Wie bereits in den beiden vorangegangenen Jahren – und wie im übrigen während des restlichen Dezenniums – wählte der französische Sender ORTF seinen Grand-Prix-Beitrag auch 1964 hinter verschlossenen Türen aus. Es existiert eine fragmentarische Auswahlliste, auf welcher sich für diesen denkwürdigen Eurovisionsjahrgang knapp 50 Titel finden, von denen sich jedoch nur elfen jeweils ein:e Interpret:in zuordnen lässt. Ob diejenigen sich damals tatsächlich aktiv bei ORTF bewarben oder ob es sich nur um die unverbindliche Wunschliste des Senders handelt, wissen wir ebenso wenig wie die Kriterien oder das Verfahren, nach denen die Auswahl erfolgte. Beim Stöbern auf Youtube fällt auf, dass die Titel musikalisch ein für die damalige Zeit verhältnismäßig breites Spektrum bedienen, was es um so erstaunlicher erscheinen lässt, dass der Sender zum europäischen Wettsingen dennoch Jahr für Jahr stur ein klischeehaft frankophiles Chanson nach dem anderen einreichte. Vermutlich auch deswegen, weil die internationalen Jurys genau dies immer wieder stumpf belohnten, so als fände in der echten Popwelt mit dem bei der Jugend populären Beat nicht gerade eine Pop-Revolution statt, die als Yéyé auch im französischsprachigen Raum Einzug hielt. Der damals 19jährige Jacky Moulière gehörte mit seinem von einem nervös-aufgepeitschten Frauenchor begleiteten ‘Tout ou rien’ fraglos in dieses Genre, konnte aber weder die Senderjury überzeugen noch die gallischen Charts in Brand setzen und wanderte nach einem guten Dutzend Single-Veröffentlichungen Anfang der Siebziger nach Kanada aus.
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Finde ich nun seinen niedlichen Silberblick sexier oder die ausdrucksstarken Augenbrauen? Oder doch den oberlippenbärtigen, oberkörperfreien Schwimmer im Publikum hinter ihm? Für Jacky Moulière geht es um ‘Alles oder nichts’ (plus Playlist mit ein paar handverlesenen weiteren Titeln).
In eine völlig andere musikalische Richtung ging das von dem damals bereits 35jährigen Folkbarden Hugues Aufray mit seiner markanten, heiseren Stimme vorgeraspelte ‘A bientôt nous deux’, das vor allem durch die von dem Onkel der Schauspielerin Julie Dreyfus (Kill Bill) selbst mundgeblasene Querflöte im Gedächtnis bleibt, einem im zeitgenössischen Pop eher unüblichen Instrument. 1967 nahm er den Titel gemeinsam mit der 1965er Eurovisionssiegerin und Yéyé-Ikone France Gall nochmal neu auf, hier mit etwas dezenteren Flötentönen und lieblicherem Gesang, wodurch das Stück aber tatsächlich enorm an Reiz verliert. Nachdem ihn sein Heimatsender nicht erhörte (oder nicht genug für seinen Auftritt zahlte?), ging er in Kopenhagen stattdessen für das Großherzogtum Luxemburg an den Start und wurde mit dem leider querflötenfreien, aber mindestens genauso ergreifend heiser geraspelten ‘Dès que le Printemps revient’ Vierter. Ins kollektive Gedächtnis seines Heimatlandes schrieb sich der humanitär engagierte Singer-Songwriter zwei Jahre später mit der nach einem Treffen mit Martin Luther King entstandenen Antirassismus-Hymne ‘Les Crayons de Couleur’.
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Wer kennt es nicht, das faszinierende Phänomen der in freier Natur rudelweise herumstreifenden Skifflebands? Hugues Aufray und seine Mannen.
Über einen weiteren bekannten Namen stolpern wir in der Person von Frida Boccara. Die als Tochter einer italienischstämmigen jüdischen Familie im marokkanischen Casablanca geborene und bereits 1996 im Alter von nur 55 Jahren an einer Lungenentzündung verstorbene Chanteuse kämpfte sich seit 1960 durch diverse Musikwettbewerbe auf den Balearen und in ihrer neuen Heimat Frankreich. Ihr elegant-jazziges, mit starker Stimme intoniertes ‘Autrefois’ sollte heuer noch keine Berücksichtigung finden. Erst 1969 wählte sie der Sender mit der klassischen Grand-Prix-Ballade ‘Un Jour, un Enfant’ aus, die Trikolore in Madrid zu verteidigen. Der Rest ist Geschichte… Zwei Jahre weniger als Frida musste hingegen Majorie Noël auf ihren Eurovisionseinsatz warten, die mit dem belanglosen Midtempoheuler ‘Les Filles et les Fleurs’ ebenfalls noch nicht dran war. In eine ähnliche Preisklasse des angenehm weghörbaren Einkaufsradiogedudels fiel der Sänger Michel Mallory, der gleich zwei Eisen im Feuer hatte, von denen er jedoch keines festnageln konnte. Ob er es war, über den die von ORTF schließlich zur Eurovisionsvertreterin bestimmte Rachel Ros in ihrem ‘Chant de Mallory’ sang? Oui et non: tatsächlich geht es der Lyric-Seite Diggiloo Trush zufolge in dem vom ‘Tom Pillibi’-Team komponierten gallischen Beitrag um die historische Figur eines Soldaten gleichen Namens, der in Irland kämpfte und dort eine Sechzehnjährige entjungferte, nachdem er sie mit einem Lied becircte.
Der nachnamenlosen Rachel sollte keine allzu nachhaltige Karriere beschieden sein: 1967 vertrat sie Frankreich beim Songfestival in Knokke, im selben Jahr erschien mit dem ESC-Cover ‘L’amour est bleu’ ihre letzte Single. Danach widmete sie sich ihrer Familie.
Vorentscheid FR 1964
Hausinterne Auswahl aus einer Vorschlagsliste mit 49 Titeln.
Letzte Aktualisierung: 09.06.21