Italiens berühmtester TV-Moderator, der Gameshow-Gastgeber Mike Bongiorno (nein, kein Künstlername: der hieß wirklich so!), übernahm ab 1963 für eine komplette Dekade, die aus heutiger Sicht aufgrund der Einschaltquoten als die goldene Ära des San-Remo-Festivals gilt, die Aufgabe des Conferenciers beim ligurischen Liederwettstreit. Lustiger Wikipedia-Fakt: der Autor Umberto Eco sah in Signor Gutenmorgen, der schon 1954 beim Sendestart der Rai mit an Bord war und bis zu seinem Tode im Jahre 2009 im TV auftrat, das “Abbild der Beschränktheit” der Zuschauer:innen, der seinen Erfolg alleine der Tatsache verdanke, “dass aus jeder Handlung und jedem Wort eine absolute Mittelmäßigkeit spricht”. Warum nur muss ich spontan an Jörg Pilawa denken und an Markus Lanz? Bongiorno jedenfalls, der noch anderthalb Jahre nach seinem Tod für Aufsehen sorgte, als seine Leiche aus dem Grab geraubt wurde, soll sich 1963 wenig erfreut darüber gezeigt haben, dass die Rai erneut bloß den Finalabend im Fernsehen übertrug und ihm nur wenig Raum für sein Geplapper ließ (ach, nähme sich der Sender doch heute nur ein Beispiel daran!). Dass er hier so ausführlich Erwähnung findet, weist bereits darauf hin, dass die Liedbeiträge dieses Jahrgangs nur in Teilen Anlass zu umfangreicher Berichterstattung lieferten.
Die Sechzigerjahre-Variante des Twerking, damals kulturell sehr viel umstrittener: Pino tanzt den Twist.
Lediglich die Hälfte der zehn in einem Anfall von Rückwärtsgewandtheit nicht mehr wie in den beiden Jahren zuvor vom Publikum, sondern wieder von Jurys ausgewählten Finaltitel konnten in den Charts reüssieren. Aus heutiger Sicht eine Traumquote, für damalige italienische Verhältnisse ein verhältnismäßig mageres Ergebnis. Am stärksten verkaufte sich, wenn auch nur im Heimatland, der in der Juryabstimmung drittplatzierte Titel ‘Giovane, Giovane’ des Cantautori und Goldjungen Pino Donaggio, der bereits zwei Jahre zuvor die umsatzstärkste San-Remo-Single hatte und sowohl 1962 als auch 1965 mit den von ihm komponierten Wettbewerbsbeiträgen absolute Welthits landete, die in verschiedensten Sprachfassungen und Coverversionen jeweils über 50 Millionen Mal über die Ladentische gingen. Bemerkenswert außerdem die Zweitbesetzung von ‘Giovane, Giovane’; eine als Elsa (und damit als biologische Frau) geborene, bizarrerweise aber auf den rundheraus fantastischen Drag-Queen-Namen Cocky Mazzetti hörende Mailänderin, die mit dem putzig-schwungvollen ‘Perché, perché’ einen weiteren Doppelworttitel im Rennen hatte, der allerdings völlig unverständlicherweise im Semi ausschied. Ob Frau Mazzetti jemals einen Karriereversuch im englischsprachigen Raum wagte, ist mir nicht bekannt – der dürfte dort angesichts ihres Künstlerinnennamens aber auch von vorne herein zum Scheitern verurteilt gewesen sein.
https://youtu.be/FK-XEPPnRUc
Nein, auch ein schlagstockschwingender Carabinieri legt sich nicht mit Cocky an!
Der zweimalige San-Remo-Sieger und neunmalige Festivalteilnehmer Johnny Dorelli besang unterdessen mit ‘Non costa niente’ (‘Es kostet nichts’) den feuchten Traum der All-Inclusive-Urlauber:innen, die sich Anfang der Sechziger, als der Pauschaltourismus noch in den Kinderschuhen steckte, indes noch nicht zur massenhaft verbreiteten, schmarotzenden Landplage entwickelt hatten (und ja, ich schließe mich da selbstredend mit ein!). Trotz Jury mussten sich die langsameren Lieder in der Abstimmung erstaunlicherweise mit den Rängen begnügen: die rote Gefahr Milva tremolierte sich mit der melancholisch-herben Vergangenheitsbeschwörung ‘Ricorda’ (‘Erinnere’) auf einen für sie enttäuschenden fünften Platz, während der Hausfrauenliebling der Fünfziger und ursprüngliche Top-Favorit dieses Abends, Claudio Villa, für seinen gut abgestandenen Schmachtfetzen ‘Amor, mon Amour, my Love’, der nicht nur vom Titel her wie ein Bestandteil des Ralph-Siegel-Œuvre klang, immerhin noch die Silbermedaille einzuheimsen vermochte. Die Zweitversion präsentierte die damals 21jährige Sängerin Eugenia Foligatti, eine der an einer Hand abzählbaren Neuzugänge im diesjährigen Line-up. Sie hatte im November 1962 gemeinsam mit dem Sizilianer Gianni Lacommare das Castrocaro-Festival gewonnen, einen Wettbewerb für junge Nachwuchstalente, und sich damit das Recht zur Teilnahme in San Remo ersungen.
Kost nix gibt’s eigentlich nur beim Fünffingerdiscount: Johnny Dorelli bei der fröhlichen Requisiten-Jonglage.
Was den Beiden nicht viel nutzte: während Eugenia immerhin gleich zwei Mal im Finale zum Einsatz kam, jedoch weder aus ‘Amor, mon Amour, my Love’ noch ihrem zweiten Titel ‘Perdonarsi in due’ einen Hit zu generieren vermochte, blieb Lacommare mit ‘Com’è piccolo il cielo’ im Semi kleben und erreichte mit ‘Non sapevo’ nur Rang 10. Die deutlich größere Karriere machte die Castrocaro-Mitbewerberin Iva Zanicchi, die 1962 zwar nicht gewann, aber einen Plattenvertrag erhielt und mit insgesamt drei San-Remo-Siegen (1967, 1969, 1974) den Rekord in der Damenmannschaft hält. Noch bis einschließlich 1966 sollte es beim jährlichen Frischblut-Transfer über das Nachwuchsfestival bleiben. Als großer Abräumer in San Remo erwies sich zum Erstaunen der Presse erneut der Cantautore Tony Renis, der mit dem selbst komponierten, launigen Playboy-Schlager ‘Uno per Tutte’ (‘Einer für Alle’) gewann und auch die Nummer 1 in den italienischen Charts klar machte. Damit entschied sich die Jury für wunderbaren, leicht konsumierbaren Pop-Fluff, bei dem höchstens der aus heutiger Sicht leicht sexistische Text ein wenig den Genuss trübt. Aber auch wenn sich der Protagonist in dem Song für seine zahlreichen Aufrisse selbst abfeierte und das Herunterbeten weiblicher Vornamen wie Claudia, Nadia, Laura und Julia ein bisschen an den ‘Mambo Number Five’ erinnerte: wie wollte man dem jugendlich-feschen Charmebolzen Renis ernsthaft böse sein?
Da ist es wieder, dieser hinreißende, kontrollierte Drama in der Stimme, das nur die Italiener:innen so gut hinbekommen: die fantastische Milva erinnert sich.
Zu seiner eigenen großen Enttäuschung schickte die Rai jedoch erneut nicht ihn, sondern den zehn Jahre älteren Zweitinterpreten Emilio Pericolo zum Song Contest nach London. Was vielleicht daran lag, dass der nette (sprich: unverheiratet und kinderlos gebliebene) Pericolo etwas gesetzter und unbedrohlicher wirkte. Zwar drehte dieser bei seinem Eurovisionsauftritt – inszenatorisch geschickt – zur Namensnennung seiner angeblichen Gespielinnen jeweils ein mannshohes Raumelement um (ein bisschen so wie Maren Gilzer als Buchstabenfee im Glücksrad, nur viel viel glamouröser!) und enthüllte dabei je ein großflächiges Foto eines italienischen Supermodels. Dennoch vermittelte er nicht den Eindruck, der italienische Staatssender müsse sich im Anschluss mit irgendwelchen hochnotpeinlichen Alimenteklagen flachgelegter weiblicher Fans herumplagen. Und es funktionierte: Pericolo holte in London mit seiner für die damaligen Verhältnisse showtechnisch avancierten Darbietung die Bronzemedaille. Im Folgejahr nahm Emilio, der schon 1961 mit einer Coverversion des San-Remo-Siegertitels ‘Al di là’ einen millionenfach verkauften Welthit landen konnte (#6 USA, #30 UK), erneut am San-Remo-Festival teil, schied mit ‘Piccolo, Piccolo’ jedoch bereits in der Vorrunde aus. Danach verebbte seine Karriere allmählich. Der Sänger verstarb 2013 im Alter von 85 Jahren. Der ihn überlebende Tony kehrte im neuen Jahrtausend zum San-Remo-Festival zurück: allerdings nicht als Teilnehmer, sondern als Produzent der Show!
Hat einen Tick mehr Testosteron: Tony Renis’ Siegerlied-Variante (plus die restlichen Finaltitel als Playlist).
Vorentscheid IT 1963
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 9. Februar 1963, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 16 Teilnehmer:innen. Moderation: Mike Bongiorno, Rosanna Armani, Giuliana Copreni, Maria Giovannini und Edy Campagnoli.Interpret:in | Interpret:in | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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Emilio Pericolo | Tony Renis | Uno per Tutte | 90 | 01 | – | 01 |
Claudio Villa | Eugenia Foligatti | Amor, mon Amour, my Love | 77 | 02 | 03 | – |
Cocky Mazetti | Pino Donaggio | Giovane Giovane | 71 | 03 | – | 02 |
Johnny Dorelli | Wilma de Angelis | No costa niente | 48 | 04 | 09 | – |
Luciano Tajoli | Milva | Ricorda | 45 | 05 | – | 06 |
Eugenia Foligatti | Tonina Torielli | Perdonarsi in due | 19 | 06 | – |
Aurelio Fierro | Claudio Villa | Occi neri e Cielo blu | 16 | 07 | – |
Emilio Pericolo | Sergio Bruni | Sull’Acqua | 14 | 08 | – |
Arturo Testa | Aura D’Angelo | Tu venisti dal Mare | 12 | 09 | – |
Gianni Lacommare | Milva | Non sapevo | 10 | 10 | – |
Letzte Überarbeitung: 09.06.2021