Viel Mühe hatte sich das finnische Fernsehen YLE gegeben mit seiner dritten Eurovisionsvorentscheidung, der Suomen Euroviisukarsinta 1963. Acht Titel hatte man kommissioniert, darunter Stücke mit so vielversprechenden Titeln wie ‘Pimpula vei’ (‘Verflucht’): keine Sprache klingt so gangstermäßig und eignet sich so gut zum Fluchen wie das Finnische! Wie seinerzeit üblich, wurden alle Beiträge jeweils von zwei verschiedenen Künstler:innen dargeboten, in unterschiedlicher Instrumentierung, um den Fokus der zweihundertköpfigen (!) Laienjury weg vom Interpreten und hin zum Song zu lenken. Dies gelang jedoch nur sehr eingeschränkt (wie auch, schließlich bildet beides eine untrennbare Einheit), und nicht immer unbedingt zum Vorteil der Künstler:innen. So gab beispielsweise eine der Abstimmungsberechtigten, eine Bäuerin aus Mittelfinnland, später der Presse zu Protokoll, ihr Lieblingsbeitrag sei eigentlich das jazzig-verruchte ‘Olen mikä olen’ (‘Ich bin, was ich bin’) in der Interpretation von Tamara Lund gewesen, ein durchaus anregend instrumentiertes Stück, das klang wie aus einem James-Bond-Streifen. Aufgrund der sehr dezent aufreizenden, an die Grenzen des damals Schicklichen gehenden Präsentation durch die Sängerin und Schauspielerin habe sie aber nicht öffentlich für das Lied stimmen können, aus Angst, sonst im Heimatdorf als “verdorben” angesehen zu werden. So musste sich Lund, die mit diesem Auftritt ihren Durchbruch schaffte, mit dem dritten Rang begnügen.
Die Playlist mit den acht Vorentscheidungstiteln.
Die 2005 verstorbene Künstlerin blickte auf ein bewegtes Leben zurück: ihre erste große Liebe starb 1965 wenige Tage vor der geplanten Hochzeit bei einem Autounfall. In den Siebzigern wanderte sie nach Deutschland aus, wo sie in München und Düsseldorf arbeitete. Fünf Jahre vor ihrem Tod kehrte sie nach Finnland zurück und war als Gemeinderätin in Turku aktiv, wo sie in einen Schwarzgeldskandal verwickelt wurde und dabei die Hälfte ihres Vermögens verlor. Ihre Tochter Maria Lund trat posthum beim Vorentscheid 2010 in die Fußstapfen der Mutter. Wie auch die britische BBC beim Hauptwettbewerb in London ließ YLE für die Beiträge dieser Euroviisukarsinta elaborierte Inszenierungen entwerfen und zeichnete die Auftritte gewissermaßen als Videoclip auf. Und so durfte der mit Anzug und Hütchen ausgesprochen stylish gekleidete Jazzsänger Lasse Mårtenson zu seinem Song ‘Kaikessa soi Blues’ (‘Alles klingt wie Blues’), der tatsächlich klang wie ein Blues, nicht nur lässige Tanzschritte einstreuen, sondern sich während des Instrumentalparts sogar eine in der Reverstasche steckende Zigarette anzünden. Es reichte für zwei schnelle Züge, bevor er wieder seinen gesanglichen Verpflichtungen nachzukommen hatte und daher den glimmenden Sargnagel extra cool auf den Kulissenboden schnickte. Eine Darbietung, die im Hinblick auf das schlechte Vorbild in Sachen Gesundheitsfürsorge und Umweltverschmutzng heutzutage völlig undenkbar wäre und mindestens für Schnappatmung, wenn nicht gar für aufregungsbedingte Herzinfarkte bei zuschauenden Gesundheitsaposteln sorgen würde. Der lässige Lasse überlebte das todbringende Rauchvergnügen um 52 Jahre und verstarb 2016 im Alter von 81.
Das gäbe heute einen Shitstorm erster Güte: Lasse Mårtenson beim Vorentscheid 1963.
Ironischerweise entschieden sich die im Sendesaal anwesenden Laienjuror:innen mehrheitlich für den einzigen an diesem Abend tatsächlich live dargebotenen Beitrag, das geigengeschwängerte, “la-la-la”-reiche und hoch melancholische ‘Lied meiner Erinnerungen’ (‘Muistojeni Laulu’), recht schwungvoll interpretiert einerseits von der Schlagersängerin Marjatta Leppänen, die insgesamt vier Mal am finnischen Vorentscheid teilnahm und neben ihrer Gesangskarriere zum Zwecke der Existenzsicherung zeitgleich in einem Reisebüro arbeitete, sowie zum Zweiten von der seinerzeit bereits am Endpunkt ihrer Schlagerkarriere stehenden Mezzosopranistin Irmeli Mäkelä, die denn auch glaubte, nun das Ticket nach London in der Tasche zu haben. Doch weit gefehlt: aus einem bis heute im Dunkeln gebliebenen Grund entschied sich der Sender, der sich von Anfang an das Recht vorbehalten hatte, die Interpreten nach Belieben auszutauschen, an ihrer Stelle die neben ihrem Eurovisionsauftritt nicht weiter groß in Erscheinung getretene Chansonsängerin Laila Halme zum europäischen Wettbewerb in die britische Metropole zu schicken, von wo aus sie mit sagenhaften Nul Points für ihre im Vergleich zu den beiden Kolleginnen um wirklich nur ein μ zurückhaltendere Interpretation zurückkehrte. Ungerechterweise, wie man sagen muss, auch wenn das vom Landvolk aus überholten moralischen Erwägungen heraus verhinderte ‘Olen mikä olen’ sicher ein paar Punkte mehr geholt hätte.
Elegant: die in einem spitzkegelbusigen Schleppenkleid und mit Turmfrisur zeitgemäß ausstaffierte Laila in London.
Vorentscheid FI 1963
Suomen Euroviisukarsinta. Donnerstag, 14. Februar 1963, aus den YLE-Fernsehstudios in Helsinki. Sechzehn Teilnehmer/innen. Moderation: Aarno Walli.# | Interpret/in | Interpret/in | Titel | Punkte | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Tuulevi Mattila | Erkki Liikanen | Pimpula vei | 272 | 6 |
02 | Marjatta Leppänen | Irmeli Mäkela | Mujstojeni Laulu | 331 | 1 |
03 | Maynie Sirén | Tapio Lahtinen | Malaga | 269 | 7 |
04 | Stig Fransman | Pärre Förars | Niin kuin Ruusu | 258 | 8 |
05 | Johnny Forsell | Lasse Mårtenson | Kaikessa soi Blues | 315 | 2 |
06 | Tamara Lund | Laila Halme | Olen mikä olen | 298 | 3 |
07 | Matti Heinivaho | Lasse Liemola | Kristiina ja minä | 276 | 5 |
08 | Rauni Pekkala | Seija Lampila | Marraskuu | 279 | 4 |
Letzte Aktualisierung: 03.10.2020