
Luxemburg, das 1962 als Gastgeber für den Eurovision Song Contest fungierte, gilt im Allgemeinen als finanziell wohlsituierte europäische Steuerfluchtoase. Um so merkwürdiger muteten die anhaltenden Stromschwankungen und mehrfachen Lichtausfälle im RTL-Auditorium während der Grand-Prix-Übertragung an, die den Zuschauer:innen infrastrukturell eher den Eindruck eines Dritte-Welt-Landes (oder der heutigen USA) vermittelten. Wohl auch, um Kosten zu sparen, gestaltete der Sender des Großherzogtums den Ablauf der Show ziemlich zügig, die Lieder folgten fast nahtlos aufeinander. Das Anziehen des Tempos übertrug sich in wohltuender Weise ebenfalls auf das senderseitig gestellte, erstaunlich druckvoll und präzise aufspielende Orchester. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, Rhythmusinstrumente wie das Schlagzeug seien in diesem Jahr erst erfunden worden. Jedenfalls kamen sie erstmals bei einer Vielzahl der Wettbewerbsbeiträge deutlich hörbar zum Einsatz – und das tat dem Musikmenü sehr, sehr gut.
Aufgetriedelt: Marion Rung (FI).
Zu den neuen Schrittmachern zählte unter anderem das den Abend musikalisch eröffnende Finnland, deren in Grand-Prix-Fankreisen zu Recht heldinnengleich verehrte Repräsentantin Marion Rung mit dem kultig-schmissigen ‘Tipi-tii’, in dem sie das fröhliche Zwitschern eines Vögleins nachahmte und damit versuchte, den landessprachlichen Textballast so gering wie möglich zu halten, schon mal einen ersten skurrilen Vorgeschmack auf noch kommende Höhepunkte des skandinavischen Happysounds gab. 1973 kehrte sie, mit einer noch fröhlicheren Mitklatschnummer, nämlich ‘Tom Tom Tom’, zum Contest zurück, der lustigerweise an gleicher Stelle stattfand. Rungs Strategie ging auf: mit den Rängen 7 und 6 hielt sie lange Zeit die finnischen Bestmarken inne – bis ein paar Hardrocker in Monstermasken kamen… Ihre Wettbewerbskrone errang Rung indes 1980 bei der letzten Ausgabe des im polnischen Sopot organisierten Intervision Song Contest, der nur vier Jahre lang laufenden sozialistischen Gegenveranstaltung zum verderbten kapitalistischen Grand Prix Eurovision, an dem das blockfreie Finnland ebenfalls teilnahm. Listig!
Klempner, Popstar, Glücksspieler, Clubschiff-Sänger, Nachtclubbesitzer, Spaßpartei-Politiker: Ronnie Carroll führte ein wahrlich bewegtes Leben (UK).
Auch der 2015 verstorbene, für das Vereinigte Königreich antretende Nordire Ronnie Carroll übte sich in Lautmalereien. Sein flottes, wenngleich von ihm selbst später nicht ganz zu Unrecht als “banal” betrachtetes ‘Ring-a-Ding Girl’ schnitt zumindest noch im zweistelligen Punktebereich ab, was man von Conny Froboess’ großartig-putzigem Migrationsschlager ‘Zwei kleine Italiener’ leider nicht sagen kann. Sie kam – übrigens ohne einen einzigen Punkt aus Napoli, wohin der von ihr besungene D‑Zug in die Heimat der beiden titelgebenden Gastarbeiter fuhr – auf einen enttäuschenden sechsten Platz. Was zur Folge hatte, dass sich etablierte deutsche Künstler:innen zunehmend vom Wettbewerb abwandten, da sie eine Beschädigung ihrer Karriere fürchteten. Der Umstand, dass Conny unter allen diesjährigen Grand-Prix-Teilnehmer:innen mit über einer Million europaweit verkaufter Singles den größten kommerziellen Hit und einen unsterblichen Evergreen landete, legte sehr beredt davon Zeugnis ab, dass die Herren (und wenigen Damen) der Eurovisions-Jurys keinen blassen Schimmer davon hatten (und haben), was gute, erfolgreiche Popmusik ausmacht. Sie als “Musik-Experten” zu bezeichnen, wie es viele Jury-Freunde heute noch tun, spricht der Bezeichnung Hohn.
Arbeitet sich gelegentlich mit dem Feingefühl einer Dampframme durch ihren Text, der ihr aber auch kaum Zeit zum Luftholen lässt: die fabelhafte Frau Froboess (DE).
‘Wir kommen, um uns zu beschweren’, so lautet nicht nur der Titel eines Tocotronic-Albums, sondern es kennzeichnet auch die Grundhaltung des ewig nörgelnden Germanen, wie sie sich auch im damaligen deutschen Grand-Prix-Beauftragten Hans-Otto Grünefeldt manifestierte. Dem missfiel, dass beim Contest in dessen erstem Dezennium fast immer nur Frankreich und die Niederlande gewannen, während wir uns im Vorjahr erstmalig mit der Roten Laterne begnügen mussten. Grünefeldt drängte daher auf die Einführung eines neuen Wertungssystems, mit dem er diese Symptome umzukehren suchte. Das geriet zum Fiasko: tatsächlich reisten die Holländer, angetreten mit einer musikalisch und stimmlich harmonischen, wenngleich aus heutiger Sicht textlich problematischen Boygroupnummer über die verführerisch-unschuldigen Reize eines “koketten”, pubertierenden Mädchens namens ‘Katinka’, dessen täglicher Schulweg das arme Ding an den beiden im Gebüsch lechzenden Herrschaften vorbeiführte, mit null Punkten ab. Für de Spelbrekers (die Spielverderber), so der Name der beiden zu allem Überfluss auch noch wild mit den Augen rollenden und zuckenden Lüstlinge, waren deutsche Heckenschützen indes nichts Neues, hatten sie sich der alleswissenden Müllhalde zufolge doch während des zweiten Weltkriegs bei der Zwangsarbeit in einer Bremer Munitionsfabrik kennengelernt.
Unschuld in Gefahr: Stefanie zu Guttenberg, schreiten sie ein! (NL)
Besonders pikant, wenn man ihn mit englischem Zungenschlag ausspricht: einer der beiden 2011 und 2012 verstorbenen holländischen Spielverderber hieß mit bürgerlichem Namen Huug Kok! Jahre nach der musikalischen Kinderschändung, mit der ihnen im Heimatland ein Top-Ten-Hit gelang, verlegten sich die Spelbrekers auf das Musikmanagement. Nicht so wirklich ging Grünefeldts Strategie hingegen im Falle Frankreichs auf. Die Gallier nämlich gewannen völlig überragend, mit der doppelten Punktzahl des Zweitplatzierten. Und zwar höchst verdient! Die nach einer erfolglosen Bewerbung im Vorjahr diesmal vom Sender intern bestimmte ehemalige Turnerin Isabelle Aubret erschien hinreißend und anmutig, ihr dramatisches ‘Un premier Amour’ als berührend schöne, Gänsehaut erzeugende Ballade, die ebenso zerbrechlich und kostbar wirkte wie die als Thérèse Coquerelle geborene Sängerin bei ihrem Vortrag. Ob sich Deutschland also mit dem kleinkindhaften Beharren auf die aufgrund der Subjektivität der Materie ohnehin völlig illusorische Gerechtigkeit im Wertungsverfahren einen Gefallen tat, ausgerechnet in dem Jahr, in dem der französische Sieg erstmals komplett in Ordnung ging, erscheint im Hinblick auf die magere Ausbeute für Frau Froboess zumindest fraglich.
Beim ersten Mal tat’s noch weh: Isabelle Aubret (FR).
Zumal deswegen neben den Niederlanden noch drei weitere Länder gänzlich punktefrei heimkehren mussten. Für den Belgier Ferdinand Urbain Dominic oder kurz Fud Leclerc (†2010) markierte die letzte seiner insgesamt vier jeweils im Zweijahresabstand stattfindenden Grand-Prix-Teilnahmen den Tiefpunkt: er ging aufgrund seines Startplatzes als allererster Nilpointer in die Eurovisionsgeschichte ein. ‘Nur in der Wiener Luft’ hingegen gedeihen anscheinend so dünnstimmige Operettensängerinnen wie die vom ORF intern ausgewählte Eleonore Schwarz, die mit der vor abgestandenen Klischees nur so triefenden Fremdenverkehrswerbung für Österreich mal wieder die Rote Laterne holte. Spanien, das eine stimmgewaltige männliche Diva namens Victor Balaguer (†1984) mit einem druckvoll-dramatischen Chanson namens ‘Llàmame’ (‘Ruf mich an’) schickte, vervollständigte das Quartett der Nullen. Ihm geriet sein Geschlecht zum Verhängnis: als Mann seinen Gefühlen (und beim Vortrag seinen Händen) freien Lauf zu lassen, kam bei den mehrheitlich eher konservativ-verklemmten Juroren nicht so gut an.
Victor Balaguer: Viva la Diva! (ES)
Weniger streng zeigten diese sich dafür mit der Schwedin Inger Berggren, die zu den Instrumentalparts ihres Songs ‘Sol och Vår’ so aufgedreht mitkrähte, als habe sie vor dem Auftritt eine Ecstasy eingeworfen. Da die Glückspillen damals noch nicht existierten, rührte ihre Aufgekratztheit vielleicht auch nur von den lustig blinkenden Glassternen her, mit denen RTL das Studio dekoriert hatte. Das skandinavische Nachbarland Norwegen schickte übrigens ebenfalls eine Inger (Jacobsen), die mit ihrer elegant-öden Jazzballade jedoch keinen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Wie immer galt es noch, ein paar Rückkehrer zu begrüßen: der 2005 verstorbene luxemburgische Radio-DJ Camillo Felgen sang nach seiner Pleite zwei Jahre zuvor mit einem Lied in luxemburgischer Sprache jetzt lieber gleich auf französisch. Funktionierte: sein kreuzbraver ‘Petit Bonhomme’ erreichte den dritten Platz. Weswegen, ist mir nicht klar, aber so war’s. Felgen, der neben seiner Tätigkeit als Impresario der RTL-Hitparade auch zahlreiche Schlagertexte verfasste, darunter die Beatles-Eindeutschungen ‘Sie liebt Dich’ und ‘Komm gib mir Deine Hand’, hatte 1963 einen Hit mit der im niederländischen Original vom Grand-Prix-Kollegen Bobbejaan Schoepen geschriebenen, später auch von Heino geschändeten superschleimigen Großmütter-Glorifikation ‘Ich hab Ehrfurcht vor schneeweißen Haaren’.
Nach wie vor das beeindruckendste Augenbrauenspiel der ESC-Historie: der diesmal für die Schweiz retournierende Franzose Jean Phillipe.
“Ja-ja-ja”-Jean Phillipe, der 1959 noch für seine Heimat Frankreich angetreten war und nun – vom Sender intern ausgewählt – unter schweizerischer Flagge segelte, thematisierte seine Wiederkehr gar: ‘Le Retour’ hieß sein klassisch langweiliges Chanson, das auch die halbgaren James-Bond-Streicher und Phillipes engagierte Mimik nicht vor seinem verdienten unteren Mittelplatzfeld retten konnten. ‘Dis rien’ (‘Sag nichts’) hielt ihm der ebenfalls frankreichstämmige “Monegasse” François Deguelt da entgegen, nach welchem im südfranzösischen Örtchen Barbezieux, wo er einst aufwuchs, nach seinem Tod ein Platz benannt wurde. Mit diesem bravourös gesungenen, dramatischen Schmachtfetzen verbesserte er sich nach seinem dritten Rang 1960 diesmal um eine Position auf den zweiten. Isabelle Aubret, die diesjährige Siegerin, sollte den umgekehrten Weg gehen: 1968 schnitt sie mit dem Vergewaltigungsdrama ‘La Source’ nur als Dritte ab. Da war bereits das Farbfernsehen erfunden und Madame Aubret kam nicht mehr als zerbrechliches Rehkitz rüber, sondern als grelle Blondine im furchtbarfarbigen Fummel.
Schöne Bühnen können sie bauen, die Luxemburger. An der Lichttechnik üben sie noch (ESC 1962)
Das auf Drängen der ARD eingeführte Punktesystem blieb übrigens noch ein paar Jahre in Kraft und sollte weiterhin Nulpointer en masse produzieren, zu denen bald auch Deutschland zählte. Nennt sich wohl ausgleichende Gerechtigkeit…
Eurovision Song Contest 1962
Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne. Sonntag, 18. März 1962, aus der Villa Louvigny (RTL-Studio) in Luxemburg-Stadt, Luxemburg. 16 Teilnehmerländer. Moderation: Mireille Delannoy.# | Land | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | FI | Marion Rung | Tipi-tii | 04 | 07 |
02 | BE | Fud Leclerc | Ton Nom | 00 | 13 |
03 | ES | Víctor Balaguer | Llámame | 00 | 13 |
04 | AT | Eleonore Schwarz | Nur in der Wiener Luft | 00 | 13 |
05 | DK | Ellen Winther | Vuggevise | 02 | 12 |
06 | SE | Inger Berggren | Sol och Vår | 04 | 07 |
07 | DE | Conny Froboess | Zwei kleine Italiener | 09 | 06 |
08 | NL | Spelbrekers | Katinka | 00 | 13 |
09 | FR | Isabelle Aubret | Un premier Amour | 26 | 01 |
10 | NO | Inger Jacobsen | Kom Sol, kom Regn | 02 | 10 |
11 | CH | Jean Phillipe | Le Retour | 02 | 10 |
12 | YU | Lola Novaković | Ne pali Svetla u Sumrak | 10 | 04 |
13 | UK | Ronnie Carroll | Ring-a-Ding Girl | 10 | 05 |
14 | LU | Camillo Felgen | Petit Bonhomme | 11 | 03 |
15 | IT | Claudio Villa | Addio, addio | 03 | 09 |
16 | MC | François Deguelt | Dis rien | 13 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 01.10.2020
