Nicht nur für den Eurovision Song Contest bildete das im ligurischen Kurort San Remo stattfindende Festival della Canzone Italiana einst das Vorbild. Wie in vielen anderen europäischen Nationen, die sich ebenfalls von den Italiener:innen für eigene Schlagerfestivals inspirieren ließen, fanden in den Sechzigerjahren auch in deutschen Kurstädten gediegene Wettbewerbe der leichten Muse statt. So hatte das von Radio Luxemburg im Jahre 1959 begründete Deutsche Schlagerfestival im hessischen Wiesbaden bereits 1960 als Grand-Prix-Vorentscheid gedient, allerdings nur einmalig. 1961 hob der Süddeutsche Rundfunk (heute: SWR) in Konkurrenz hierzu die Deutschen Schlagerfestspiele aus der Taufe, an deren Erstausgabe unter anderem Lys Assia, Nora Nova und Inge Brück teilnahmen, die jedoch allesamt gegen einen Instrumentaltitel unterlagen. Die zweite Ausgabe dieser Veranstaltung sollte nun 1962 wiederum als Grand-Prix-Vorentscheid fungieren, auch, um die Attraktivität der Sendung zu steigern. Entsprechend groß zog die ARD die Show auf: in vier TV-Vorrunden, in denen sie jeweils eines von zwei Liedern zurücklassen mussten, qualifizierten sich insgesamt 12 Sänger:innen für die Endrunde im mondänen Baden-Baden.
Herrlichster Schlagerkitsch, leider nur in der Audiofassung: der wunderbar wehleidig intonierende Jimmy Makulis.
Und so gaben sich im dortigen Kurhaus eine ganze Reihe aktueller Schlagerstars ein Stelldichein, mit auffällig fernwehlastigen, wenn auch teilweise arg flachen Liedchen, die fast alle sicherheitshalber direkt mit dem Refrain eröffneten. Darunter der gebürtige Grieche Jimmy Makulis (†2007), der in Deutschland etliche Hits erzielen konnte, unter anderen mit dem herrlich schnulzigen Evergreen ‘Gitarren klingen leise durch die Nacht’, der im Jahr zuvor allerdings mit dem sehr faden Eurovisionsbeitrag ‘Sehnsucht’ für Österreich die Rote Laterne ersungen hatte und dem in Baden-Baden mit dem hemmungslos wehleidigen, wunderschönen Superschmachtfetzen ‘Ich habe im Leben nur Dich’ ebenfalls kein Glück beschieden sein sollte. Sowie die unermüdliche Melodifestivalen-Dauerteilnehmerin Ann-Louise Hanson, die neben ihrer Heimat Schweden damals auch den hiesigen Schlagermarkt unsicher machte. Oder aber die in den Fünfzigern vor allem mit deutschen Coverversionen, aber auch mit kolonial-rassistischen Schlagern wie ‘Barbara, komm fahr mit nach Afrika’ erfolgreiche und nun ihrem Karriereende entgegensehende Berlinerin Rita Paul (†2021), der nicht nur vom Namen her stets spießig wirkende Peter Beil, dessen ‘Ein verliebter Italiener’ wohl genau einer zu wenig war, und die bei Schlagerwettbewerben dieser Ära nachgerade unvermeidbare Margot Eskens. Nicht fehlen durften auch der ursprünglich mal als Besatzungssoldat der US-Armee in Frankfurt am Main stationierte und durch unglückliche Verstrickung irgendwie ins deutsche Schlagergeschäft abgerutschte Bill Ramsey mit einem heiteren Faschingsschlager über den ach so lustigen Genozid an den amerikanischen Ureinwohner:innen während der europäischen Kolonialisierung der USA sowie der Heino-Entdecker Ralf Bendix (†2014), die mit ‘Pigalle’ respektive dem ‘Babysitter-Boogie’ im Vorjahr beide jeweils einen Nummer-Eins-Hit landen konnten und damit zweifelsfrei zur aktuellen A‑Liste zählten. Sowie schließlich und endlich sogar der Sieger des eingangs erwähnten Deutschen Schlagerfestivals von 1960 und damalige ESC-Vertreter Wyn Hoop: sie alle kamen, sahen und sangen.
Konnte ihren Schlagertext auch nicht hundertprozentig ernst nehmen: Conny Froboess bei der Siegerreprise in Baden-Baden (plus Playlist mit den restlichen Vorentscheidungstiteln).
Doch alle blieben sie mit ihren inhaltlich teils mehr als fragwürdigen Titeln chancenlos gegen zwei weibliche Stars, die sich in Baden-Baden ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Extraklasse lieferten. Die bereits beim schwedischen Eurovisionsvorentscheid Melodifestivalen mehrfach ausgebootete Siw Malmkvist teilt der Sage zufolge das Schicksal mit dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten und einstigen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber: beide scheiterten in ihrem Bestreben, die Nummer Eins zu werden, an einem Hochwasser. Die “professionelle” Jury setzte sich aus Vertretern der einzelnen ARD-Landesrundfunkanstalten zusammen. Aufgrund der Hamburger Sturmflut vom gleichen Tage, die über dreihundert Todesopfer forderte und die natürlich auch die ursprünglich vorgesehene Live-Übertragung des Schlagerfestivals im Ersten verunmöglichte, verzichteten der NDR und Radio Bremen jedoch auf die Teilnahme an der Abstimmung. Wenngleich reine Spekulation, so liegt es doch im Bereich des Vorstellbaren, dass die Skandinavierin Siw und ihre ’Wege der Liebe’ ihr Plazet erhalten hätten. So aber stand es nach der Jurywertung Remis, woraufhin eine Stichwahl im Saalpublikum den Ausschlag für den ehemaligen Kinderstar Conny Froboess (‘Pack die Badehose ein’) und den ersten Migrationsschlager der Nachkriegszeit gab, der heute fraglos ebenso zum popkulturellen Grundinventar der Bundesrepublik gehört wie Udo Jürgens’ zum gleichen Thema verfasster Schlagerklassiker ‘Griechischer Wein’.
‘Die Wege der Liebe’ in einer Schlagerfilmadaption von Hannelore Auer.
Nach Angaben des Komponisten Christian Bruhn, der mit diesem Titel seine erste von zahllosen Goldenen Schallplatte kassierte, schrieb er das ziemlich wortreiche (Texter: Georg Buschor) ‘Zwei kleine Italiener’ ursprünglich für Rocco Granata, als Nachzieher für dessen (einzigen) europaweiten Superhit ‘Marina’. Granata wollte jedoch nicht, und so ging die Nummer an die Berliner Göre, für die er schon den von flott präsentierten Paris-Klischees lebenden 1960er Top-Ten-Hit ‘Midi-Midinette’ verfasst hatte. In einem hr-Eurovisionsspecial sprach Bruhn der bravourösen Conny, die rund um ihren Eurovisionsauftritt eine Jahrzehnte umspannende Karriere als Schlagersängerin, Synchronsprecherin und Schauspielerin im Film, TV (“Praxis Bülowbogen”) und am Theater hinbekommen sollte, seine Anerkennung dafür aus, dass sie beim Singen nicht vor Sauerstoffmangel umfiel, wo ihr doch der dem Song innewohnende Strom der Worte (vgl. IT 1997) kaum eine Gelegenheit zum Atemholen ließ. ‘Zwei kleine Italiener’ thematisierte auf irgendwie niedlich-naïve Weise das Heimweh zweier “Gastarbeiter”, die sich im Anschluss an die anstrengende Plackerei beim Aufbau des deutschen Wirtschaftswunders jeden Abend am Bahnhof treffen, um sehnsuchtsvoll dem “D‑Zug nach Napoli” hinterher zu schauen, an ihre dort zurückgelassenen Freundinnen Tina und, natürlich, ‘Marina’ zu denken und sich dann auf dem Bahnhofsklo gegenseitig… – äh, halt, das ist jetzt gerade mein schmutziges Kopfkino. Ich bitte um Entschuldigung.
Kapitalismuskritik in Schlagerform: Margot Eskens bei der Vollplayback-Performance ihres Vorentscheidungsbeitrags bei Dieter Thomas Hecks ‘Melodien für Melonen’.
Wobei Froboess’ Siegerlied bei aller spürbaren Sympathie für seine zwei Protagonisten auch die (in einigen ewiggestrigen Köpfen leider heute noch existierenden) Grenzen des deutschen Wohlwollens aufzeigte, in dem es deren “Heimat” ein ums andere Mal strikt in Italien verortete. Klar, abrackern für den deutschen Wohlstand durften sich die Beiden gerne, aber nicht, dass sie sich hier noch heimisch fühlen und am Ende gar Tina und Marina hinterherholen! Der kommerziellen Verwertung tat das keinen Abbruch: ‘Zwei kleine Italiener’, von Conny selbst sowie unter anderem den Eurovisionskolleginnen Colette Deréal, Anita Thallaug und Lisa del Bo eingesungen in zig internationalen Sprachfassungen, wurde ein Superhit in Deutschland (#1), Österreich (#13), der Schweiz, den Beneluxländern (#1 NL) und Skandinavien (#1 NO): die mehr als eine Million alleine vom Original verkauften Einheiten bürgen für einen der erfolgreichsten deutschen Grand-Prix-Titel aller Zeiten, in einer Liga mit den beiden Siegersongs ‘Ein bisschen Frieden’ (1982) und ‘Satellite’ (2010). Einen Medaillenplatz in den heimischen Verkaufscharts, wenn auch nur ein hinteres Ergebnis in diesem Wettbewerb, erreichte außerdem die superschnulzige ‘Rose aus Santa Monica’, nach wie vor ein beliebter Wunschsendungs-Evergreen auf Schlagerwellen, von der Israelin Carmela Corren mit recht dezentem, aber wunderbar international klingenden Akzent (“Ayne Row-say”) hinreißend intoniert. Siws ‘Wege der Liebe’ führten zudem ebenso in die Top 20 wie das käufliche Herz von ‘Material Girl’ Margot Eskens. Insgesamt konnte mehr als Hälfte der Vorentscheidungsteilnehmer:innen ihre Beiträge in den Plattenläden in klingende Münze umwandeln: ein bis heute ziemlich seltenes Ergebnis!
‘Vielleicht geschieht ein Wunder’, hoffte Carmela Corren leider vergebens.
Die Deutschen Schlager-Festspiele bestanden übrigens bis 1966 fort und brachten weitere Millionenseller wie ‘Ich will ’nen Cowboy als Mann’ oder ‘Beiß nicht gleich in jeden Apfel’ hervor, wurden allerdings fürderhin nicht mehr zur Ermittlung des deutschen Eurovisionsbeitrags genutzt. 1968 übernahm nach kurzer Denkpause dann das ZDF unter dem neuen Rubrum Deutscher Schlager-Wettbewerb, ab der zweiten Ausgabe moderiert von Dieter Thomas Heck. Der destillierte aus dem jährlichen Wettstreit die Idee zu der ab Dezember 1969 alle vier Wochen ausgestrahlten ZDF-Hitparade, mit welcher er die Festspiele superfluidierte.
Vorentscheid DE 1962
Deutsche Schlagerfestspiele, Samstag, 17. Februar 1962, aus dem Kurhaus in Baden-Baden. Zwölf Teilnehmer. Moderation: Klaus Havenstein. Jury.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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01 | Conny Froboess | Zwei kleine Italiener | 19 | 01 | 01 |
02 | Rita Paul | La Luna romantica | 02 | 06 | - |
03 | Jimmy Makulis | Ich habe im Leben nur Dich | 00 | 11 | 47 |
04 | Peter Beil | Ein verliebter Italiener | 00 | 11 | - |
05 | Peggy Brown | Das Lexikon d’Amour | 02 | 06 | - |
06 | Siw Malmkvist | Die Wege der Liebe | 18 | 02 | 19 |
07 | Pirko Manola + Wyn Hoop | Mama will Dich sehen | 06 | 04 | 28 |
08 | Ralf Bendix | Spanische Hochzeit | 05 | 05 | - |
09 | Margot Eskens | Ein Herz, das kann man nicht kaufen | 08 | 03 | 19 |
10 | Carmela Corren | Eine Rose aus Santa Monica | 01 | 08 | 03 |
11 | Bill Ramsey | Hilly Billy Banjo Bill | 01 | 08 | 47 |
12 | Ann-Louise Hanson | Sing, kleiner Vogel | 01 | 08 | 48 |
Letzte Aktualisierung: 24.09.2022
Nur ein kleiner Hinweis. Frau Corren trat ein Jahr später, 1963, für Österreich an. Die Schweizer Eidgenossen schickten eine andere Israelin : Esther Ofarim.
Vielen Dank, ist korrigiert!