Schon zum zweiten Mal in der noch jungen Grand-Prix-Geschichte gastierte der Wettbewerb 1961 in Cannes. Und erneut präsentierte das französische Fernsehen die selbe Eröffnungssequenz wie schon 1959. Sowie die selbe Moderatorin, Jacqueline Joubert, die so viel Mascara aufgelegt hatte, dass sie ständig angestrengt gen Himmel schauen musste, damit ihr die Augenlider nicht zusammenpappten. Lediglich auf die charakteristischen Drehgestelle verzichtete man. Stattdessen versammelten sich die 16 Teilnehmer/innen zum Auftakt der erstmals an einem Samstag ausgestrahlten Sendung auf einer opulenten Showtreppe und stellten sich artig nacheinander persönlich vor. Was für die Zuschauer/innen den unschätzbaren Vorteil bot, die Interpretennamen zur Abwechslung in fehlerfreier Aussprache hören zu können. Im Anschluss sangen sie dann ihre Liedchen, die alle ziemlich gleich und alle gleich langweilig klangen.
Schlaflos in Stuttgart? Hier naht Hilfe: der ESC 1961.
Auch der Umstand, dass ausnahmslos alle Herren den gleichen dunklen Anzug mit weißem Hemd und dunkler Fliege trugen, machte die Sache nicht abwechslungsreicher. So empfiehlt sich die Aufzeichnung dieses Jahrgangs heute vor allem als probates Mittel bei Einschlafschwierigkeiten. Gleich drei der am meisten verkannten Eurovisionsländer gaben 1961 ihre Grand-Prix-Première. Den Auftakt machte das im Laufe der Geschichte mehrfach (z.B. 1990 und 1995) um den Sieg betrogene Spanien, das aber selbst in den Zeiten des reinen Televotings durchgängig um mindestens zehn Plätze zu schlechte Bewertungen erfuhr. Auch die an erster Stelle im Line-up startende, fabelhafte Conchita Bautista, die einzige Teilnehmerin des Abends, die eine nennenswerte Show mit (nach den ungeschriebenen Regeln des Wettbewerbes weitestgehend verpönten) grazilen Bewegungen und koketten Blicken in die Kamera ablieferte, versackte ungerechterweise im Mittelfeld. Und das, obwohl (beziehungsweise wohl eher: weil) es sich bei dem von ihr äußerst engagiert und rhythmisch vorgetragenen ‘Estando contigo’ um den peppigsten, nein, falsch: um den einzigen peppigen Beitrag des Abends handelte.
Dramatischer Schaleinsatz: Conchita Bautista (ES) gab die selbstbewusste Verführerin. Das goutierten die sittenstrengen Juroren, denen eher das Ideal des sittsam-scheuen Fräuleins vorschwebte, nicht.
Im Gegensatz zu ‘Valo Ikkunassa’, einer sehr sanften finnischen Trauerballade, in welcher die bedauernswerte Sängerin des Nachts eine Kerze für den toten Geliebten ins Fenster stellt und sich in sehnsuchtsschwangeren Erinnerungen an ihn verliert, wozu die Interpretin Laila Kinnunen (†2000) angemessen tränenumflort in die Kamera blickte. Die hartherzigen Juroren erhörten ihr zartes Flehen jedoch nicht, vermutlich aufgrund der abseitigen Linguistik. Bis zum Wegfall des Muttersprachenzwanges im Jahre 1999 stießen dann auch tragischerweise fast alle Beiträge meines absoluten Grand-Prix-Lieblingslandes, das uns fast jedes Jahr mit einer neuerlichen Contestperle beschenkt, auf völlig taube Ohren. Seit die Finnen auch auf Englisch singen dürfen (und das de facto fast immer tun), verbesserte sich die suomische Erfolgsbilanz deutlich. Dafür fehlt den Liedern nun meist das Kultige, Einzigartige, Schräge. Ein scheinbar unlösbares Dilemma für alle nicht-anglophonen Länder, die heute jedes Jahr aufs Neue vor dem Zielkonflikt stehen: will ich beim Grand Prix meine nationale Kultur präsentieren, zu der die Landessprache dazugehört – oder will ich möglichst erfolgreich abschneiden? Beides zusammen gelingt leider nur alle zehn Jahre mal.
Wenig mitsingfreundlich: nächtliches finnisches Liebessehnen (FI).
Ähnliche Erfahrungen wie Finnland mit der Unüberwindbarkeit der Sprachgrenze sollte Jugoslawien machen, das bis zum Zusammenbruch des Ostblocks (dem der auf seine Eigenständigkeit erpichte sozialistische Staatenbund selbst nie angehörte) das einzige Eurovisions-Teilnehmerland jenseits des Eisernen Vorhangs blieb; einer politisch konnotierten Grenze, die mental jedoch bis heute fortwirkt: empfinden sich die Menschen in den zahlreichen Nachfolgenationen Jugoslawiens überwiegend als Mitteleuropäer/innen, zählen die betreffenden Länder für die meisten Westeuropäer/innen (zugegebenermaßen einschließlich des Blogbetreibers) weiterhin zum Osten, obschon das geografisch keinen Sinn macht. Ironischerweise errang Jugoslawien während der sozialistischen Phase seine einzigen nennenswerten Erfolge nur durch die völlige Verleugnung seiner kulturellen Wurzeln und schamloses Kopieren längst ausgelutschter westlicher Popmoden zu Anfang (vgl. ‘Džuli’, 1983) und vor allem zu Ende der Achtzigerjahre (‘Rock me’, 1989), nur kurze Zeit vor dem blutigen Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates. ‘Neke davne Zvezde’, der Premierenbeitrag von Ljiljana Petrović, fiel hingegen in die Kategorie des dramatischen Trennungsschmachtfetzens, mit denen die Slawen erst nach der Osterweiterung der Eurovision reüssieren konnten. 1961 blieb es indes beim hinteren Mittelfeld.
Blieb trotz ganzer Rudel schmachtender Geigen und platinblonder Frisur leider entsetzlich farblos: Ljiljana Petrović (YU).
Auf den für das Land über Jahrzehnte praktisch fest reservierten zweiten Platz schaffte es das britische Duo The Allisons mit dem einzigen ernst zu nehmenden Popsong des Abends, dem wunderbar harmonisch-flotten Trennungstitel ‘Are you sure’. Übrigens handelte es sich bei den Beiden nicht, wie der Name suggeriert, um Brüder. Auch wenn man, was das Aussehen angeht, glauben könnte, sie seien das Produkt konsequenter Inzucht. Das aus den zwei Jugendfreunden John Alford und Bob Day (†2013) bestehende Duo, das musikalisch im Fahrwasser der amerikanischen Everly Brothers segelte, verwendete in der Öffentlichkeit auf Anraten der Plattenfirma den (ausgedachten) Nachnamen Allison, um die Legende zu untermauern. Auf der Insel gelang ihnen mit der Nummer, die sie bei der Siegerreprise des Song for Europe vor lauter Publikumsbegeisterung gleich zwei mal hintereinander singen mussten, trotz des optischen Handicaps ein Tophit (#2 der Singlecharts, #11 in Deutschland). Dass die BBC ihre Liveübertragung aus Cannes bereits vor der Wiederholung des luxemburgischen Siegertitels beendete, war jedoch kein Protestakt der Briten gegen das nicht nur aus ihrer Sicht ungerechte Ergebnis, sondern schlicht Folge der Überziehung der ursprünglich geplanten Sendezeit.
Looks: two, Song: ten – die Allisons (UK).
John Alford feierte 2008 mit einer pittoresken Unplugged-Version von ‘Are you sure’, aufgenommen von seinem Sohn auf dem heimischen Sofa für “den Myspace-Slot auf seinem Computer”, ein kleines Kult-Revival auf Youtube. Und das zu Recht! Zu Recht auf dem geteilten letzten Platz landete hingegen der österreichische Beitrag ‘Sehnsucht’. Eigentlich ein perfektes Thema für den vom ORF intern ausgewählten gebürtigen Griechen Demetrius Macoulis (†2007) alias Jimmy Makulis, der im deutschsprachigen Raum in den Fünfzigern Top-Hits hatte mit Fernwehschlagern wie ‘In Cuba sind die Mädchen braun’ oder dem hinreißend gejaulten Superschmachtfetzen ‘Gitarren klingen leise durch die Nacht’, der westdeutschen Adaption eines DDR-Schlagers. Doch das Jahre später von Alexandra sehr viel packender umgesetzte Thema blieb hier musikalisch äußerst schal präsentiert und musste so scheitern. Makulis versuchte es im Jahr darauf mit dem hemmungslos wehleidigen ‘Ich habe im Leben nur Dich’ beim deutschen Vorentscheid, wo er wiederum Letzter wurde, zumindest aber einen Top-20-Hit landen konnte. Nach einer längeren Zwischenstation mit Casino-Auftritten in Las Vegas kehrte er Mitte der Achtziger in seine griechische Heimat zurück, wo er 1990 einen letzten erfolglosen Eurovisionsversuch startete.
Weniger Glamour, mehr Drive: Are you sure (2008 unplugged Remix).
Wesentlich erfolgreicher schloss die italienischstämmige Französin Franca di Rienzo ab, die sich mit dem lieblich-belanglosen Walzer ‘Nous aurons demain’ nahtlos in die frankophile Balladenschwemme einfügte und damit für die Schweiz eine Bronzemedaille ersingen konnte. Siw Malmkvist brachte sich selbst um ihren zweiten Grand-Prix-Einsatz fürs Heimatland: bei der Siegerreprise des schwedischen Melodifestivalen, das sie mit ‘April, April’ gewonnen hatte, vergickelte sie ob der Albernheit des Liedchens den Auftritt und vergaß sogar ihren Text. Um sich auf internationalem Parkett nicht zu blamieren, schickte der Sender SVT an ihrer Stelle die etwas ernsthaftere Lill-Babs nach Cannes. Die behielt zwar alle zu singenden Worte, pfiff dafür aber ziemlich kläglich. Blöde, da der Beitrag komplett auf diesem gesanglichen Gimmick aufbaute, den die kleine Babs am Schluss gar durch Summen substituierte. In einem Eurovisionsspecial des hr zeigte sich Frau Malmkvist, welche zumindest diesen Teil besser beherrschte, dementsprechend besorgt um ihre Reputation: “Leute glauben, dass ich nicht pfeifen kann. Aber die verwechseln mich mit Lill-Babs. Ich kann pfeifen – sie nicht”. Gut, dass wir das klären konnten!
Späte Ehre: bei einer 2019 durchgeführten Wahl des unbeliebtesten Eurovisionssongs aller Zeiten erreichte ‘Sehnsucht’ mit Nul Points den ersten Platz und gilt damit offiziell als das einzige Grand-Prix-Lied, das wirklich absolut niemand mag.
Es gab ein paar weitere halbherzige Versuche, die todlangweiligen Lieder ein bisschen aufzupeppen, so zum Beispiel mit der beherzten Lautmalerei “Bing et bong et bing et bong” des 1971 im Alter von nur 37 Jahren an Herzmuskelschwäche verstorbenen Franzosen Jean-Paul Mauric, auch er mit einem Lied über den Frühlingsmonat April, der sich bekanntlich so förderlich auf die Libido auswirkt, was eben jene Auftaktzeile in ein ganz anderes Licht setzt. Oder mit dem Wechsel von der deutschen in die französische Sprache in der letzten Strophe wie bei der für Deutschland antretenden Legende Lale Andersen, die sich mit ‘Einmal sehen wir uns wieder’ offenbar sehr subtil um eine Mehrfachteilnahme nach dem Vorbild von Lys Assia bewarb. Leider vergebens: mit dem dreizehnten Rang ersang die zum Zeitpunkt ihrer Teilnahme älteste Eurovisionsinterpretin das bis dahin schlechteste deutsche Grand-Prix-Ergebnis (und sollte nicht mehr wiederkommen). Erst 2008 löste der 75jährige kroatische Rapper 75 Cents Lale als Alterspräsidentin des ESC ab, gefolgt im Jahre 2012 von der 76jährigen Natalja Pugatschowa, der niedlichen Zwergin aus dem singenden russischen Großmütterkombinat Buranovskie Babushki.
Kannst Du pfeifen, Johanna? Gewiss kann ich das! (SE).
Sieger des Jahrgangs 1961 wurde eine haarscharf zwischen Eleganz und Langeweile segelnde Ballade namens ‘Nous, les Amoureux’ des für Luxemburg singenden Franzosen Jean-Claude Pascal. Der als Jean-Claude Villeminot geborene Pascal (†1992), ursprünglich Modedesigner für das Haus Christian Dior und in den Fünfzigern ein sehr erfolgreicher Filmschauspieler, zeigte sich entsprechend selbstsicher und geübt im Umgang mit der Kamera. Durch geschickte Phrasierung und verstärkten Schlagzeugeinsatz im Refrain erzeugte er zudem ein wenig musikalische Spannung. So verlieh er seinem Chanson einen Hauch von James-Bond-Appeal und gewann. Was, wie ich erst durch das Studium der Lyric-Seite The Diggiloo Trush begriff, als ziemliche Sensation gewertet werden kann. Denn ‘Wir, die Liebenden’ entpuppt sich bei näherem Hinsehen als schwules Kampflied! Natürlich – Anfang der sechziger Jahre war Offenheit in dieser Beziehung undenkbar – nur, wenn man zwischen den Zeilen liest. Aber wie anders könnte man das im Text mit anspielungsreichen Andeutungen (“Es stimmt, die Dummen und Hartherzigen tun uns immerzu Böses an”) entworfene Bild zweier von der Gesellschaft mit “Feuer und Eisen” verfolgter Liebender deuten, die trotzig darauf bestehen, dass “der gute Herr” auch ihnen “das Recht auf Glück und auf Freude aneinander” gegeben hat? In einer Zeit, in der deutsche Richter mehr schwule Männer inhaftierten als während des “Tausendjährigen” Reichs, war das ein Trost gebendes Statement. Und da wundert sich noch jemand, dass der Grand Prix für Homos wie mich wichtiger ist als Ostern, Weihnachten und Geburtstag zusammen?
Anführer der Army of Lovers: der, wie Wikipedia notiert, Zeit seines Lebens “unverheiratet” gebliebene Jean-Claude Pascal (LU).
Eurovision Song Contest 1961
Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne. Samstag, 18. März 1961, aus dem Palais des Festival in Cannes, Frankreich. 16 Teilnehmerländer. Moderation: Jacqueline Joubert.# | Land | Interpret:in | Titel | Punkte | Platz |
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01 | ES | Conchita Bautista | Estando contigo | 08 | 09 |
02 | MC | Colette Deréal | Allons, allons les Enfants | 06 | 10 |
03 | AT | Jimmy Makulis | Sehnsucht | 01 | 15 |
04 | FI | Laila Kinnunen | Veloa ikkunassa | 06 | 11 |
05 | YU | Ljiljana Petrović | Neke davne Zvezde | 09 | 08 |
06 | NL | Greetje Kauffeld | Wat een Dag | 06 | 11 |
07 | SE | Lill-Babs | April, April | 02 | 14 |
08 | DE | Lale Andersen | Einmal sehen wir uns wieder | 03 | 13 |
09 | FR | Jean-Paul Mauric | Printemps (Avril carilonne) | 13 | 04 |
10 | CH | Franca di Rienzo | Nous aurons demain | 16 | 03 |
11 | BE | Bob Benny | September, gouden Roos | 01 | 15 |
12 | NO | Nora Brockstedt | Sommer i Palma | 10 | 07 |
13 | DK | Dario Campeotto | Angelique | 12 | 05 |
14 | LU | Jean-Claude Pascal | Nous, les Amoureux | 31 | 01 |
15 | UK | The Allisons | Are you sure? | 24 | 02 |
16 | IT | Betty Curtis | Al di là | 12 | 06 |
Letzte Aktualisierung: 20.10.20