Man könnte es als eine Art von Lehrstunde zum Thema Generationenkonflikt bezeichnen, was sich beim norwegischen Eurovisionsvorentscheid von 1964 abspielte. Und was auf seine eher spielerische Weise das reflektierte, was in der echten Popwelt draußen seit kurzer Zeit in Form des massiven Durchmarsches von Bands wie den Beatles passierte, begleitet von hysterischem Verhalten der jugendlichen Fans, die in ihrem Übermut ganze Konzertsäle zerlegten, sowie vom völligen Unverständnis und der schroffen Ablehnung der “langhaarigen Gammler” durch die Erwachsenengeneration, die in ihnen eine Bedrohung für die bestehende gesellschaftliche Ruhe und Ordnung sah. Lustigerweise repräsentierte beim Melodi Grand Prix (MGP) ein Mann gleich beide Seiten der Medaille: der norwegische Sänger, Musiker, Bandleader, Komponist und Musikproduzent Arne Bendiksen nämlich, der im Lande bereits in den Fünfzigern Erfolge als Teil der Band The Monn Keys gefeiert hatte und der hier mit einer stellenweise ziemlich brüchigen Stimme den siegreichen Beitrag ‘Spiral’ interpretierte. Eine klassische Big-Band-Melodie, die eigentlich nicht weiter der Rede lohnt: ein ohne größere Schmerzen anhörbares, wenngleich total altmodisches Lied, das als dezent swingende Begleitmusik für das Supermarktradio bestens geeignet scheint, das man aber sofort wieder vergisst, sobald es verklungen ist.
Ein Werbesong für ein Empfängnisverhütungsmittel? Das kam beim Grand Prix nur so mittel an: Platz 8 für Arne Bendiksen.
‘Spiral’ setzte sich in der Jury-Abstimmung mit nur einem einzigen Pünktchen Vorsprung durch gegen den unter anderem von der sich bereits im gesetzten Alter befindlichen “singenden Hausfrau aus Lørenskog”, der Kult-Uschi Elisabeth Granneman, interpretierten ‘God gammel firkantet Vals’, den ‘Guten alten spießigen Walzer’, der also auf eine seltsam eigenironische Art seine gerade in der älteren Generation virulente nostalgische Sehnsucht nach konservativen Werten bereits im Namen trug. Lustiges Detail: der Schöpfer dieses Spießbürger-Walzers hieß… Arne Bendiksen! Doch der 2009 verstorbene Bendiksen, der im Verlaufe der Jahre noch einige norwegische Eurovisionsbeiträge schreiben sollte und nach dem in seinem Heimatland posthum ein Musikpreis benannt wurde, hatte als Komponist bei diesem MGP sogar noch ein zweites Eisen im Feuer: den Titel ‘La meg være ung’ (‘Lass mich jung sein’) nämlich, der in fröhlich-augenzwinkernder Schlagerform das kondensierte, was die aufbegehrende Jugend im spießig-engen Nachkriegseuropa überall so forderte: Freiheit von Konventionen und gesellschaftlichen Zwängen, die Möglichkeit zur Selbstentfaltung (“lass mich ich sein”) und vor allem Abstand von der Generation der Eltern, die sie ja doch nicht verstehe.
Walzerseligkeit für die Alten, Beatmusik für die Jungen: der musikalische Fortschritt führte auch zu einem popmusikalischen Bruch der Generationen.
Die zehnköpfige Senderjury, geschlechterparitätisch besetzt mit fünf norwegischen Journalisten und ihren jeweiligen Ehefrauen (!), platzierte es mit zwei Höchst- aber auch etlichen sehr niedrigen Wertungen und insgesamt vier Punkten Abstand auf dem dritten Rang. Was für erhebliche Kritik beim Publikum und in den Medien sorgte, denn im Anschluss an die Sendung schoss das aufmüpfige Lied in der Fassung der MGP-Newcomerin Wencke Myhre (ironischerweise übrigens auch die Zweitbesetzung des Spießer-Walzers) direkt an die Spitze der norwegischen Verkaufscharts, wo es sich fünf Wochen lang hielt und der damals siebzehnjährigen Sängerin den Durchbruch auf dem heimischen Markt verschaffte. Sowie die Aufmerksamkeit der stets nach jungen, frischen Talenten suchenden deutschen Schlagerindustrie: noch im gleichen Jahr nahm die Polydor sie unter Vertrag und produzierte mit ihr mit dem selbstbewussten ‘Ja, ich weiß, wen ich will’ den ersten kleineren Hit (#49 DE) auf dem ungleich ertragreicheren bundesrepublikanischen Schlagermarkt. Der Rest ist Geschichte! ‘La meg være ung’ jedenfalls bleibt bis heute trotz der Schmähung durch die Jury eines der kommerziell erfolgreichsten norwegischen Vorentscheidungsbeiträge.
Lass mich zufrieden, yeah yeah yeah: die junge Wencke spricht aus, was Jugendliche denken.
Neben Myhre interpretierte noch ein zweiter MGP-Newcomer den juvenilen Kampfschlager. Denn wie seinerzeit üblich wurden alle fünf (vom Sender aus über 200 Einreichungen kommissionierten) Beiträge in zwei Fassungen präsentiert, zunächst in einer sparsam instrumentierten Variante und im zweiten Durchgang mit dem großen NRK-Rundfunkorchester. Die reduzierte Variation sang ein gewisser Odd Børre Sørensen gemeinsam mit seiner Begleitband, den Cannons. Børre, der 1968, wo er beim internationalen Wettbewerb erneut auf die dann allerdings für Deutschland antretende Wencke traf, ebenfalls Eurovisionsgeschichte schreiben sollte, konnte mit seiner Version kommerziell allerdings nicht reüssieren: gegen den hornbebrillten Jüngling wirkte das Fräulein Myhre doch deutlich telegener und vermutlich auch etwas weniger bedrohlich. Arne Bendiksen, dem sein Sieg mit dem fremdkomponierten ‘Spiral’ gar nicht so recht zu sein schien, kritisierte im Nachhinein, dass das “unerfahrene Orchester” Odd Børres Version ruiniert habe und dass die ungeduldigen NRK-Produktionsassistenten die Stimmzettel der Juror:innen bereits während Wenckes noch laufendem Auftritt eingesammelt hätten, was sie den Sieg gekostet habe. Fakt oder Fabel? Man weiß es nicht. Fortschrittlich gab sich der Sender jedenfalls bei der Inszenierung der Show: in der am Nachmittag aufgezeichneten Sendung waren anstelle des (live spielenden) Orchesters Balletttänzer:innen im Bild zu sehen, die zu den Songs eine jeweils eigens abgestimmte Choreografie darboten. Darüber blendete die Regie das mit einer statischen Kamera abgefilmte Antlitz des jeweiligen Interpreten. Allerdings kam nur ein geringer Teil der Norweger:innen in den Genuss dieser ihrer Zeit vorauseilenden Bilder: weniger als ein Drittel der Bevölkerung des weitläufigen, größtenteils menschenleeren Landes hatte seinerzeit überhaupt Fernsehempfang.
Die Generationen können sich aber auch gut miteinander verstehen: Elisabeth Granneman und Wencke Myhre besingen im norwegischen Kinderprogramm gemeinsam die Freundschaft (Repertoirebeispiel). Wie versöhnlich!
Vorentscheid NO 1964
Melodi Grand Prix. Samstag, 15. Februar 1964, aus den NRK-Fernsehstudios in Oslo. Sechs Teilnehmer/innen. Moderation: Odd Grythe.# | Interpret/in | Interpret/in | Titel | Punkte | Platz |
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01 | Elisabeth Granneman | Arne Bendiksen | Spiral | 61 | 1 |
02 | Jan Høiland | Inger Jacobsen | Hvor | 52 | 4 |
03 | Wencke Myhre | Elisabeth Granneman | God gammel vierkantet Vals | 60 | 2 |
04 | Odd Børre + the Cannons | Wencke Myhre | La meg være ung | 57 | 3 |
05 | Inger Jacobsen | Jan Høiland | Ingen Sol finner Vei (til min Gate) | 38 | 5 |
Letzte Aktualisierung: 07.10.2020