders als die verständnisvolle Lolita, die ihren Matrosen gewähren ließ, forderte die Britin ihren Weltenumfahrer zur umgehenden Rückkehr in heimische Gefilde auf. In ihrem ASFE-Beitrag entzündete sie, ein gerne genommenes Motiv beim Grand Prix, eine virtuelle Kerze, was allerdings erst 1997 einer gewissen Katrina Leskanich und ihren Waves Glück bringen sollte. Die mit einem Navy-Kommandanten verheiratete und 1994 verstorbene Anne Shelton belegte im regional aufgefächerten Juryvoting dieses Vorentscheids lediglich den sechsten Rang.
Gut, dass Schmalz nicht brennt: Annie “Get your Gun” Sheldon mit ihrem ASFE-Beitrag.
Die Gewinner des Abends, das aus den beiden Freunden John Alford und Bob Colin Day bestehende Duo The Allisons, wären beinahe nicht dabei gewesen: wie Alford, der den siegreichen Millionenseller ‘Are you sure’ selbst komponierte, in einem Interview mit dem britischen Buchautor Gordon Roxbourgh für dessen Fibel Songs for Europe erzählte, reichte ihre Plattenfirma das erfrischend uptemporäre, wunderbar harmonisch gesungene Lied vom negierten Trennungsschmerz erst in ziemlich letzter Minute zum Vorentscheid ein, und zwar im Austausch für eine bereits angemeldete andere Boyband. Er selbst, so sagt John Alford, hätte den Titel niemals ausgewählt: “Ich denke, ich habe einen oder zwei bessere Songs geschrieben. ‘Are you sure’ war völlig anders als unsere restlichen Lieder; unbeabsichtigt habe ich einen Song ohne Refrain, Brücke und Schluss komponiert. Es sind einfach fünf Strophen, die sich so lange wiederholen, bis sie sich wie ein Kinderreim in dein Gedächtnis gefressen haben”. Ein schönes Beispiel dafür, dass dem Publikum nachfühlbare Authentizität viel wichtiger ist als handwerkliche Qualitätsmaßstäbe: mit ‘Are you sure’ verarbeitete John einen autobiografischen Vorfall aus seiner Jugend, als er von einem Mädchen sitzen gelassen wurde.
Die Kamera weiß sehr genau, wer der Attraktivere der Beiden ist: The Allisons.
Aufgrund der ausgesprochen schlechten Nerven des zwei Jahre jüngeren, aber deutlich telegeneren Day ließ ihr Produzent sie zur Vorbereitung auf den TV-Auftritt mit Zitrusfrüchten jonglieren, während sie zum Playback mitsangen: “Die Idee war, uns abzulenken, indem wir uns auf die Orangen konzentrieren mussten, so dass das Singen automatisch geschah,” so Alford. Bei A Song for Europe traten die Beiden, die sich auf Druck ihres Managements gegenüber der Presse John und Bob Allison nannten, um den (falschen) Eindruck eines musikalischen Bruderpaares zu erwecken, nicht im Frack auf, wie es sich zu dieser Zeit für Unterhaltungskünstler eigentlich gehörte, sondern in legeren Strickjacken, was ihnen ein moderat frisches optisches Element verlieh. Außerdem durften sie sitzen, ebenfalls ein Mittel zum Abbau des Lampenfiebers. Sie gewannen in einer spannenden Abstimmung mit nur einem einzigen Punkt Vorsprung vor dem heute völlig vergessenen Steve Arlen. Sehr zur Freude des Studiopublikums übrigens, das dermaßen enthusiastisch applaudierte, dass die gastgebende Moderationslegende Katie Boyle die Allisons zur zweimaligen Siegerreprise bitten musste, um einen Volksaufstand zu verhindern.
Schau mir in die Augen, Kleines: die Allisons beim ESC.
Diese Begeisterung setzte sich entsprechend in Plattenverkäufe um: ‘Are you sure’ erreichte Platz 2 in den britischen Charts und knackte auch im europäischen Ausland in etlichen Nationen die Top Ten. In Deutschland reichte es zu einem elften Rang in der Verkaufshitparade. Mit dementsprechend sicheren Siegshoffnungen schickte die BBC die Zwei zum Contest nach Cannes, wo sie allerdings wieder im Stehen und im Smoking antreten mussten. Vor lauter Fracksausen verpassten sie beinahe ihren Einsatz und eröffneten mit der falschen Strophe, was der Darbietung aber keinerlei Abbruch tat. Die vergreisten Eurovisionsjuroren vom Festland hielten jedoch stur an Frankophilem fest und schickten die vermutlich als Kopisten der US-amerikanischen Everly Brothers empfundenen Allisons lediglich mit der Silbermedaille nach Hause, was man auf der Insel mit Enttäuschung und (berechtigtem) maximalen Unverständnis aufnahm. Das Duo löste sich nach ein paar mäßig erfolgreichen Nachfolgetiteln bereits 1963 wieder auf. Day, der später als heterosexuelle Lufthusche bei British Airways arbeitete, starb 2013.
So sah in den Sechzigern das “Dreamgirl” der meisten Männer aus: ein langbeiniges, hübsches Ding, das bei der Hausarbeit vor Freude tanzt. Mark Wynter belegte damit beim britischen Vorentscheid 1961 einen Platz im Mittelfeld.
Vorentscheid UK 1961
A Song for Europe. Mittwoch, 15. Februar 1961, aus dem TV-Studio der BBC in London. Neun Teilnehmer:innen. Moderation: Katie Boyle. Zwölf regionale Jurys.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Mark Wynter | Dream Girl | 16 | 04 |
02 | Craig Douglas | The Girl next Door | 03 | 07 |
03 | Ricky Valance | Why can’t we | 24 | 03 |
04 | Bryan Johnson | A Place in the Country | 06 | 05 |
05 | Anne Shelton | I will light a Candle | 04 | 06 |
06 | Steve Arlen | Suddenly I’m in Love | 30 | 02 |
07 | Valerie Masters | Too late for Tears | 03 | 07 |
08 | Teresa Duffy | Tommy | 03 | 07 |
09 | The Allisons | Are you sure? | 31 | 01 |
Letzte Aktualisierung: 28.09.2020