Gesellschaftliche Fortschrittlichkeit, wie wir sie typischerweise mit den Niederlanden verbinden, setzt immer eine gewisse Experimentierfreudigkeit voraus. Und die kann man den Holländern nun sicher nicht absprechen, auch nicht beim Eurovisionsvorentscheid. Nachdem das bis dahin übliche Nationaal Songfestival 1960 mit Rudi Carrells ‘Wat een Geluck’ dem Land einen vorletzten Platz beim europäischen Wettsingen beschert hatte, versuchte man es 1961 mit einer Direktnominierung. Die Jazz-Chanteuse Greetje Kauffeld mochte ihren (beim ESC zehntplatzierten) Beitrag ‘Wat een Tag’ allerdings berechtigterweise selbst so wenig leiden, dass sie ihn nicht auf Platte aufnahm. So kehrte man 1962 wieder zu einer offenen, wenngleich deutlich entschlackten Vorentscheidung zurück. Anders als in den meisten Mitbewerberländern, wo man nach italienischem Vorbild alle Lieder in zwei Versionen von unterschiedlichen Künstler:innen vortragen ließ, galt in den Niederlanden in diesem Jahr: ein Mann (eine Frau), ein Lied. Den Auftakt machte die Stimmungssängerin Hendrika Sturm (†1998) alias Rita Corita, die man noch von ihrem ikonischen Schunkelschlager ‘Koffie, Koffie, lekker bakkie Koffie’ aus dem Jahre 1958 kannte. Sie lieferte mit dem schmissigen, selbsterklärenden ‘Carnaval’ sogleich den unübertrefflichen Kultauftritt des Abends ab. Die füllige Sängerin überzeugte mit engagiertem Körpereinsatz, fantastischer Handarbeit und einer herausragenden Mimik. Gäbe es Zeitreisen, so schwüre ich Stein und Bein, dass sich hier der begnadete Hape Kerkeling mit einer mehr als gelungenen Hella-von-Sinnen-Parodie ins Nationaal Songfestival einschlich. Hellas, Verzeihung, Ritas süffiger Faschingsschlager vom “trinken en sinken” landete in der Abstimmung jedoch leider nur auf dem vierten Rang.
Eine Meisterleistung in subtilem lesbischem Mimikri: schauen Sie mal, wo sich bei der Erwähnung des damaligen Sexsymbols Brigitte Bardot im Songtext Hellas Ritas Hände befinden, und welche stimulierende Beschäftigung sie gerade andeuten…
Denn neben der sensationellen Rita Corita bewarben sich auch ihre aus dem gleichen Fach stammenden Kollegen Theo Rekkers (†2012) und Huug Kok (†2011, und ja, ich verschlucke mich gerade hart an der mir quasi auf der Zunge liegenden Wortspielerei zu seinem Namen), die sich im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter in einer Bremer Munitionsfabrik kennen lernten und nach ihrer gemeinsamen Flucht als das Duo De Spelbrekers (die Spielverderber) auftraten. Sie hatten 1956 einen Top-Ten-Hit mit dem an Grausamkeit kaum zu überbietenden Faschingsschlager ‘Oh wat ben je mooj’, hierzulande bekannt als ‘Oh wie ist das schön’. Ihre Ode an die “kleine, kokette” ‘Katinka’, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das die beiden deutlich älteren Herren auf ihrem täglichen Schulweg lüstern beäugen, kam musikalisch deutlich unschunkeliger daher, ging aber dennoch sofort ins Ohr. Aus heutiger Sicht riefe eine solche Nummer zu Recht umgehend empörte Jugendschützer auf die Matte, aber im Schlager der Sechziger und Siebziger waren junge Frauen halt noch Freiwild. Wie beispielsweise auch Heino zu berichten wusste, der 1975 in ‘Die schwarze Barbara’ straffrei eine abgelegene Kaschemme besuchte, wo er beim vierschrötigen Wirt, dem “groben Johann” nicht nur im Hals kratzende, selbst hergestellte Drogen orderte, sondern auch – mit Wissen des Vaters und zweifelsohne gegen ein entsprechendes Sümmchen – dessen minderjährige Tochter bestieg. Dieser Prostitutionsschlager wird in der Popgeschichte nur noch getoppt durch Roland Kaisers Kindesmissbrauchsverherrlichung ‘Joanna’: “Geboren um Liebe zu geben / Verbotene Träume erleben”. Dagegen nehmen sich die beiden gruseligen niederländischen Spielplatz-Onkels, die das Nationaal Songfestival denn auch gewannen, beinahe schon harmlos aus.
Besonders putzig: das gesungene Fade-Out mit den stetig leiser werdenden “La la la“s: de Spelbrekers.
Mit erbärmlichen 21 Stimmen, einem Achtel des Spelbrekers-Ergebnisses, landete die Opernsängerin Elly Verhagen unter ihrem Künstlerinnennamen Ella Raya auf dem letzten Platz. Die offensichtlich zeitlich und örtlich Desorientierte fragte in ihrem grauenhaften Beitrag ernsthaft, ob es in Amsterdam denn immer noch diese “Mooie oude Grachten” gäbe (wer soll die denn so schnell zugeschüttet haben, Liebes?), und wie man sie so mit ihrer windschiefen Betondauerwelle hilflos gestikulieren sah, konnte man sich des Verdachtes nicht erwehren, sie wolle weniger auf den touristischen Wert der malerischen Innenstadt-Kanäle hinweisen als ihrer Befürchtung Ausdruck verleihen, angesichts ihres verwirrten Zustandes bei einem Hauptstadt-Besuch versehentlich dort hinein zu stürzen. Auf Rang 3 in der Wertung der aus handverlesenen Zuschauer:innen besetzten Regionaljurys schaffte es die junge, 2002 vom Lungenkrebs dahingeraffte Jacoba Adriana Hollestelle alias Conny Vandenbos mit der lahmen Ballade ‘Zachjes’. Zwischen sie und die Spelbrekers schob sich der Sänger Gert Timmermann mit seiner swingenden, basslastigen Nummer über ‘Niets’. Er legte im Anschluss eine bizarre Karriere hin: der Versuch, sich als Gerhard Zimmermann auf dem lukrativeren deutschen Markt zu etablieren, schlug zwar fehl, dafür landete er 1963 mit der ‘Blume von Tahiti’ einen Nummer-Eins-Hit im Heimatland. Der nicht minder schnulzige Nachfolger ‘Nimm Deine weiße Gitarre’, ebenfalls in deutsch, erreichte Platz 2 in den Charts. Weitere Erfolge konnte er gemeinsam mit Hermien van der Weide als Duo erzielen, darunter 1972 mit dem karnevalesken ‘Shalalie Shalala’. Kam von da die Inspiration für den gleichnamigen Sieneke-Song her? Später wendete er sich dem Christentum zu und nahm kirchliche Lieder auf, allerdings ohne kommerziellen Erfolg. 1999 beschuldigte ihn seine Tochter Sandra, die sich einige Jahre zuvor mit Zustimmung ihres Vaters und gemeinsam mit ihrer Schwester für den Playboy ausgezogen hatte, des Inzests. 2006 nahm er schließlich an der Realityshow Hotel Big Brother teil, einer für ihre unterirdische Qualität kritisierten medialen Resterampe für abgehalfterte Ex-Stars und Sternchen. Gleichzeitig macht er wegen finanzieller Probleme Schlagzeilen, bevor er erneut mit seinem wiedergefundenen Glauben hausieren ging. Ein bewegtes Leben!
Viel Wind um Nichts: Gert Timmermann.
Als Neuerung führten die Niederländer erstmals einen Schnelldurchlauf aller sieben Titel in umgekehrter Startreihenfolge ein – mangels Videoaufzeichnung und Schnitttechnik als Live-Variante, bei der sich die Künstler:innen auf der Bühne zur Orchesterbegleitung im Minutentakt gewissermaßen die Klinke in die Hand geben mussten. Es gelang bravourös! Um die Sendelänge etwas zu strecken (und um Zeit für die Telefonstimmenauszählung zu gewinnen), spielte nämliches Orchester zwischendrin auch noch zwei Instrumentalsongs. Und man wünschte sich aus heutiger Sicht im Hinblick auf den inhaltlich fragwürdigen Siegertitel und die Anschuldigungen gegen Herrn Timmermann, es wären nicht auch noch ausgerechnet die Stücke ‘Taboo’ und ‘Love for Sale’ gewesen! ‘Kantika’ jedenfalls ging als der erste niederländische Eurovisionsbeitrag in die Geschichte ein, dem es gelang, Nul Points zu erringen. Den Spelbrekers, die in Luxemburg mit einer im Vergleich zum Vorentscheid etwas bräsigeren Orchesterfassung und mit Lichtausfällen während ihres Auftritts zu kämpfen hatten, gelang mit der Nummer dennoch ein kommerzieller Erfolg im Heimatland. Lustiges Detail: ursprünglich sollte das Lied beim Vorentscheid von dem aus den Brüdern Hein und Wim Vader bestehenden Duo Padre Twins gesungen werden, die aber zwei Wochen vor dem Nationaal Songfestival einen Rückzieher machten. Rekkers und Kok verlegten sich ab 1975, als weitere Hits ausbleiben, aufs Künstlermanagement und betreuten unter anderem die Eurovisionskollegen Ben Cramer und Saskia & Serge.
Sehr hübsch auch der Kampf der Moderatorin Elisabeth Mooy mit ihrem Cape: das NSF 1962 als Playlist.
Vorentscheid NL 1962
Nationaal Songfestival. Dienstag, 27. Februar 1962, aus dem Concordia Theater in Bussum. Sieben Teilnehmer:innen. Moderation: Hannie Lips und Elisabeth Mooy.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Rita Corita | Carnaval | 120 | 4 |
02 | De Spelbrekers | Katinka | 169 | 1 |
03 | Joke van den Burg | Heet is vorbeij | 098 | 5 |
04 | Ella Raya | Heb je nog die mooie oude Grachten | 021 | 7 |
05 | Gert Timmerman | Niets | 141 | 2 |
06 | Conny Vandenbos | Zachtjes | 138 | 3 |
07 | Pat Berry | Wees zuinig op de Wereld | 033 | 6 |
Letzte Aktualisierung: 30.09.2020