
Nicht nur für den Eurovision Song Contest bildete das im ligurischen Kurort San Remo stattfindende Festival della Canzone Italiana einst das Vorbild. Wie in vielen anderen europäischen Nationen, die sich ebenfalls von den Italienern für eigene Schlagerfestivals inspirieren ließen, fanden in den Sechzigerjahren auch in deutschen Kurstädten gediegene Wettbewerbe der leichten Muse statt. So hatte das von Radio Luxemburg gegründete Deutsche Schlagerfestival im hessischen Wiesbaden bereits 1960 als Vorentscheid gedient, allerdings nur einmalig. 1961 hob der Süddeutsche Rundfunk (heute: SWR) in Konkurrenz hierzu die Deutschen Schlagerfestspiele aus der Taufe, an deren Erstausgabe unter anderem Lys Assia, Nora Nova und Inge Brück teilnahmen, die jedoch allesamt gegen einen Instrumentaltitel unterlagen. Die zweite Ausgabe dieser Veranstaltung sollte nun 1962 wiederum als Grand-Prix-Vorentscheid fungieren, auch, um die Attraktivität der Sendung zu steigern. Entsprechend groß zog die ARD die Show auf: in vier TV-Vorrunden mit insgesamt 24 Beiträgen qualifizierten sich jeweils drei Sänger:innen für die Endrunde im mondänen Baden-Baden.
Herrlichster Schlagerkitsch, leider nur in der Audiofassung: der wunderbar wehleidig intonierende Jimmy Makulis.

Und so gaben sich im dortigen Kurhaus eine ganze Reihe aktueller Schlagerstars ein Stelldichein, wenn auch leider mit größtenteils arg flachen Liedchen. Der gebürtige Grieche Jimmy Makulis (†2007) beispielsweise, der in Deutschland etliche Hits erzielen konnte, unter anderen mit dem herrlich schnulzigen Evergreen ‘Gitarren klingen leise durch die Nacht’, der im Jahr zuvor allerdings mit dem arg faden Eurovisionsbeitrag ‘Sehnsucht’ für Österreich die Rote Laterne ersungen hatte und dem in Baden-Baden mit dem hemmungslos wehleidigen Superschmachtfetzen ‘Ich habe im Leben nur Dich’ ebenfalls kein Glück beschieden sein sollte; der nicht nur vom Namen her immer ein bisschen spießig wirkende Peter Beil, dessen ‘Verliebter Italiener’ wohl genau einer zu wenig war; die bei Schlagerwettbewerben dieser Jahre nachgerade unvermeidbare Margot Eskens; der ursprünglich mal als Soldat der US-Army in Frankfurt am Main stationierte und durch unglückliche Verstrickung irgendwie ins deutsche Schlagergeschäft abgerutschte Bill Ramsey sowie der Heino-Entdecker Ralf Bendix (†2014), die mit ‘Pigalle’ respektive dem ‘Babysitter-Boogie’ in Vorjahr beide jeweils einen Nummer-Eins-Hit in Deutschland landen konnten und damit zweifelsfrei zur A‑Liste zählten; sowie schließlich und endlich sogar der Sieger des eingangs erwähnten Deutschen Schlagerfestivals von 1960 und ESC-Vertreter Wyn Hoop: sie alle kamen, sahen und sangen.
Kann ihren Schlagertext auch nicht hundertprozentig ernst nehmen: Conny Froboess bei der Siegerreprise in Baden-Baden.
Doch alle blieben sie chancenlos gegen zwei weibliche Stars, die sich in Baden-Baden ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Extraklasse lieferten. Die bereits beim schwedischen Eurovisionsvorentscheid Melodifestivalen mehrfach ausgebootete Siw Malmkvist teilt der Sage zufolge das Schicksal mit dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten und einstigen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber: beide scheiterten in ihrem Bestreben, die Nummer Eins zu werden, an einer Flut. Die “professionelle” Jury setzte sich aus Vertretern der einzelnen ARD-Landesrundfunkanstalten zusammen. Aufgrund der Hamburger Sturmflut vom gleichen Tage, die über dreihundert Todesopfer forderte und die natürlich auch die ursprünglich vorgesehene Live-Übertragung des Schlagerfestivals im Ersten verunmöglichte, verzichteten der NDR und Radio Bremen jedoch auf die Teilnahme an der Abstimmung. Wenngleich reine Spekulation, so liegt es doch im Bereich des Wahrscheinlichen, dass die Skandinavierin Siw und ihre ’Wege der Liebe’ ihr Plazet erhalten hätten. So aber stand es nach der Jurywertung Remis, woraufhin eine Stichwahl im Saalpublikum den Ausschlag für den ehemaligen Kinderstar Conny Froboess (‘Pack die Badehose ein’) und den ersten Migrationsschlager der Nachkriegszeit gab, der heute fraglos ebenso zum popkulturellen Grundinventar der Bundesrepublik gehört wie Udo Jürgens’ zum gleichen Thema verfasster Schlagerklassiker ‘Griechischer Wein’.
‘Die Wege der Liebe’ in einer Schlagerfilmadaption von Hannelore Auer.
Nach Angaben des Komponisten Christian Bruhn, der mit diesem Titel seine erste von zahllosen Goldenen Schallplatte kassierte, schrieb er das ziemlich textmengenreiche ‘Zwei kleine Italiener’ ursprünglich für Rocco Granata, als Nachzieher für dessen (einzigen) europaweiten Superhit ‘Marina’. Granata wollte jedoch nicht, und so ging die Nummer an die Berliner Göre, für die er schon den von flott präsentierten Paris-Klischees lebenden 1960er Top-Ten-Hit ‘Midi-Midinette’ komponiert hatte. In einem hr-Eurovisionsspecial sprach Bruhn der bravourösen Conny, die rund um ihren Eurovisionsauftritt eine Jahrzehnte umspannende, erfolgreiche Karriere als Schlagersängerin, Synchronsprecherin und Schauspielerin im Film, TV (“Praxis Bülowbogen”) und am Theater hinbekommen sollte, seine Anerkennung dafür aus, dass sie beim Singen nicht vor Sauerstoffmangel umfiel, wo ihr doch der dem Song innewohnende Strom der Worte (vgl. IT 1997) kaum Gelegenheit zum Atemholen ließ. ‘Zwei kleine Italiener’ thematisierte auf irgendwie niedlich-naïve Weise das Heimweh zweier Gastarbeiter, die sich im Anschluss an die anstrengende Plackerei beim Aufbau des deutschen Wirtschaftswunders jeden Abend am Bahnhof treffen, um sehnsuchtsvoll dem “D‑Zug nach Napoli” hinterher zu schauen, an ihre zurückgelassenen Freundinnen Tina und, natürlich, ‘Marina’ zu denken und sich dann auf dem Bahnhofsklo gegenseitig… – äh, halt, das ist jetzt gerade mein Kopfkino. Ich bitte um Entschuldigung.
Kapitalismuskritik in Schlagerform: Margot Eskens bei der Vollplayback-Performance ihres Vorentscheidungsbeitrags bei Dieter Thomas Hecks ‘Melodien für Melonen’.
Wobei Froboess’ Siegerlied bei aller spürbaren Sympathie für seine beiden Protagonisten auch die (in einigen ewiggestrigen Köpfen leider heute noch festsitzenden) Grenzen des deutschen Wohlwollens aufzeigte, in dem es deren “Heimat” ein ums andere Mal strikt in Italien verortete. Klar, abrackern für den deutschen Wohlstand durften sich die Beiden gerne, aber nicht, dass sie sich hier noch heimisch fühlen und am Ende gar Tina und Marina hinterherholen! Der kommerziellen Verwertung tat das keinen Abbruch: ‘Zwei kleine Italiener’, von Conny selbst sowie unter anderem den Eurovisionskolleginnen Colette Deréal, Anita Thallaug und Lisa del Bo eingesungen in zig internationalen Sprachfassungen, wurde ein Superhit in Deutschland (#1), Österreich (#13), der Schweiz, den Beneluxländern (#1 NL) und Skandinavien (#1 NO): die mehr als eine Million alleine vom Original verkauften Einheiten bürgen für einen der erfolgreichsten deutschen Grand-Prix-Titel aller Zeiten, in einer Liga mit den beiden Siegersongs ‘Ein bisschen Frieden’ (1982) und ‘Satellite’ (2010). Einen Medaillenplatz in den heimischen Verkaufscharts, wenn auch nur ein hinteres Ergebnis in diesem Wettbewerb, erreichte außerdem die superschnulzige ‘Rose aus Santa Monica’, nach wie vor ein beliebter Wunschsendungs-Evergreen auf Schlagerwellen, von der Israelin Carmela Corren mit recht dezentem, aber wunderbar international klingenden Akzent (“Ayne Row-say”) hinreißend intoniert. Siws ‘Wege der Liebe’ führten zudem ebenso in die Top 20 wie das käufliche Herz von ‘Material Girl’ Margot Eskens. Insgesamt konnte mehr als Hälfte der Vorentscheidungsteilnehmer:innen ihre Beiträge in den Plattenläden in klingende Münze umwandeln: ein bis heute ziemlich seltenes Ergebnis!
‘Vielleicht geschieht ein Wunder’, hoffte Carmela Corren leider vergebens.
Vorentscheid DE 1962
Deutsche Schlagerfestspiele, Samstag, 17. Februar 1962, aus dem Kurhaus in Baden-Baden. Zwölf Teilnehmer. Moderation: Klaus Havenstein.# | Interpret | Titel | Punkte | Platz | Charts |
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01 | Conny Froboess | Zwei kleine Italiener | 19 | 01 | 01 |
02 | Rita Paul | La Luna romantica | 02 | 06 | - |
03 | Jimmy Makulis | Ich habe im Leben nur Dich | 00 | 11 | 47 |
04 | Peter Beil | Ein verliebter Italiener | 00 | 11 | - |
05 | Peggy Brown | Das Lexikon d’Amour | 02 | 06 | - |
06 | Siw Malmkvist | Die Wege der Liebe | 18 | 02 | 19 |
07 | Pirko Manola + Wyn Hoop | Mama will Dich sehen | 06 | 04 | 28 |
08 | Ralf Bendix | Spanische Hochzeit | 05 | 05 | - |
09 | Margot Eskens | Ein Herz, das kann man nicht kaufen | 08 | 03 | 19 |
10 | Carmela Corren | Eine Rose aus Santa Monica | 01 | 08 | 03 |
11 | Bill Ramsey | Hilly Billy Banjo Bill | 01 | 08 | 47 |
12 | Ann-Louise Hanson | Sing, kleiner Vogel | 01 | 08 | 48 |
Letzte Aktualisierung: 29.09.2020
Nur ein kleiner Hinweis. Frau Corren trat ein Jahr später, 1963, für Österreich an. Die Schweizer Eidgenossen schickten eine andere Israelin : Esther Ofarim.
Vielen Dank, ist korrigiert!