Die ungebrochene Popularität des auch als Eurovisionsvorentscheid fungierenden italienischen Liederfestivals von San Remo sorgte im zwölften Jahr seines Bestehens trotz Störfeuer vonseiten der Musikindustrie für einen außergewöhnlich starken Zulauf von Bewerber:innen, und so stockten die Veranstalter die beiden Vorrunden auf insgesamt 32 Titel auf, dargeboten von jeweils zwei verschiedenen Künstler:innen. Dem staatlichen Sender Rai wurde das zu viel: er beschränkte die TV-Übertragung auf eine Stunde (!) vom Finalabend und eine kurze Zusammenfassung der aufgrund des Abstimmungsverfahrens erst eine Woche später stattfindenden Siegerehrung. Das mag man sich heutzutage, wo die Rai in der Festivalwoche praktisch 26 Stunden täglich sein Programm mit Sanremo-Content füllt, kaum noch vorstellen. Aber 1962 existierte noch keine private Konkurrenz aus dem Hause Berlusconi und noch kein Rund-um-die-Uhr-Fernsehen. Wie schon im Vorjahr durfte das Publikum im Anschluss an das samstägliche Finale mittels kostenpflichtiger Pferderenn-Wettscheine seine Stimme für die beliebtesten Songs abgeben, und mit sensationellen 1,5 Millionen (!) Kreuzen siegte erneut – zum dritten Mal in fünf Jahren – eine Komposition des ‘Volare’-Sängers Domenico Modugno, der mit dem seltsam ziellos vor sich hin mäandernden ‘Addio… addio…’ auch die Hitlisten des Heimatlandes aufrollte.
Der Ralph Siegel des San-Remo-Festivals: nach ‘Ciao ciao, Bambina’ (1959) verabschiedet sich Modugno 1962 schon wieder, ohne jedoch zu gehen (Playlist aller San-Remo-Finaltitel).
Der Rai erschien die dauernde Domenico-Dosis für das internationale Publikum wohl unzumutbar, und so griff sie für den Grand Prix notgedrungen zum zweiten Interpreten des Liedes, dem Ältere-Hausfrauen-Schwarm Claudio Villa, der nach vielen, vielen Anläufen beim San-Remo-Festival somit endlich zum lange ersehnten Eurovisionseinsatz kam. Falls die Rai hoffte, Villas großväterlicher Charme könne geschickt über die fehlende Melodie des Canzone hinwegtäuschen, irrte sie jedoch: in Luxemburg reichte es nur für einen Rang im unteren Mittelfeld. Und zu Hause blieb seine Einspielung wie Blei in den Regalen liegen. Betrachtet man das restliche Finalfeld dieses Jahrganges, füllen sich die Augen mit Tränen bei der Frage, was hätte sein können. So lieferte die zweitplatzierte Milva mit dem eleganten ‘Tango italiano’ exakt das ab, was der Titel versprach: ein so leidenschaftlich wie kontrolliert vorgetragenes und instrumentiertes, tanzbares Stück Popmusik, dem die Punkte der finnischen Jury wohl eben so sicher gewesen wären wie die aus Spanien. Doch, ach: auch wenn das rothaarige Ausnahmetalent in den Charts den San-Remo-Sieger abhängte, fehlten ihr im Elefantenrennen mit Modugno fast eine Viertelmillion Stimmen, um den Cantautore in der Publikumsabstimmung zu überrunden. Trotz zahlloser weiterer Wettbewerbsteilnahmen blieb die diesjährige Silbermedaille das beste Ergebnis der in der Emilia-Romagna Geborenen. Eine verpasste Chance!
Jazzig, lässig, cool: die hinreißende Milva bringt uns den italienischen Tango nahe.
Dies gilt umso mehr für den damals 29jährigen, attraktiven Mailänder Cantautore Tony Renis (bürgerlich: Elio Cesari), der gar eine gute Million Stimme weniger kassierte als Milva und sich mit dem vierten Rang begnügen musste. Ein perfektes Beispiel dafür, dass der Prophet nichts zählt im eigenen Land: sein mit peppigen Bossa-Nova-Rhythmen und einer unwiderstehlichen Melodieführung lockendes Lied ‘Quando, quando, quando’ geriet in unzähligen Coverversionen und Sprachfassungen mit insgesamt über 50 Millionen (!) verkaufter Singles zum absoluten Welthit und zu einem unsterblichen Evergreen, gewissermaßen also zum neuen ‘Volare’. Im angelsächsischen Sprachraum machte es der antiseptische amerikanische “Anti-Elvis” Pat Boone bekannt (Platz 95 in den Billboard-Charts). Bei uns hatte die fabelhafte Caterina Valentina mit ihrer possierlichen Eindeutschung (“Sag mir quando, sag mir wann / sag mir quando, quando, quando / ich Dich wiedersehen kann / ich hab immer für Dich Zeit”) ebenso einen Top-Ten-Hit damit wie, man lese und staune, Renis selbst mit seiner Originalfassung. Daneben coverten im Laufe der kommenden Jahrzehnte so unterschiedliche Eurovisionskolleg:innen wie Piero Esteriore, Engelbert Humperdinck, Cliff Richard, Mary Roos, Roberto Blanco, die Kessler-Zwillinge oder Julio Iglesias den Song, der auch in Spielfilmen wie den Blues Brothers, in TV-Serien und Commercials zum Einsatz kam. In der Instrumentalfassung von James Last beschallt er noch heute Aufzüge und Telefonwarteschleifen oder wird im Nachtprogramm der ARD-Radiowellen kurz vor den Nachrichten ausgeblendet.
Der adorierenswert leichtfüßige Tony Renis mit seinem Evergreen, umrahmt von echter Eurovisions-Prominenz.
Zu einer Art Volkslied brachte es außerdem der von der “Stimme Neapels”, Sergio Bruni, interpretierte Walzer ‘Gondolì, Gondolà:’ jawohl, genau wie der Titel bereits vermuten lässt, eine musikalische Lobpreisung der schwimmenden venezianischen Touristenfallen, in denen sich jährlich Millionen und Abermillionen von geneppten Besucher:innen aus aller Welt, angelockt vom leeren Versprechen eines romantischen Urlaubserlebnisses, von überbezahlten Fährleuten durch die schmutzig-stinkenden Kanäle der angesichts des Klimawandels fraglos dem baldigen Untergang gewidmeten Küstenstadt schippern lassen, dabei aber weder auf Romy Schneider und Karlheinz Böhm treffen, die in einer goldenen Kaisergondel Richtung Markusplatz unterwegs sind, ihr Filmkind in die Arme zu nehmen (Sissi III), noch auf Madonna, wie sie sich auf der Flucht vor einem Löwen bei der Unterquerung einer Brücke beinahe den Schädel einrammt (‘Like a Virgin’). Einen kleineren Hit hatte die bereits erwähnte Milva noch mit einem zweiten Titel, nämlich der dramatischen Ballade ‘Stanotte al Luna Park’. Auf dem letzten Rang in der Publikumsabstimmung landete übrigens (so schnell vergänglich ist der Ruhm) der San-Remo-Sieger und Eurovisionsvertreter von 1957, Nunzio Gallo. Exakt, der Mann mit dem Längsten. Lied natürlich!
Bitte in Fahrtrichtung rechts übergeben: der Touristenbeschallungsschlager zu Ehren der Gondeln, hier in einer handgeklampften Version.
Vorentscheid IT 1962
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 10. Februar 1962, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 16 TeilnehmerIinnen. Moderation: Renato Tagliani, Laura Efrikian und Vicky Ludovisi.Interpret:in | Interpret:in | Songtitel | Stimmen | Platz | Charts |
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Domenico Modugno | Claudio Villa | Addio… addio… | 1.496.411 | 01 | 02 | – |
Sergio Bruni | Milva | Tango italiano | 1.255.805 | 02 | – | 01 |
Sergio Bruni | Ernesto Bonino | Gondolì Gondolà | 295.049 | 03 | 10 | – |
Tony Renis | Emilio Pericolo | Quando quando quando | 224.686 | 04 | 01 | – |
Milva | Miriam di Mare | Stanotte al Luna Park | 208.573 | 05 | 17 | – |
Gino Bramieri | Aurelio Fierro | Lui andava a Cavallo | 194.990 | 06 | 28 | – |
Arturo Testa | Jolanda Rossin | Un’Amina leggera | 143.354 | 07 | 52 | – |
Joe Sentieri | Aurelio Fierro | Cipria di Sole | 118.826 | 08 | – | 60 |
Tonina Torrielli | Nelly Fioramonti | Aspettandoti | 111.785 | 09 | – |
Johnny Dorelli | Betty Curtis | Buongiorno Amore | 91.750 | 10 | – |
Flo Sandons | Mario D’Alba | Passa il Tempo | 80.848 | 11 | – |
Nunzio Gallo | Rocco Montana | Inventiamo la Vita | 72.964 | 12 | – |
Letzte Überarbeitung: 13.06.2020