Das Ein-Star-mehrere-Songs-Verfahren erfreute sich in den frühen Sechzigerjahren großer Beliebtheit bei den internationalen Eurovisionsvorentscheidungen. Deutschland hatte es 1963 mit Heidi Brühl getestet, die BBC sollte ihren Song for Europe ab diesem Jahr für einen längeren Zeitraum so gestalten. Und auch das niederländische Fernsehen entschied sich 1964 – wie bereits im Vorjahr – für die interne Nominierung einer Repräsentantin. Nämlich der 1942 im damals noch unter holländischer Besatzung stehenden Indonesien als Tochter eines niederländischen Soldaten und einer einheimischen Mutter geborenen Johanna Louise oder Anneke Grönloh. Die hatte mit ihren 22 Jahren schon eine bewegte Zeit hinter sich: im Zuge der feindlichen Übernahme der Inselkette durch die Japaner im Zweiten Weltkrieg war Annekes Vater in Kriegsgefangenschaft geraten, auch die Familie lebte in einem Lager. Nach ihrer Freilassung flohen die Grönlohs vor den indonesischen Unabhängigkeitskämpfen zurück in die Niederlande, wo die junge Johanna Louise die Musik für sich entdeckte. 1959 gewann sie einen Talentwettbewerb und schon 1960 erzielte sie mit ihrer allerersten Single ‘Asmara’ ihre erste goldene Schallplatte und einen Nummer-Eins-Hit – allerdings nicht zu Hause, sondern auf Malaysia.
Ohne den Niederländern zu nahe treten zu wollen, aber in der von Mina mit geheimnisvoll-elektrisierendem Akzent vorgetragenen deutschen Fassung kommt das gefahrvoll-düstere Narrativ des Textes deutlich besser zur Geltung!
Die heimischen Charts toppte sie dann 1962 mit ‘Brandend Zand’, der (akkuraten) niederländischen Übersetzung des vom deutschen Komponistenteam Feltz & Scharfenberger geschriebenen Bestsellers ‘Heißer Sand’ von Mina, eines wunderbar vage gehaltenen und vielfältig interpretierbaren, hochdramatischen Schlagers, der mir noch heute beim Hören angenehme Schauer über den Rücken jagt und den ich für einen der besten seines Genres halte. Unnützes Wissen 500: eine von Anneke selbst eingespielte englischsprachige Fassung unter dem Titel ‘Oh Malaysia’ diente in den Gründungsjahren des jungen, an Indonesien grenzenden Inselstaates im südchinesischen Meer dort als eine Art inoffizieller Nationalhymne. Zu Hause folgte Hit auf Hit und auch im deutschen Fernsehen war Frau Grönloh mit Schlagern wie ‘Wenn wir beide Hochzeit machen’ ein gerne gesehener Gast. Zum Zeitpunkt ihrer Direktnominierung für den Eurovision Song Contest 1964 konnte sie also mit Fug und Recht als international erfolgreicher Star gelten.
Flieg, keine Anneke, flieg! Grönlohs Wettbewerbsbeitrag ‘Vliegende Hollander’, leider nur als Audio.
Die Auswahl ihres Grand-Prix-Beitrags erfolgte in einem im Fernsehen übertragenen Vorentscheid, bei dem – als sei ein neuerlicher Beweis für die an Geiz grenzende Sparsamkeit ihrer Landsleute erforderlich – lediglich drei Lieder zur Auswahl standen. Davon eines mit dem auf die von Richard Wagner als Oper vertonten Seefahrer-Sage ‘Der fliegende Holländer’ anspielenden gleichnamigen Songtitel, der jedoch in der Publikumsgunst – es stimmten elf regionale Laienjurys ab – am schlechtesten abschnitt. Mit den beiden anderen Wettbewerbsbeiträgen gelangen Anneke erneute Hits in Heimatland. Nach Kopenhagen delegierten die Zuschauer:innen dann mehrheitlich das durchaus druckvolle und temporeiche wie zugleich lyrisch leicht melancholisch-resignative ‘Jij bent mijn Leven’, in welchem die Protagonistin davon kündete, bei ihrem Herzbuben bleiben zu wollen, auch wenn sie nur zu gut wisse, dass dieser lügt und sie betrügt. Interessanterweise trug Frau Grönloh diesen eigentlich sehr schicksalsergebenen Text keinesfalls in einem unterwürfig hauchenden Duktus vor, sondern mit klarer, lauter Stimme und beinahe schon kämpferischer Attitüde. Ein selbstbestimmtes Akzeptieren der Schwächen des Lebenspartners also, das die gute Anneke hier proklamierte – und damit eine liberale Geisteshaltung, die von innerer Größe zeugt.
Klar: wer eine fliegende Holländerin sein möchte, braucht auch Wind unter den Flügeln (Audio).
Die konservativen Eurovisionsjurys goutierten soviel uptemporäre Progressivität leider nicht: lediglich aus Großbritannien und Dänemark gab es jeweils einen Punkt. Schade! Der weiteren Karriere der später als “Jahrhundertsängerin” ausgezeichneten Künstlerin auf dem heimischen Markt tat dies keinen Abbruch: Frau Grönloh konnte noch etliche Schlagererfolge erzielen und wechselte dann ins Jazzfach. Eigenen Angaben zufolge verkaufte sie im Laufe ihrer musikalischen Laufbahn insgesamt 30 Millionen Tonträger. 2002 geriet sie nochmals in die Schlagzeilen, als der offen schwule, äußerst grobhumorige niederländische Comedian und TV-Moderator Paul de Leuuw (der 2006 als Hollands Punktefee den zweifachen griechischen Grand-Prix-Reprästenten und damaligen Eurovisions-Moderator Sakis Rouvas während der Live-Schalte in komödiantischer Absicht, allerdings sehr hart an der Grenze zur Fremdscham angrub) Grönloh öffentlich als “Schlampe” und “Schnapsdrossel” diffamierte. Woraufhin diese sich schockiert und verletzt aus dem Rampenlicht und nach Frankreich zurückzog und de Leuuws Sender auf ein Schmerzensgeld von 250.000 Euro verklagte.
https://youtu.be/dC54L5LS5TA
Aufrecht gehn durch die Nacht ins Licht: Anneke Grönloh lässt sich auch von einem untreuen Gatten nicht unterkriegen.
Vorentscheid NL 1964
Nationaal Songfestival. Montag, 24. Februar 1964, aus dem Tivoli in Utrecht. Eine Teilnehmerin. Moderation: Elles Berger.# | Interpret:in | Titel | Punkte | Platz |
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01 | Anneke Grönloh | Vliegende Hollander | 060 | 3 |
02 | Anneke Grönloh | Weer zingt de Wind | 141 | 2 |
03 | Anneke Grönloh | Jij bent mijn Leven | 159 | 1 |
Letze Aktualisierung: 09.10,2020